Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • "Weiß ich doch", entgegnete Zoras gelassen, während er dabei zusah, wie Kassandra ins Wasser schlich. Es musste unglaublich kalt sein, aber auf der anderen Seite hätte es ihn wohl auch nicht gewundert, wenn es bei ihrer Hitze angefangen hätte zu verdampfen.
      "Ich würde allerdings auch von mir behaupten, dass mein natürlicher Lebensraum Ställe sind. Das macht mich schließlich auch nicht zum Tier."
      So entspannt, wie sie sich in dieser Gegend aufhielten, bereute Zoras fast, nicht mehr vorbereitet zu haben. Sie hätten etwas zu Essen mitnehmen und den Nachmittag dort verbringen können - vielleicht sogar jagen? Oder wenigstens nach ein paar Fährten suchen? Es würde ihm wahrscheinlich nicht ausreichen, einfach nur durch die Gegend zu wandern und den Fluss zu betrachten, so wie es Kassandra gerade zuzumuten schien, aber er hätte sich ja auch anders beschäftigen können. Vielleicht sogar ein paar der Briefe mitnehmen und fertig schreiben? Sein Hauptmann würde den Kopf über eine solche Unverfrorenheit schütteln, dass er die private Korrespondenz seines Herzogtums in die Wildnis mitnahm, aber es würde wohl kaum verloren gehen. Und wer dumm genug war, sich mit einem Träger anzulegen, um ein paar Briefe zu stehlen, hatte wohl Pech gehabt.
      Zoras begnügte sich damit, ein paar Steine mit dem Fuß durch die Gegend zu schieben, als Kassandra sich ihm wieder zuwandte. Vielleicht war es die Spiegelung des Wasser, vielleicht war es auch die morgendliche Sonne oder ein verbliebener Rest ihrer vorheriger Magie, aber ihr Gesicht strahlte mit solch einer Freude, dass es ihn beinahe zu blenden vermochte. Der Anblick erwärmte seinen ganzen Körper und er konnte gar nicht anders, als ihr himmlisches Lächeln zu erwidern.
      "Oh herrlicher Träger? Wenn wir schon damit anfangen, dann wünsche ich mir wenn schon etwas angemesseneres. Wie wäre es mit "Eure durchlauchte Großartigkeit"?"
      Er lachte kurz auf, bevor er abwinkte.
      "Ich möchte gar nicht, dass du dich erkenntlich zeigst. Es gibt ja auch gar nichts, wofür du dich bedanken solltest, ich tue nicht mehr als dir die Gegend zu zeigen."
      Er betrachtete Kassandra mit einem sanftmütigen Ausdruck.
      "Wobei ich zugeben muss, dass ich mir schon etwas mehr dabei gedacht hatte. Ich möchte nicht, dass du dich wie ein Champion fühlst, Kassandra. Ich meine, sicherlich ist das nicht vollständig abzuwenden, aber doch zumindest zu Teilen. Du sollst dich mehr wie... eine Königin fühlen, schätze ich."
      Er musste über den leider so treffenden Vergleich zu der verstorbenen Liebhaberin schmunzeln.
      "Würdest du mir also gestatten, dir die schönen Seiten der Welt zu zeigen, solange du an meiner Seite bist, Kassandra? Das beinhaltet Ausflüge wie diese, oder die Erfüllung sämtlicher Wünsche, die dir einfallen könnten. Ganz ohne jede Verpflichtung, versteht sich. Ich möchte dir lediglich einen Gefallen tun, mehr ist es nicht; für die letzte meiner verbleibenden Zeit auf Erden. Was sagst du dazu?"
    • "Eure was?"
      Kassandra hatte die Augenbrauen beinahe anklagend angehoben, das Lächeln in ihrem Gesicht verlieh dem gespielt spöttischen Ausdruck eine gewisse Lachhaftigkeit. In ihrer Regenz auf Erden hatte sie ihre Träger schon mit diversen Titeln ansprechen müssen - dieser hier war allerdings neu.
      Sie legte den Kopf kaum merklich schief als er ihr erklärte, dass er ihr angeblich nur die Umgebung zeigen wollte. Allerdings glaubte sie ihm dies nur teilweise. Niemand unternahm einen solchen Ausflug, wenn er keine Hintergedanken pflegte. So wie er bereits am Tisch gestrahlt hatte, sie sogar vor ihrer eigenen Tür quasi abgefangen hatte... schien es ein Tag in seinem Leben zu sein, auf den er sich massivst gefreut hatte. Den er mit ihr teilte.
      Die federleichte Stimmung bekam bei seinen weiteren Worten einen jähen Dämpfer. Noch immer stand sie bis zu den Knöcheln im Wasser, doch nun ereilte sie das Gefühl, die Kälte kröche ihre Waden empor. Wie eine Schlange wand sich das Gefühl über ihre Oberschenkel, die Hüften und schien schließlich ihre gesamte Brust zu umfangen. Zoras verglich sie mit der letzten Person, für die er Gefühle entwickelt hatte - und jetzt fiel endgültig der Groschen.
      Die Phönixin streckte ihrem Träger die Hand entgegen, eine stumme Aufforderung, zu ihr zu kommen. Sie selbst machte überhaupt keine Anzeichen, sich auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu bewegen. Und so kam Zoras schlussendlich zu ihr nachdem er sich auch von seinen Stiefeln getrennt hatte und ergriff ihre Hand.
      "Du wünschst dir mich auf Händen zu tragen solange du kannst. Aber hast du bereits vergessen, was die Zukunft für dich bereithält?"
      Ihr Tonfall war unglaublich sanft. Es lag weder etwas anklagendes noch Bestürzung - es war einfach eine Feststellung, die sie beide bestens kannten. Unverholen sah sie den Mann an, für den die Zeit nur noch rückwärts lief als vorwärts.
      "Ich unterstütze dich bei deinem Vorhaben. So war es ausgemacht. Aber es wird einen Krieg geben und du wirst kaum Zeit finden, mir meine Wünsche zu erfüllen. Du musst deine Verbündeten sammeln, dein Land sichern und zeitgleich zusehen, dass dein Aufstand gelingt und du am Ende fällst. All das soll in maximal zwei Jahren von statten gegangen sein, und das ist eine unheimlich kurze Zeitspanne."
      Sie machte eine Pause, noch immer hielt die Kälte sie als grausige Geisel gefangen. Unbewusst drückte sie seine Hand ein klein wenig fester, zog ihn ein winziges Stück näher an sich heran. Wären die Umstände andere, wäre sie ohne zu zögern auf seinen Vorschlag eingegangen, wenn es ihn denn glücklich machte. Aber zwei Jahre waren in ihrer Wahrnehmung lediglich ein Wimpernschlag und sie hatte sich schon seiner Unterstützung verschrieben. Es blieb kein Platz für Egoismus. Dann bliebe kein Platz mehr für Egoismus.
      "Du hast so wenig Zeit übrig wenn dein Vorhaben gelingt. Also solltest du in dieser kurzen Zeitspanne das tun, was dir Glückseligkeit verschafft. So wie es aussieht, ist das hier ein Teil davon", bemerkte Kassandra und verschränkte plötzlich ihre Finger der nach unten zeigenden Hände miteinander. "Vergleichst du mich mit Feris' Mutter weil du mich mit ähnlichen Augen siehst?"
      Während sie diese Frage völlig unvorhergesehen stellte, öffnete sie ein Teil ihrer Wahrnehmung für Zoras. Durch ihre Verbindung an den Händen konnte sie ihm ansatzweise zeigen, wie es sich anfühlte, im Puls des Lebens zu stehen. Wie das Brummen und Summen des Lebens um sie herum eine jede Zelle ihres Körpers zum Schwingen brachte. Eine Elektrostatik auf ihrer Haut erzeugte, wo gar kein Strom floß. Ein beruhigendes Hochgefühl, so verquer es sich auch anfühlen mochte.
      "Bist du dir sicher, dass du nicht wie viele Andere meiner Erscheinung verfallen bist? Ich bin und bleibe etwas Übernatürliches. Das wird auch einen Effekt auf dich haben... Oder ich liege falsch in meinen Annahmen, dann solltest du mir das mitteilen..."

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Einen Moment lang sagte Kassandra gar nichts, dann streckte sie die Hand in einer einladenden Geste nach Zoras aus. Er lächelte noch immer, jetzt wurde er sich dieser Gefühlseingebung allerdings unsicher. Wenn er nicht die minimale Veränderung zu spüren glaubte, die in Kassandra gerade vorging und die vermutlich weitaus größer war als er im Moment zu fühlen glaubte, hätte er sich gar nichts dabei gedacht. So zögerte er, dann kam er ihrer stummen Aufforderung nach und trat selbst ins Wasser.
      Ihre Wärme erreichte ihn auf einen Schlag, als sie sich berührten, und verdrängte erfolgreich die eisige Kälte des Wassers. So nahe bei ihr störte ihn nicht einmal der harte Steinboden, oder die Sorge, wie er mit nassen Füßen wieder in die Stiefel kommen sollte - alles, was ihn interessierte, war weniger als eine Armlänge entfernt.
      "Natürlich habe ich das nicht vergessen", murmelte er zurück, das Lächeln gefährlich nahe daran, in sich zusammenzufallen. Wie könnte er es vergessen? Es war ja nicht so, dass er geplant hätte, mit Kassandra alt zu werden. Nicht, dass ihm ein solcher Gedanke nicht in gewisser Weise zugesagt hätte, aber es war nunmal nicht realitätsgetreu. Er wusste, dass ihm nur eine gewisse Zeit blieb und die versuchte er jetzt auch angemessen zu nutzen.
      Kassandra führte ihm allerdings die sehr realistische Zukunft vor Augen. Da glätteten sich seine Gesichtszüge ein wenig und er blickte auf Kassandras Hände hinab. Mit dem letzten Optimismus, der sich für diesen Tag in sein Gedächtnis gebrannt hatte, klammerte er sich an die Vorstellung, wenigstens ein bisschen Zeit neben dem Aufstand zu finden. Auf der Reise vielleicht? Bei den Verhandlungen mit den Herzögen? Vor der Schlacht?
      Aber Kassandra hatte natürlich recht. Bisher hatte Kassandra immer recht gehabt.
      "Ich weiß."
      Er wollte sich noch nicht mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass dies die letzte wirklich friedliche Zeit war, die sie miteinander verbringen würden. Sobald sie abreisten, sobald sie auch nur die Sicherheit des Anwesens verließen, waren sie aktiv am Krieg beteiligt. Es würde schlichtweg keine Möglichkeit geben, viel Freiheit zu finden, in dem er sein Vorhaben umsetzen konnte.
      Dann aber schien Kassandra seinem Vorschlag zumindest entgegenzukommen, sofern man es auf diese Weise deuten konnte. Sie verschränkte ihre Finger mit den seinen und durch die bereits enge Distanz zwischen ihnen, brachte diese einfache Geste schon sein Herz zu flattern. Der Gedanke, Kassandra zu umgarnen, war ihm im Kopf gegeistert, seitdem er am Abend mit Ryoran darüber gesprochen hatte, und jetzt schien er dem einen Schritt näher zu kommen. Er wollte es so sehr, wie er nichts anderes wollte. Wie er überhaupt jemals etwas gewollt hatte.
      Ein feines Lächeln schlich sich zurück auf seine Züge, mit dem er sie betrachtete.
      "Ich vergleiche dich mit niemandem; du könntest mit niemandem verglichen werden, der dazu würdig wäre. Aber aus der Erfahrung kann ich dir sagen, dass es Königinnen in meiner Gegenwart immer sehr gut ging. Das will ich auf dich übertragen, so könnte man es wohl ausdrücken."
      Zur gleichen Zeit kroch ein Gefühl in ihm hoch, das sich schwer in Worte fassen ließ. Es war beinahe wie ein Kribbeln, eine merkwürdige, wenn nicht unangenehme Empfindung, die sich so anfühlte, als könnte sie eine in Zoras verborgene Energie entfachen. So weit kam es schließlich nicht, für so etwas war er wohl nicht geschaffen, aber es war doch etwas erfrischendes. Er blinzelte ein wenig, während er das Gefühl zu verarbeiten versuchte und gleichzeitig Kassandra zuhörte. Die Kombination beider Tätigkeiten war auf eine eigene Weise beruhigend.
      "Du bist eine wunderschöne Frau, Kassandra, klug und weise und stark, und mächtig auch noch dazu. Wer könnte deiner Erscheinung da nicht verfallen? Ich bin es vermutlich seit dem Augenblick, als ich dich damals auf dem Marktplatz tanzen gesehen habe, auch wenn ich wahrlich nichts anderes gesehen habe als dein Äußeres. Aber du bist so viel erstaunlicher als das."
      Er löste ihre verschränkten Finger, um ihre Hand vollständig in seine zu nehmen. Ihre Finger waren so feingliedrig, dass man Angst haben konnte, sie zu zerbrechen.
      "Du hast sowas vermutlich schon ein Tausendmal gehört und es macht auch keinen Unterschied, dass die Worte von einem Menschen kommen, aber ich will sie trotzdem aussprechen. Du bist in jeglicher Hinsicht atemberaubend und es würde mir kein größeres Vergnügen bereiten, als dich in meiner letzten Zeit auf Erden kennenzulernen - dein wahres Ich und nicht nur deine hübsche Hülle oder deine göttlichen Fähigkeiten. Wenn mir mehr Zeit bliebe, hätte ich dich nicht so damit überrumpelt, wie ich es jetzt tue, aber so eine Möglichkeit gibt es leider nicht. Ich gebe dir allerdings mein Wort dafür, dass ich nichts unternehme, was dir nicht behagen könnte. Ich will - nein, ich verlange sogar von dir, dass du mir sagst, wenn du es nicht möchtest; wenn du irgendetwas davon nicht möchtest. Das letzte, was ich wollte, ist dir Unbehagen zu bereiten."
      Er hob ihre Hand ein bisschen an, bis sie auf Höhe seiner Brust war.
      "Würdest du es zulassen? Für die letzten zwei Jahre deiner Gefangenschaft auf Erden?"
      Das Lächeln war zurück und auch wenn es kaum so strahlend und lebhaft wie noch vorhin war, lag doch eine unendliche Wärme darin, mit der Zoras Kassandra betrachtete. Er hob ihre Hand ein Stück höher, ehe er dort verharrte.
      "Darf ich deine Hand küssen?"
    • Irgendwie wirkte es auf Kassandra, als befänden sie sich gerade in einer Zeitblase.
      Eine hauchdünne Seifenblase, in deren Mitte Kassandra und Zoras standen und nichts von der Außenwelt mitbekamen. Niemand wagte es, ihre Blase zu zerstören und solange sie ihre Erkenntnis nicht wieder nach außen streckten würden sie beide sie auch nicht von Innen zerstören. Für das bisschen Zeit, die sie hier ungestört verbrachten, sollte der ihnen im Nacken sitzende Zeitdruck keine Rolle spielen. Dass ein Krieg, ein Aufstand, draußen auf sie warten würde. Mehr als nur deutlich hatte die Phönixin erklärt, wie es in den zwei Jahren um sie beide stehen würde. Sollte es ihnen dann nicht vergönnt sein, ein paar lächerliche Stunden abzuzwacken und sie zu ihrem Wohlwollen zu nutzen?
      Schweigend beobachtete Kassandra wie Zoras ihre Hände voreinander löste, damit er die ihre in seine nehmen konnte. Er hob sie auf Brusthöhe an und kurz danach noch ein Stückchen höher, als er ihr die zwei vorerst entscheidenden Fragen stellte. Ein leicht fragender Ausdruck erschien prompt in ihren Augen, denn solch eine Geste und deren Tragweite waren ihr absolut ungeläufig. Egal, wo sie bisher gewesen war, niemand hatte sie jemals zuvor so behandelt. Lediglich gesehen hatte sie, wie Adelsmänner in ähnlicher Geste die Hände von adeligen Damen entgegennahmen und sie als Gruße küssten. Doch über diesen Standpunkt waren sie doch längst hinaus?
      "Warum solltest du nicht meine Hand küssen dürfen? Es ist... nur meine Hand", merkte sie ein wenig belustigt an und verfolgte, wie Zoras tatsächlich ihren Handrücken küsste.
      Es war nur eine sanfte Berührung. Seine Barthaare kitzelten auf ihrer Haut und bildeten einen Kontrast zu der weichen Wärme seiner Lippen. Für ihn schien es eine große Tragweite zu haben, das spürte sie mehr als deutlich, aber ehrlich gesagt hatte sie ab jetzt jederzeit damit gerechnet, dass er sie förmlich anfiel. Ungestört hier draußen, wo keine Elive oder sonst jemand sie unterbrechen würde. Wobei... es gab nicht einen einzigen Augenblick in dem sie sich gesorgt hätte, dass er sie anfallen könnte wie es einige seiner Vorgänger rücksichtslos getan hatten. Er behandelte sie stets mit Respekt, nicht mit der Ehrfurcht wie sie es sonst gewohnt war.
      Schließlich entwand sie ihm ihre Hand und musterte sie kurz. Wollte sie, dass solch eine Beziehung zwischen ihnen zustande kam? Einer ihrer Kernpunkte war jener, sich nicht einfach ihrem Träger hinzugeben und das zu sein, was die Menschen von ihr wollten. Abermals kam ihr das Gegenargument in den Sinn, dass Zoras ihr so viel Freiraum einräumte, wie es ihm nur irgendwie möglich war. So gesehen, losgelöst von ihrer Sklavenbundung, besaß die Phönixin so viel Freiheit wie schon Äonen nicht mehr.
      Kassandra streckte ihre Hand nach Zoras aus. Sanft legten sich ihre Fingerspitzen auf seine Wangenknochen oberhalb seines Bartes. Sofort bekam sie das Feedback ihrer Berührung: Zoras emotionales Gleichgewicht schien förmlich durch die Decke zu gehen. Ihr Blick ging von ihrer Hand direkt zu seinen Augen und bemerkten die Wärme, die in seinen Augen lag. Niemand von ihnen störte sich noch an dem kalten Wasser um ihre Füße. Es war schlichtweg außerhalb ihrer Wahrnehmung gerutscht.
      "Ich schwöre, dass ich dir mitteilen werden, sobald mir etwas missfällt. Bis dahin darfst du gerne deine restliche verbleibende Zeit so nutzen wie du möchtest. Und wenn das bedeutet, dass du mehr von mir erfahren möchtest, so bin ich gewillt, es dir zu zeigen."
      Sie lächelte so dezent, dass lediglich ihre Mundwinkel etwas nach oben zuckten.
      "Vielleicht wirst du dann zu jenen zählen, deren Namen ich niemals vergessen werde."

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Zoras konnte sich ein herzliches Schmunzeln nicht verkneifen, das sich über sein Gesicht zog, bevor er Kassandras Hand zu seinem Mund hob und einen sanften Kuss auf ihrem Handrücken platzierte. Ihre Haut fühlte sich noch viel zarter an seinen Lippen an, viel weicher, als er mit der rauen Oberfläche seiner Hände hatte spüren können. Instinktiv überkam ihn der Wunsch, gleich viel weiter zu gehen, den Moment auszunutzen um noch ein wenig mehr zu fordern, als er es eh schon tat, aber das Konstrukt, das er im Moment für sie beide aufzubauen versuchte, war viel zu unfertig, um einen weiteren solchen Vorstoß zu wagen. Also ließ er es bei einer flüchtigen Liebkosung bleiben und entließ ihre Hand zurück in die Freiheit, bevor er ihre Verwunderung aufzuklären versuchte.
      "Es ist wichtig, dass du weißt, dass ich nichts unternehmen werde, ohne dein ausdrückliches Einverständnis. Für unser beider Wohl könnte man so sagen."
      Ob es nun an seinen Worten lag oder an etwas anderem, das in Kassandra gerade vor sich ging, war nicht ganz ersichtlich, aber als sie den Blick wieder zu ihm anhob und ihre Hand ausstreckte, lag etwas beinahe liebevolles in der Geste. Zoras' Herz machte einen spürbaren Sprung in seiner Brust, als ihre Handfläche sich an seine Wange legte. Er behielt den Blick auf ihrem Gesicht, aber seine Aufmerksamkeit lag vollumfänglich auf dieser geringfügigen Berührung. Nicht zuletzt waren es auch ihre Worte, die ihn nicht wenig in Euphorie versetzten.
      "Das freut mich mehr, als du es dir vorstellen kannst."
      Über ihren folgenden Kommentar musste er sogar kichern.
      "Ich könnte mir nichts besseres vorstellen. Wirklich."
      Er drehte den Kopf leicht und, nach einem eindeutig fragenden Blick in Kassandras Richtung, küsste die Innenfläche ihrer Handfläche. Dann zog er ihre Hand von der Wange und ergriff sie wieder mit seiner, bedürftig nach dem ähnlich intimen Kontakt, der hinter der Geste lag.
      "Wir fangen einfach an, wie wäre das? Was ist deine Lieblingsfarbe? Was isst du gerne? Was würdest du gerne in deiner Freizeit tun? ... Können wir das Wasser verlassen?"
      Er stapfte zurück in Richtung Ufer, die Hand von Kassandra noch immer umfasst, aber in einem lockeren Griff.
      "... Hast du Freunde? Und Verwandte? Gibt es überhaupt so etwas im Olymp?"
    • Ein Handkuss war etwas, das Kassandra herzlich wenig interessierte. Allerdings bemerkte sie, dass es Zoras wahrlich Freunde breitet hatte, dass sie es zuließ und welche Worte sie an ihn richtete. Auch als sie sein Gesicht berührte, löste es keine Extase aus, die auch nur ansatzweise mit der vergleichbar war, die der Herzog gerade erlebt hatte.
      Alles schien sich völlig im Kontrolllevel der Phönixin zu bewegen. Zumindest bis er seinen Kopf etwas drehte und ihr einen fragenden Blick zuwarf bevor er ihre Handinnenfläche küsste. Dies hatte etwas erschreckend intimes an sich und sorgte dafür, dass Kassandras Ausdruck sich leicht änderte. Als Zoras sie an ihrer Hand griff um sie gemeinsam aus dem Wasserlauf zu führen fiel ihr wieder auf, dass sie gar nicht mehr geatmet hatte. Schnell tat sie einen tiefen Atemzug ehe sie ihm zurück ans Land folgte. Kaum waren ihre Füße aus dem Wasser schickte sie einen Magiestrom durch sie beide hinweg, der sie in ihre Magie kurzzeitig einhüllte. Wie ein warmer Wasserlauf ergoss sie sich über ihre Köpfe und sammelte sich in ihren Füßen, um dort das Wasser binnen Sekunden verdampfen zu lassen.
      "Du willst so etwas lapidares wie eine Lieblingsfarbe wissen?", harkte sie direkt nach und konnte das Schmunzeln aus ihrer Stimme nicht verbannen. "Schön. Es ist Türkis, diese Farbe tauchte vermehrt vor etlichen Jahrhunderten auf, als sie entdeckt wurde. Heute scheint es Edelstein in dieser Farbe zu geben aber die habe ich noch nicht gesehen. Und was das Essen betrifft... Es gibt im Süden Isythumas saisonale Nüsse, die sie in Kohlehaufen rösten. Ich weiß allerdings nicht mehr wie man sie nannte."
      Als sie wieder weit genug weg vom Wasser und saftiges Grün unter ihren Füßen hatten, ließ sich die Phönixin auf dem Boden nieder und zupfte an der Hand ihres Trägers, damit er es ihr gleich tat. Sie konnten sicherlich auch spazieren gehen, doch sie zog es vor einmal völlig ungestört mit dem Herzog reden zu können. Ohne ständig darauf zu achten, wer sich in ihrem Umfeld befand oder wie es angemessen war zu handeln.
      "Verwandte... Wir fühlen uns alle auf eine Art und Weise als verwandt. Wenn man der gleichen Art angehört, resoniert man automatisch mit einer vergleichbaren Aura. Wir sind Abkömmligen von den Urahnen, den ersten Phönixen wenn du so willst. Wir alle sind einst erschaffen worden, niemand von uns wird aud traditionelle Art und Weise geboren. Deswegen haben wir keine Blutsbande sondern eher eine Art Clanangehörigkeit", begann sie zu erklären während sie zum Wasser sah und einen Moment nachdachte.
      Kassandra rutschte noch ein Stück näher an Zoras heran, um sich dessen Hand zu bemächtigen und sie in ihren Schoß zu legen. Sanft begann sie mit ihren Fingern über die Innenfläche seiner Hand zu fahren, von Finger zu Finger und wieder zurück.
      "Aber Freunde hatte ich dort, ja. Einer von ihnen war Telandir, ebenfalls ein Phönix der zu einer ähnlichen Phase erschaffen worden war wie ich. Er war allerdings immer ein wenig eitel und zog gerne über die Menschen her. Noch lieber geriet er jedoch in Streitigkeiten mit den Sirenen weil sie einst behaupteten, er könne gar nicht singen."
      Bei dieser Erinnerung kicherte sie sogar leise.
      "Ansonsten kam ich einmal in Kontakt mit Apollon weil er Geleit für seine Wagen brauchte. Allgemein ist es schwierig, mit den namenhaften Göttern zu agieren wenn man aus einer niederigeren Kaste stammte. Wir mythischen Wesen werden von ihnen meist wie B-Ware behandelt, kann man sagen."
      Einen weiteren Augenblick driftete sie scheinbar in Erinnerungen an längst vergangene Ereignisse ab bevor sie mit einem Blinzeln wieder zurück im Hier und Jetzt war. Sie bewegte ihre Schultern ein wenig, als müsse sie eine Versteifung lösen, und wandte sich dem Mann an ihrer Seite zu. Einen Moment lang betrachtete sie Zoras nur, dann hob sie wieder die Stimme.
      "Ich weiß gar nicht wirklich, was ich gerne in meiner Freizeit täte. Dafür wurde sie mir vor viel zu langer Zeit genommen. Ich weiß noch, dass ich mich einst damit zufrieden gab, durch den Himmel zu streifen und euch Menschen zu beobachten. Aber das ist unlängst hinfällig. Vielleicht wird meine neue Freizeitbeschäftigung ja die Unterhaltung mit dir? Das ist auf jeden Fall eine angenehme Abwechslung."

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Es war außerordentlich erfrischend zu beobachten, wie auch Kassandras Stimmung sich deutlich aufgelockert hatte. Ihre Augen glitzerten viel häufiger und das Schmunzeln in ihrem Gesicht hinterließ stets feine Spuren, auch wenn es selbst schon längst wieder verschwunden war. Es war hübsch mit anzusehen und Zoras hielt es auch für eine Art Notwendigkeit; er glaubte nicht, dass Kassandra in ihrem Aufenthalt auf dieser Erde oft die Gelegenheit zum Lächeln kam. Umso erfreulicher war es, dass er nicht nur daran Teil haben konnte, sondern auch noch in gewisser Weise der Auslöser dafür war.
      "Türkis? Das ist wahrhaftig eine komplizierte Farbe. Schön anzusehen, ganz bestimmt, aber teuer herzustellen, wie ich mir vorstelle. Und saisonale Nüsse aus Isu... was? Ein bisschen hatte ich mir eingebildet, mit deiner Antwort mehr anfangen zu können."
      Er schmunzelte noch immer und blickte dann auf den kleinen Trick von Kassandra hinab, der ihrer beider Füße binnen Sekunden wieder getrocknet hatte und musste zugeben, dass es doch eigentlich ganz angenehm war, sich um nichts sorgen zu müssen - nicht einmal um solche Kleinigkeiten. Sie konnten die Natur genießen, ohne irgendwelche Hintergrundgedanken dabei haben zu müssen oder sich darum zu scheren, ob woanders nicht wichtigere Arbeit auf sie wartete. Nicht, dass sie das nicht täte, aber sie waren eben weit genug entfernt, dass es sie nicht beeindruckte. In dieser Konstellation gab sich Zoras tatsächlich damit zufrieden, einfach nur zu existieren.
      Er folgte Kassandra bereitwillig zu einem Fleck Gras, wo sie sich auf dem Boden setzte. Ihre Bewegung imitierend setzte auch er sich und streckte die Beine vor sich aus. An diesem Ort mit der wärmenden Sonne und dem sanften Rauschen des Flusses hätte man beinahe einschlafen können, stattdessen entspannte Zoras sich aber und lauschte Kassandras Erklärung. Nach seinem bescheidenen Wissen kam alles von einem Göttervater, nach dem alle anderen Götter geschaffen waren, aber auf der anderen Seite gab es bei Göttern wohl kaum so etwas wie eine Geburt - ganz abgesehen davon war Kassandra auch eine Phönixin und damit noch einmal eine etwas andere Kategorie. Daher war er auch äußerst interessiert an ihrer Erklärung.
      "Das kann man wohl in gewisser Maßen als Verwandtschaft bezeichnen."
      Er hatte sich zurück auf seine Hände gestützt, jetzt richtete er sich wieder ein Stück auf um zu beobachten, wie Kassandra ein Stück näher rutschte und seine Hand ergriff. Selbst wenn er gewollt hätte, konnte er nicht das Lächeln aufhalten, das ihm über das Gesicht huschte. Er könnte sich ernsthaft daran gewöhnen, Kassandras Hand zu halten - wie alt war er, 14? Aber was sollte er schon dagegen machen, dass eine solch simple Geste ihn so beflügelte - und sie dabei zu berühren. Oder eher, in diesem Fall, sich berühren zu lassen. Ihre Finger waren äußerst vorsichtig und wie die Berührung einer Feder auf seiner Haut; es kitzelte fast, aber Zoras hatte nicht vor, sich zu bewegen und damit den Moment in irgendeiner Weise zu stören.
      Sie erzählte weiter von Telandir, einem anderen Phönix, mit dem sie sich wohl gut verstanden hatte und bei dem sich Zoras die Nachfrage sparte, was wohl aus ihm geworden sein könnte. Kassandra kicherte dabei sogar, er wollte ihre Stimmung nicht damit ruinieren sie daran zu erinnern, dass sie ihre Artgenossen seit mehreren hunderttausend Jahren schon nicht mehr gesehen hatte. Stattdessen beobachtete er sie nur, die feinen Fältchen, die sich auf ihren Wangen bildeten wenn sie lachte und die Art, wie sie ihre Augen dabei ein wenig zusammenkniff, wie ihr gesamtes Gesicht dabei erstrahlte. Er mochte den Anblick. Wenn er es sich recht überlegte, hätte er sie für eine sehr lange Zeit dabei beobachten können.
      Erst nach einem Moment fiel ihm auf, dass sie ihre Erzählung nicht wieder aufnahm und so blickte er kurz auf seine Hand herunter, wo ihre Finger verharrt waren. Er bewegte die eigenen Finger ein wenig und strich an ihren entlang.
      "Wenigstens verstehst du dich halbwegs mit ihnen, das ist die Hauptsache. Das muss besser sein, als ausschließlich alleine zu sein."
      Damit schien er sie herauszuholen, wo auch immer sie gedanklich gerade noch gehangen hatte, den Blick auf das nicht allzu ferne Wasser gerichtet. Als sie sich ihm wieder zuwandte, lächelte er unbefangen; es dauerte dennoch einen weiteren Moment, bis sie wieder sprach. Belustigt hob Zoras die Augenbrauen an.
      "Die Unterhaltung mit mir? Das kann ich als Antwort nicht akzeptieren, auch wenn ich das Kompliment natürlich gerne annehme. Wir werden schon etwas für dich finden."
      Noch immer grinsend blickte er auf ihre Hand hinab, die wieder damit angefangen hatte, seine Finger zu streicheln.
      "Wie wäre es mit tanzen, oder allgemein mit Musik? Du tanzt doch gerne, nicht wahr? Vielleicht möchtest du ja auch ein Instrument spielen, wie wäre das? Oder singen? Das könnte ich mir gut als Freizeitbeschäftigung für dich vorstellen. Oder wie wäre es mit Malerei? ... Oder Reiterei? Dabei kann ich behilflich sein."
      Er zwinkerte ihr fröhlich zu, bevor er einen Blick zu den Pferden warf. Sie standen mit gehörigem Abstand zueinander, als wäre es wichtig zu beweisen, dass sie noch keine Freunde waren.
      "Aber das werden wir bei Gelegenheit noch herausfinden. Nächste Frage: Was ist dein Lieblingstier? Deine Lieblingsfrucht? Deine Lieblings... Kleidung? Schmuck? Hast du überhaupt etwas, das du in solchen Sachen dein Eigen nennen kannst?"
    • "Es war nie ein Geheimnis, dass ich anders war als meine restlichen Angehörigen. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern wie es dazu kam aber die Alten haben schließlich beschlossen mich zu verbannen. All jene, die zur gleichen Zeit in die Existenz gekommen sind wie ich, waren mehr als nur schockiert. Jeder fragte sich, was ihn von mir unterschied und warum nur ich verbannt werden sollte. Also ja, wir haben uns alle prächtig verstanden bis dahin..."
      Ein weiterer Grund, warum sie fast ausfällig gegenüber Elive geworden wäre. Kassandra wusste, dass von ihrer Art niemand dort oben sich über ihr persönliches Pech ins Fäustchen lachte. Glücklich war niemand mit dieser Lösung gewesen, doch die Zeit hatte ihre Arbeit getan und sie nahm es ihnen nicht mehr übel.
      "Tanzen ist schön, ja. Aber man tanzt in der Regel nicht für seineswillen. Es ist eine Unterhaltungsform und der Spaß liegt in der Regel darin, dass das Publikum den Küstler würdigt. Ich weiß, dass du mich gerne einmal nur für dich tanzen sehen würdest", entgegnete sie, einen schelmischen Seitenblick zu Zoras werfend.
      "Ähnliches gilt für das Singen. Wobei ich generell eher dazu tendieren würde, die beiden vorher genannten Tätigkeiten der Malerei vorzuziehen. Ich kann nicht stundenlang ruhig vor einer Leinwand stehen bleiben und mit Farben hantieren. Dafür bin ich vielleicht nicht entspannt genug. Und was die Reiterei angeht wird das maximal mein Hobby solange du in meinem Wirkungskreis bist. So gesehen müsste ich mir ja nur ein Hobby für die kommenden zwei Jahre suchen. Danach soll ich ja angeblich wieder frei sein."
      Angenommen es funktionierte und sie würde ihr Herz zurückbekommen - was täte die Phönixin dann? Nach jahrhunderterlanger Gebundenheit an die Erde wäre sie vermutlich überfordert damit, wieder Herrin über die Lüfte des Erde zu sein. Brauchte sie denn dann noch eine Freizeitbeschäftigung? Unwahrscheinlich.
      Bei den weiteren Fragen, mit denen Zoras Kassandra nun bombardierte, musste sie wieder breiter grinsen. Das nahm ja gar kein Ende mehr. "Tiere finde ich generell schwierig weil die meisten mich einfach meiden. Also kann man sie am besten von der Ferne aus beobachten. Nenn es ruhig seltsam aber ich mag Kolibris. Diese winzigen exotischen Vögel, die niemals landen und so schnell flattern, dass man ihre kleinen Flügel nicht mehr sieht. Früchte finde ich generell alle toll und da die Menschen immer wieder mit neuen Kreuzungen aufwarten werden sie mir auch nie wirklich langweilig. Und Lieblingskleidung? Kann man sowas überhaupt haben?"
      Sie legte den Kopf ein wenig in den Nacken und drehte ihn zu Zoras. Ihre Augenbrauen waren fragend erhoben.
      "Hast du etwa eine Lieblingsuniform oder dergleichen? Ich persönlich schreibe materiellen Dingen einen geringen Wert zu, außer man versieht sie mit einem emotionalen Wert. Shukran hatte mir damals so etwas wie eine Haarnadel geschenkt, die ich lange Zeit mit mir geführt hatte. Irgendwann im Laufe der Zeit hatte man sie mir abgenommen und damit verlor ich sie."

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Zoras fand seine Tiefenentspannung darin, Kassandras Antworten zuzuhören. So wie sie es zu amüsieren schien, dass er eine belanglose Frage nach der anderen stellte, vermerkte er ihre Antworten in einer kleinen Schublade seines Gehirns, die er für Kassandra allein bereit hielt. Er wusste, dass die Fragen im Großen und Ganzen gesehen nichtig waren - war es wirklich von Belang welche Lieblingsfarbe sie hatte, wenn sie sowieso nur noch zwei Jahre hatten? - aber in seiner eigenen, kleinen Welt, die er sich damit erbaute, waren sie durchaus von grandioser Wichtigkeit. Und wenn er nur zwei Jahre davon hatte; er merkte sich ihre Details, als würde sein Leben davon abhängen.
      Dabei ließ er sich sogar widerstandslos von Kassandra necken. Er konnte den Blick gut einsortieren, den sie ihm zuwarf.
      "Es wäre doch eine Beleidigung, wenn ich dich nicht gerne tanzen sehen würde, oder?"
      Das Grinsen, das er ihr auf diese Antwort hin schenkte, war beinahe genauso verschmitzt wie ihr eigenes.
      "Und ganz abgesehen davon, könnte es durchaus sein, dass es dir so gefällt, wie dir das Fliegen gefällt. Ich möchte behaupten, dass das kein allzu abwegiger Gedankengang war."
      Er lehnte sich zurück auf den einen Arm, während er den Kopf etwas schief legte.
      "Du kannst dir auch als atemberaubender Feuervogel noch ein Hobby suchen. Wer sagt, dass du dich nicht an sterblichem Vergnügen beteiligen kannst, sobald du dein Herz zurück hast?"
      Zugegeben war es äußerst unwahrscheinlich, dass Kassandra so etwas wie reiten bevorzugen könnte, wenn sie auch mit der Geschwindigkeit des Windes reisen könnte, aber vielleicht lag es auch ein bisschen an Zoras' Ego sich vorzustellen, dass er sie dazu überzeugen könnte, Gefallen an etwas zu finden, dass auch dann noch anhielt, wenn sie die Lüfte zurückerobert hätte. Schließlich hatte ihn der Gedanke nicht vollständig losgelassen, dass sie sich nach den zwei Jahren an seinen Namen erinnern könnte, wenn er sich nur genug darum bemühte. Wer hätte das auch nicht gewollt? Es war ein wenig Trost dafür, dass sein Leben in solch einer kurzen Zeit sein Ende fand.
      Sie beantwortete auch seine folgenden Fragen anstandslos und entlockte mit ihrem Grinsen einen ähnlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Schließlich lachte er sogar.
      "Eine Lieblingsuniform habe ich nicht, weil alle ähnlich steif und fürchterlich zu binden sind. Aber ein Lieblingshemd habe ich und eine Lieblings-Reithose. Und besonders Lieblingsstiefel. Manche Sachen passen einem einfach besser als andere."
      Er suchte für einen Augenblick nach einem Anzeichen von Reue in Kassandras Gesicht, nachdem sie ihm davon erzählte, dass sie Shukrans Haarnadel verloren hätte, aber er fand nichts dergleichen. Natürlich war es schwierig einen Wert zu Dingen aufzubauen, wenn man sie beim nächsten Träger schon wieder verlieren könnte. Aber das bedeutete nicht, dass man sie bis dahin nicht genießen konnte.
      "Aber genug davon, dann weiß ich, nicht mehr nach Dingen zu fragen. Mir fallen auch so noch genug Sachen ein."
      Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, bevor er tatsächlich den nächsten Schwall an Fragen aus seinem Ärmel schüttelte. Sie waren alle genauso belanglos wie die ersten, aber niemals über etwas brisantes, das die Stimmung hinabziehen könnte. Welche Jahreszeit hatte sie am liebsten, wie mochte sie ihre Haare am liebsten tragen, mochte sie lieber süßes, bitteres oder scharfes Essen. Kassandra schien sich köstlichst darüber zu amüsieren, welche Nichtigkeiten Zoras noch so auf Lager hatte und er gab sein bestes, sie in keinster Weise darin zu enttäuschen. Jahre der Übung und die anfänglich zugegebenermaßen schlechten Anmachversuche, die er in seiner Jugend begannen hatte, hatten ihm eine ganze Palette aus Fragen gegeben, mit der er einen ganzen Steckbrief von Kassandra ausfüllen konnte. Nicht, dass es eine besonders unterhaltende Fragestunde gewesen wäre, aber er plante schließlich auch nicht, die Informationen in seinem Kopf lediglich verblassen zu lassen.
      Als er irgendwann an einem Punkt ankam, wo ihm tatsächlich nichts mehr von relevanter Belanglosigkeit einfiel, war der Mittag bereits vorübergeschritten und sein Körper tat ihm vom vielen Sitzen auf dem Boden weh. Sein Fuchs war einige Male bei ihnen vorbei gekommen, wie um sich zu vergewissern, dass sein Herrchen noch immer in der Umgebung war, ehe er wieder auf unbekannte Distanz verschwunden war. Kassandras Schimmel hatte sich ihm manchmal angeschlossen, nachdem die Alternative, so nah bei der Phönixin zu bleiben, dann doch nicht recht ergiebig schien.
      Als Zoras aufstand und sich streckte, spürte er beinahe augenblicklich die Reue darüber, den Moment schon wieder verlassen zu müssen. Sie hatten bereits den ganzen Vormittag dort verbracht und einen Teil des Nachmittags, aber noch immer war es ihm nicht genug. Er wäre bis zum Abend mit Kassandra dort geblieben und hätte sogar im Freien übernachtet, wenn sie nur das Wort dazu gegeben hätte. Aber er war ein Herzog und Herzöge verschwanden nicht den ganzen Tag und dann auch noch die ganze Nacht lang, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben, dass sie weg waren.
      "Wir sollten zurückgehen."
      Er pfiff nach seinem Tier, das aus der Entfernung ein Wiehern von sich gab.
      "Ich glaube, wir haben noch Früchte Zuhause. Wie wäre es mit einem Nachmittags-Snack? Vielleicht haben wir sogar Nüsse, außer dein Gaumen ist von den isythumasischen zu sehr verwöhnt."
      Er grinste sie an, noch immer so leichtfertig wie schon den ganzen Tag, vielleicht sogar ein Stück fröhlicher jetzt, da er ein besseres Bild von Kassandra bekommen hatte. Dass er ja sogar einen beträchtlichen Teil des Tages mit ihr verbracht hatte, ohne unterbrochen zu werden und ohne sich um die dunklen Themen zu kümmern, die ihnen beiden anhafteten. Es war lediglich ein freier Tag gewesen, eine Ablenkung von den vielen Pflichten, die Zuhause warteten. Sie würden sowas nicht häufig machen können, dessen war er sich bewusst - umso glücklicher war er daher, es überhaupt getan zu haben.

      Als sie auf den Hof ritten, kam ihm zu seiner Überraschung Elive entgegen. Er hatte nicht vor dem Abend mit ihr gerechnet.
      "Zoras, um Zeus' Willen! Ich dachte du wärst schon ausgezogen oder - oder sonst was!"
      Sie schien aufgebracht, aber auf der anderen Seite schien sie immer aufgebracht, wenn sie nicht genau wusste, was Zuhause vor sich ging. Wahrscheinlich wäre sie auch dann verärgert gewesen, wenn sie Zoras schlichtweg nicht in seinem Zimmer angetroffen hätte.
      "Wieso bist du schon wieder hier? Ich dachte -"
      "Ja ja, ich habe ihn unterwegs getroffen, da habe ich ihn gleich eingeladen."
      Sie machte eine ausschweifende Handbewegung zu dem Wagen, der vor dem Haus parkte und dem älteren Mann, der mit einer kleinen Tasche davor stand. Seine Nervosität war gut hinter einer ordentlichen Professionalität versteckt. Auf dem Wagen stand in fetten Buchstaben "Schneiderbedarf" geschrieben.
      Zoras warf Kassandra einen leicht entschuldigenden Blick zu.
      "Ich dachte, er würde vielleicht morgen kommen. Oder übermorgen. Das Kleid war dir doch zu eng, nicht wahr? Lass dir von ihm die Maße nehmen, dann gebe ich etwas in Auftrag."
      Das Lächeln, das nie ganz verschwunden zu sein schien, war wieder da und ließ seine Miene erstrahlen.
    • Ganz beiläufig sprach Zoras Dinge an, die Kassandra bislang nie wirklich erwägte. Die Aussicht darauf, ihr Herz zurück zu bekommen und wieder so frei wie zuvor zu sein, schien ihr bislang immer unendlich weit entfernt. Außer Frage stand jedoch, dass sie nicht mehr die gleiche Phönixin wäre wie vor ihrer Sklavenschaft. Würde sie also in der Lage sein, sich überhaupt wieder wohl in ihrer ursprünglichen Form zu fühlen? Ohne die Menschen in ihrem nächsten Wirkungskreis zu wissen?
      "Meine Zeit auf Erden hat dafür gesorgt, dass sich manche meiner Blickwinkel ändern, ja", gab sie schlussendlich zu und sah wieder zurück zum Flusslauf, der unbehelligt seiner Wege floß. "Vielleicht werde ich an der ein oder anderen Tätigkeit festhalten. Auch ein Vogel kann schließlich nicht ständig am Himmel schweben."
      Tatsächlich fand Kassandra wahrlich Gefallen daran, sich in belangloses Geplänkel mit Zoras zu verstricken. Er kam mit immer neuen, teilweise abstrus anmutenden Fragen um die Ecke, die ihr das ein und andere Mal ein Lächeln entlockten. Zu jedem Thema und zu jeder Frage gab sie anstandslos einen Kommentar ab und manchmal erzählte sie noch von weiteren vergangen Geschichten aus ihrem schier unendlichen Leben.
      Irgendwann, als die Sonne breits hoch über ihren Köpfen hinweg gezogen war, machte sich Aufbruchsstimmung breit. Zoras hatte mit der Annahme recht, dass er nicht ewig vom Ansitz seines Hauses verschwunden bleiben konnte und ein wenig schmerzte es Kassandra sogar, dass sie diese unbefangene Zweisamkeit aufgeben mussten. Aber der Tag war noch nicht vorrüber und sie ertappte sich dabei wie sie hoffte, dass er noch eine Weile länger andauern möge.
      "Sag das nochmal, dass du denkst, menschliches Gut kann den Gaumen eines Gottes verwöhnen", spottete sie mit einem breiteren Grinsen auf den Lippen als sie sich auf ihren Schimmel schwang und sie den Weg zurück antraten.

      Kaum kam der Hof der Luors in Sicht tauchte bereits eine wohl bekannte Gestalt auf. Elive rannte förmlich über den Platz sobald sie Zoras und Kassandra entdeckte. Die Phönixin gab sich die größtmöglichste Mühe, nichts in ihrem Gesicht preiszugeben, aber ungehalten war nicht ansatzweise das richtige Wort um ihr Gemüt zu beschreiben.
      Kassandra ritt demonstrativ mit Solari an der Walküre vorbei ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen musterte sie den Mann vor dem Wagen, der zwar professionell, aber dennoch nervös eingestellt war. Es dauerte einen Moment ehe sie verstand, dass es der Schneider war den Zoras vor geraumer Zeit einmal angekündigt hatte.
      Prompt bekam sie den entschuldigenden Blick des Herzoges zugeworfen, den sie mit einem Augenrollen quittierte, das sonst niemand sah.
      "Zugegeben, die Schnitte eurer Kleider sind sehr schmal. Aber ich tu mal so als hätte ich überhört, als wenn es so klang, dass ich zu umfangreich bin", kokettierte sie und steuerte den Stall an, um dort Solair abzugeben, der direkt von einem Stallburschen versorgt wurde.
      Zu Fuß näherte sie sich dem Schneider, der offensichtlich nicht wusste, dass Kassandra ein Gotteswesen war sondern sie vielmehr als eine Gespielin oder vielleicht Verwandte von Zoras sah. Sie erachtete es nicht als nötig, den Sachverhalt aufzuklären sondern zog mit dem guten Mann in die Innenräume des Anwesens, um sich ihrem Schicksal zu ergeben.
      Sie schlugen beinahe eine ganze Stunde in Kassandras Gemach tot ehe der Schneider alle Maße hatte, die er nehmen wollte und Kassandra ihm alle Kniffe verdeutlich hatte, auf die sie Wert legte. Wie erwartet war auch der Schneider nicht der Meinung, dass es irgendetwas an dem Leib der Phönixin zum Aussetzen gab aber er verstand durchaus den ein oder anderen Kommentar. Schließlich kam sie aus Gegenden, in denen die Kleidung eher spärlich und lose am Körper anlag und keinen widrigen Witterungen trotzen musste.
      Trotz Allem war Kassandra erleichtert, als der Termin endlich abgehandelt war und sie sich wieder auf die Suche nach Zoras begeben konnte. Er wollte einen Tag mit ihr verbringen, anders, als die bisweilige Reise oder Aufgaben es ihnen ermöglicht hatten. Diese Zeit würde sie ihnen beiden zugestehen und zur Not gewisse Störenfriede einfach beiseite räumen müssen.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Beinahe hätte Zoras die genauen Worte verstanden, die unausgesprochen hinter Kassandras Augenrollen lagen. Um ein Haar glaubte er, dieselbe wortlose Verständigung mit ihr durchführen zu können, die er durch die lebenslange Bekanntschaft mit seinem Bruder schon meisterte, aber der Moment war zu schnell wieder vorüber, um sich darüber klar zu werden. Merkwürdigerweise enttäuschte ihn das sogar ein wenig, aber er konnte sich nicht vorstellen, was denn so ungemein erstrebenswert daran war, jemandes Worte genau vorhersagen zu können. Bei Ryoran nervte ihn das oft genug.
      Sie löste den Gedanken schon selbst auf und Zoras empörte sich mit einem allzu theatralischen Gesichtsausdruck, der den Ernst seiner Worte völlig zunichte machte.
      "Manche Frauen würden sich glücklich schätzen über einen persönlichen Schneider! Ich glaube, du nimmst diese prekäre Lage gar nicht ernst."
      Kassandra stolzierte schließlich auf ihrem Schimmel davon, während Zoras ihr grinsend hinterhersah. Elive musterte ihn mit vor Skepsis hochgezogenen Augenbrauen.
      "... Was? Du durftest doch auch in den Genuss eines persönlichen Schneiders kommen."
      Da winkte sie ab und gab einen Laut von sich, den man sehr gut mit "Typisch Mann" übersetzen durfte. Zoras grinste auch sie an und leitete seinen Fuchs an, nachhause zu trotten.
      Während Kassandra beschäftigt war, trat Zoras - sehr zum Grauen seiner Bediensteten - persönlich in der Küche auf und ließ ihnen den angekündigten Nachmittags-Snack zusammenstellen. Dann bearbeitete er Elive in der Hoffnung, sie noch ein wenig weiter aus dem Haus locken zu können, bevor sie ihm vorhielt, dass was-auch-immer er plante, ja wohl nicht Priorität vor einem Aufstand hatte. Er quittierte die Frage mit einem trockenen "Nein, Mama", was ihm einen verärgerten Blick und die Aussicht auf einen Vortrag über Verantwortung und Pflichtbewusstsein einhandelte. Er winkte ab, bevor sein Späßchen noch außer Kontrolle geraten würde und er sich später auch noch mit Ryoran auseinandersetzen dürfte. Dann also kein ganz leeres Haus, das war auch in Ordnung, solange ihn niemand störte. Es war ja nur ein Tag, an dem er sich um andere Dinge kümmerte - ein einziger. Das war doch nicht zu viel verlangt? Sein letzter wirklicher Tag der Freiheit.
      Allerdings hatte Elive mit ihrem Tadel schon erreicht, was sie erreichen wollte und ihm Schuldgefühle gemacht. Also setzte er sich doch wieder an seinen Tisch und befasste sich mit der elendigen Aufgabe, eine Forderungsaufstellung zu Papier zu bringen. Ein Aufstand war eine Form, eine Veränderung zu erzwingen und obwohl Zoras mit seinem Aufstand eigentlich das Gegenteil bezwecken wollte, musste er doch einen ordentlichen Rebellen abgeben. Er musste dem König ermöglichen, angemessen zu handeln und er musste Herzöge überzeugen - das konnte er nicht, wenn er nicht einmal vorzeigen konnte, was er überhaupt wollte. Also setzte er sich für die restliche Zeit daran.
      Als Kassandra ihn schließlich davon erlöste, war er so schnell aus dem Zimmer heraus, dass hinter ihm noch die Blätter zu Boden flogen. Der Phönixin präsentierte er ein aufrichtiges Lächeln.
      "Gut gelaufen? … Ist er schon weg? Gib mir einen Moment."
      Er eilte den Schneider nach, um ihn im Hof noch zu erwischen. Nach einem zweiminütigen Wortwechsel, in dem Zoras hauptsächlich redete und der Mann hauptsächlich nickte, trennten sie sich schließlich wieder und Zoras war beschwingt wieder an Kassandras Seite.
      "Ich bin dir noch eine Hausführung schuldig, wenn ich mich richtig erinnere. Außerdem möchte ich dir gerne etwas zeigen, das dir gefallen könnte. Vielleicht auch nicht, aber zeigen werde ich es dir trotzdem. Möchtest du?"
      Er bot ihr unverfänglich den Arm an, um sich unterzuhaken. Er fühlte sich von ihrem verbrachten Vormittag noch immer so dynamisch, dass ihm noch nicht einmal das Risiko, Elive so über den Weg zu laufen, wichtig war. Alles, was er wollte, war diese restliche, winzige Zeit mit Kassandra voll auszukosten.

      Das Haus war groß und geräumig und bot etwa doppelt so viele Gemeinschaftszimmer aller Art an wie es Gemächer gab. Es gab Salons in drei verschiedenen Größen, eine Bibliothek - die wenn auch sehr spärlich ausgestattet war -, eine Art Schatzkammer und eine Kammer, die aussah, als hätte man sämtliche kriegerisch erbeuteten Funde hier abgelegt. In letztere Kammer führte Zoras Kassandra beschwingt, als würde er ihr sein ganz persönliches Herzstück zeigen. In gewisser Weise war das wohl auch richtig, denn in der Mitte des Raumes war, ähnlich einer Krone, eine Rüstung wie auf einem Podest ausgestellt.



      Sie stand als Mittelpunkt des Raumes, so sehr als Zentrum, dass es den Eindruck hatte, als wäre der Raum außenrum erbaut worden, ohne sie jemals vom Fleck zu bewegen. Die Metallplatten glänzten im Tageslicht, das durch das Fenster hereinfiel und spiegelten es auf ihrer makellosen Oberfläche wieder.
      Meine Rüstung”, erklärte Zoras heiter, nicht ohne einen gewissen Stolz dabei zu verspüren.
      Mit ihr habe ich den Ausgang der großen Schlacht von Thurin abgewendet und werde wohl auch hoffentlich den Ausgang des Aufstandes genauso verändern. Sie ist nach arluraischen Maßstäben aufgesetzt worden, aber die Symbole gehen auf die Riktor zurück. Man könnte wohl behaupten, dass sie in manchen Kreisen in meinen Ländereien als heilig angesehen wird.
      Er schmunzelte Kassandra von der Seite aus zu.
      Aberglauben wie solche werden den Sieg zum Schluss nur noch effektiver machen. Und ich plane nicht, daran etwas zu ändern.
    • Fast, aber nur fast, wäre Kassandra ein eindeutiger Kommentar über die Lippen gekommen, warum sie Zoras wieder mit seinen Briefen beschäftigt vorfand. Vielleicht war der Schneider auch eine willkommene Gelegenheit gewesen, damit er ungestört wichtigeren Tätigkeiten nachgehen konnte als die Zeit mit ihr totzuschlagen? Allerdings sprach die Geschwindigkeit, mit der er förmlich aus dem Zimmer gesprintet war, eine andere Sprache.
      Die folgenden zwei Minuten verweilte sie einfach im Gang vor Zoras Gemach während dieser dem Schneider noch hinterher geeilt war. Sie warf einen Blick hinein, sah die weißen Blätter auf dem ganzen Boden zerstreut liegen und fragte sich eigentlich, was sie hier gerade trieben. Sie verleugneten das Offensichtliche, verleugneten das Schicksal, das sich der Herzog selbst aufgebürdet hatte. Mit einem Seufzen zog sie die Tür zu, gerade rechtzeitig bevor besagter Mensch wieder zu ihr stieß.
      "Sicher. Zeig mir, was dir auf dem Herzen brennt."

      Das Anwesen hatte defintiv zu viele Räume zu bieten. Die meisten von ihnen merkte sich die Phönixin nicht sonderlich und auch auf die Schatzkammer gab sie wenig. Als sie jedoch an den letzten Raum eines Ganges gelangte, änderte sich etwas in der Haltung Zoras'. Noch bevor er seine Hand auch nur auf den Knauf gelegt hatte wusste sie bereits, dass dorthinter sich etwas für ihn Wichtiges verbarg.
      Hörbar stolz präsentierte er ihr seine Rüstung, deren Wert für die meisten Frauen vermutlich einerlei war. Kassandra hingegen hielt nicht ein sondern löste sich von Zoras' Seite und näherte sich der Rüstung, die wie ein Heiligtum aufgebahrt inmitten des Raumes stand. Alles war so konzipiert worden, dass die Aufmerksamkeit genau auf das Stück im Zentrum des Raumes fiel. Deshalb waren die ABstände der Wände so bemessen worden, deswegen waren die Fenster nach dem Stand der Sonne ausgerichtet.
      Erst als sie ihre Finger auf das kühle Metall legen konnte reagierte sie zögernd auf die Worte des Herzoges.
      "Wenn du mit dieser Rüstung deine Truppen anführst, wird es ihnen den notwenigen moralischen Schub geben. Aber zeitgleich planst du am Ende des Aufstandes in ihr zu fallen. Du willst, dass Feris dich in genau dieser Rüstung niederstreckt. Sie wird zusammen mit dir untergehen und ein Mahnmal bilden."
      Kassandra trug keine Wut in ihrem Gesicht. Vielmehr waren ihre Züge gemalt von Resignation und einer Spur Wehmut. Sie konnte sich Zoras so gut in dieser Rüstung vorstellen, sah ihn vor ihrem geistigen Auge auf seinem Pferd auf dem Schlachtfeld. Nur um von Feris in seiner eigenen weiß glänzenden Rüstung niedergestreckt zu werden. Willentlich.
      Ihre Finger krümmten sich zu einer Faust, verdeckt von ihrer eigenen Gestalt.
      "Sie ist ein wunderbares Stück Schmiedekunst", hob sie erneut an, dieses Mal deutlich heller gestimmt und wandte sich ihrem Träger mit einer enstpannten Mimik zu. "Ich habe schon einige Rüstungen im Laufe meiner Zeit gesehen und nur wenige sind so schön gearbeitet wie diese. Ich kann mir gut vorstellen, dass du ein beeindruckendes Bild in ihr abgibst..."
      Wie zur Verdeutlichung wanderten die rubinroten Augen einmal vollständig über Zoras Körper hinweg.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Zoras beobachtete heiter, wie Kassandra sich in einer beinahe ehrfürchtigen Weise der Rüstung näherte. Sie musste unwillkürlich in den Flecken Licht treten, der vom Fenster so hereinfiel, dass er die Rüstung in eine Art Heiligenschein tauchte. Mit Kassandra daneben, die ihre Hand ein wenig anhob, um ihre feingliedrigen Finger über das glänzende Metall zu streichen, schoss es Zoras durch den Kopf wie schön es war, zwei Dinge, die ihm wichtig waren, auf einem Fleck zusammen zu wissen. Der Gedanke war merkwürdig und abstrakt und hielt nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde, aber trotzdem fuhr ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Der Anblick von Kassandra neben der Rüstung, die wirkte, als könnte sie die kleinere Frau mit einem Happen verschlingen, erschien ihm wie das Bildnis eines Traumes.
      Er kam auch die wenigen Schritte näher und griff nach dem Waffenrock um eine Falte wegzustreichen, die wahrscheinlich niemand außer er sonst sehen konnte. Dann zog er wieder die Hand zurück, als könnte eine zu lange Berührung den Glanz brechen, der auf der Rüstung lag.
      "Ich habe mir mal sagen lassen, dass ich in der Rüstung aussehe, wie einer der vier Apokalypsenreiter persönlich", schmunzelte er, die Stimme etwas gesenkt. Er warf Kassandra einen noch immer fröhlichen Blick zu.
      "Mein Hauptmann war das, glaube ich. Er hat gesagt, dass es eine Sache ist, einen Reiter auf einem Schlachtfeld gegenüberzutreten - im Gemenge kommt er vermutlich gar nicht erst ganz durch und wenn man selbst gute Speerträger hat, kann man auch den besten Kavalleristen fällen. Aber es ist eine andere Sache, wenn man den Reiter schon aus der Entfernung ankommen sieht, wenn man nichts weiter erkennen kann als eine lebendige Rüstung, die auf einem schnaubendem, schäumenden Pferd herangestürmt kommt; wenn man nicht weiß, was sich hinter dem Visier verbirgt, ob Mann oder Frau oder überhaupt ein Mensch und kein Dämon, wenn man nichts weiter sehen kann als ein Haufen zusammengeschobener Eisenplatten mit vier Beinen, die schneller als einer selbst ist. Und größer und stärker und besser gerüstet und auch noch mit Waffen ausgestattet. Das ist etwas ganz anderes, als lediglich einem Reiter gegenüberzutreten. Das ist so, als würde man erst verstehen, dass der Tod in allen möglichen Formen kommt - und in meinem Fall hat er lediglich die Form eines Kavalleristen angenommen. Versuch mal, diesen Gedanken zu hinterfragen, wenn dieser Reiter direkt auf dich zugestürmt kommt."
      Das Schmunzeln breitete sich zu einem Lächeln aus, mit dem Zoras die Rüstung betrachtete, als wäre sie seine persönliche Liebhaberin. Er wusste, dass eine solche Vorstellung nichts gegen das Gefühl war auf der anderen Seite des Geschehens zu stehen, auf seinem Pferd über das Schlachtfeld zu preschen und die vor animalischer Angst aufgerissenen Augen und Münder zu sehen, während ihm die Leiber aus dem Weg sprangen, noch bevor er überhaupt nahe genug herangekommen wäre, um sein Schwert zu schwingen. Nichts auf der Welt glich der Freiheit eines Kavalleristen auf dem Schlachtfeld und Zoras wusste auch nicht, gegen was auf der Welt er diese Freiheit jemals eingetauscht hätte.
      Zumindest für die nächsten zwei Jahre. Bis zu seinem Todestag.
      Schließlich sah er wieder zu ihr.
      "Also, ja. Wenn Feris es zustande bringen wird, eine solche Gestalt auf dem Schlachtfeld niederzustrecken, wird es wohl die beste Grundlage für eine erfolgreiche Herrschaft bieten. Zumindest in den Augen seines Volkes."
      Er warf einen letzten, beinahe liebevollen Blick auf die Rüstung, bevor er sich scheins endgültig von ihr abwandte und Kassandra zuwandte. Die Rüstung würde er ernsthaft vermissen, aber auch damit hatte er sich in seiner Vorbereitung schon abgefunden. Mittlerweile gab es kaum noch etwas, das ihn so sehr berührte, um ihn von seinem Tod abzubringen.
      Kassandras anschließendes Kompliment fasste er mit einem weiteren Lächeln auf, das so aufrichtig war, wie es nur sein konnte. Eine derartige Bemerkung aus dem Mund einer Person zu hören, die seit mehr als hunderttausenden Jahren auf der Erde wandelte, war deutlich eine beachtliche Leistung. Fast versetzte es ihn schon in Euphorie.
      "Wirklich? Das will ich aber hoffen."
      Kassandras Blick wanderte, wie zur Unterstreichung ihrer Worte, einmal an ihm herab und beschwörten eine gewisse Hitze in ihm herauf. Er grinste noch ein Stück breiter.
      "Du solltest auch eine Rüstung bekommen, findest du nicht? Eine, die einer Phönixin gerecht sein könnte. Vielleicht mit... Flügeln? Macht das Sinn?"
    • Während Zoras so von seiner Rüstung schwärmte und versuchte, Kassandra ein Bild von einer Schlacht zu vermitteln an der sie nie teilgenommen hatte, hätten etliche Zuhörer vermutlich kopfschüttelnd resigniert. Kassandra hingegen bekam dank ihrer Verbindung direkt ein Bild, das rein aus Zoras' Vorstellungskraft entsprang. Sie selbst hätte sich vermutlich niemals in dieser Position gesehen, wie ein einzelner Mensch auf sie zugerast käme wie der Leibhaftige persönlich und solche instinktive Angst in ihr auslösen könnte.
      Doch es gab eine Erinnerung in ihrem hübschen Kopf, die erschreckend passend zu dem war, was Zoras beschrieb. Ein einziges Mal war es vorgekommen, dass sie auf einem Schlachtfeld einem namenhaften Gott gegenüberstand und genau wusste, dass sie diejenige wäre, die das Aufeinandertreffen nicht überleben würde. Doch war sie es damals gewesen, die auf ihren Gegner zugerast war, getrieben von dem Befehl ihres Trägers und beflügelt von einem Wahnsinn, den sie nie wieder verspürt hatte. Ihr Gegner hatte die manische Gewissheit in ihren Augen sehen müssen als er ihr erst einen, dann den anderen Arm abschlug und sich beinahe ihr Kopf hinzugesellt hatte.
      "Es ist schwierig für mich mir vorzustellen, wie man dermaßen ehrfürchtig einem einzigen Krieger auf einem überfüllten Schlachtfeld entgegenblicken kann. Wir kennen diese Position in der Regel nicht, da wir meistens auf dem anderen Ende stehen. Nur wenn es Gott gegen Gott geht ändert sich der Blickwinkel ein wenig. Meistens wissen wir schon, wer den Kürzeren ziehen wird...."
      Sie musste sachte den Kopf schütteln, um die sich überlappenden Erinnerungen aus ihrem Schädel zu verbannen. Ihr fiel allerdings auf, dass er dieses Objekt liebevoller berührte als die meisten anderen Gegenstände, mit denen er bislang in ihrer Anwesenheit interagiert hatte. Es lag eine Emotion in seiner Gestik, die sie nicht vollends deuten konnte und es vermutlich erst können würde, wenn der Tag gekommen war an dem er sie das letzte Mal tragen würde.
      Auf sein doch sehr breites Grinsen hin neigte Kassandra den Kopf ein wenig zur Seite, ihre Lippen zuckten in Anmutung eines Lächelns. Sie trat einen Schritt von Zoras zurück und streckte einen Arm zur Seite aus.
      "Du weißt, dass ich meine eigene Rüstung habe?", fragte sie und ließ zur Veranschaulichung Flammen über ihren Arm wandern, die sich wie eine immaterielle Rüstung um ihre Gliedmaße schmiegten. Im nächsten Moment wurden die roten Flammen pechschwarz und verfestigten sich zu der Plattenrüstung, die sie im Schloss materialisiert hatte. "Eigentlich denkt man, eine Plattenrüstung wäre zu schwer. Aber das verwirrt meinen Gegner meist zu Beginn und verschafft mir einen Vorteil. Doch wie du siehst... keine besonderen Merkmale, keine Flügel. Das nähme zu viel Spielraum ein, findest du nicht?"
      Die Hand der Phönixin ballte sich zur Faust und löste die schwarze Rüstung wieder auf. Langsam ließ sie den Arm wieder sinken. "Vielleicht hast du ja eine bessere Lösung parat. Allerdings müsste es so praktisch sein, dass ich es einfach transportieren kann, sollte ich mein Herz zurückbekommen."
      Was nicht passieren wird, dachte Kassandra prompt.
      Anschließend huschte ihr Blick zur Tür so als hätte sie noch etwas vor. "Sagtest du nicht, es gäbe einen Nachmittagssnack? Lass uns den einmal holen."
      Dann kam sie wieder näher zu Zoras herüber, harkte sich eigenmächtig in seinen Arm ein und führte ihn aus der Schatzkammer im Herzen seines Anwesens. Jede Sekunde länger in dieser Kammer war eine Sekunde zu viel, in der sie an das näher kommende Ende ihrer gemeinsamen Reise denken musste. Doch es war das erste Mal, dass sie willentlich den Gedanken nicht beiseite schob, dass sie das Ende betrauern würde. Sie war noch nie der Typus gewesen, der sich selbst anlog.

      Zusammen hatten Zoras und Kassandra sich das Gedeck aus der Küche abgeholt, das man auf sein Anraten hin zusammengestellt hatte. Wie vorausgesagt waren es ansprechend zusammengestellte Früchte und Nüsse, wie die Phönixin zu ihrer Belustigung feststellen durfte. Als er sie fragte, wohin sie mit dem Snack gehen wollte, hatte sie völlig unorthodox den Kartensaal genannt. Natürlich nicht ohne einen Hintergedanken.
      Im Saal hatte sie sich nah an das Tablett gesetzt und schob sich immer wieder welche der Nüsse oder Fruchtstücke in den Mund. Im Gegensatz zu den sonstigen Mahlzeiten achtete sie nicht mehr sonderlich darauf, dass sie adrett aufrecht am Tisch saß sondern lehnte etwas vorn herüber, um so einfacher an die Köstlichkeiten zu gelangen.
      "Du solltest mir vielleicht mal von dieser ominösen Schlacht berichten. Ihr Name ist nun mehrfach gefallen und jedes Mal bin ich vertröstet worden. Oder ist dir der Themenbereich zu trocken und du würdest den restlichen Tag lieber anders verbringen?"
      Kassandra wusste, dass sie gerade eventuell kritisches Terretorium ansprach. Aber sie spielte einfach zu gern mit der Mimik des Mannes, der sie noch immer mit diesen funkelnden Augen betrachtete.
      "Zum Beispiel mit Fragen, natürlich...", fügte sie nach einem Moment des Schweigens an.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Kassandras Wunsch gemäß ließen sie sich im Kartenzimmer nieder, wo alles vom Vortag noch unberührt geblieben war. Die überdimensionale Karte des Landes war noch immer auf dem Tisch ausgebreitet, die Figuren standen noch immer an Ort und Stelle, als würden sie auf einen unsichtbaren Befehl warten, der sie erst aus ihrer Leblosigkeit holen würde. Dazwischen lagen noch einzelne Notizen.
      Zoras hinterfragte nicht, weshalb sie wieder hier waren - nur die Phönixin selbst konnte bestimmen, was im Kopf der Phönixin vor sich ging, aber als sie sich nach einer Weile, in der sie sich dem Früchte-Ensemble gewidmet hatten, schließlich regte, konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er hatte schon den gewissen Gefallen von Kassandra an seinen kriegerischen Habseligkeiten bemerkt und konnte sich selbst nur zu gut daran erinnern, sie schon einmal einer Geschichte erspart zu haben. Damals war ihm noch die aktuelle Situation im Nacken gesessen, jetzt fühlte er sich beinahe befreit und definitiv gelockert. Da konnte er nicht einmal verhindern, einen gewissen Stolz zu verspüren, auch wenn ihm seine selbsternannte Würde es verbietete, diese Empfindung in irgendeiner Weise zu kommunizieren. Es war ein Albtraum gewesen und das würde es auch immer bleiben, man sollte die Toten nicht kränken, indem man den Sinn ihres Todes zunichtemachte. Aber immerhin, er war schließlich als einer der wenigen aus dem Albtraum wieder hervorgestiegen.
      "Ich mache dir einen Vorschlag: Ich erzähle dir von der Schlacht von Thurin und du erzählst mir dafür von einer deiner Schlachten gegen einen anderen Gott - sofern dir das nicht zu trocken ist."
      Sein Schmunzeln weitete sich zu einem Grinsen aus, bevor er ihr sogar zuzwinkerte. Er musste sich ermahnen, die Ernsthaftigkeit zu bewahren, aber das würde schon noch früh genug kommen. Zoras mochte an diesem Tag vielleicht in einer gelassenen Stimmung sein, aber die Professionalität siegte immer.
      "Die Schlacht war der Endpunkt eines wochenlangen Konflikts hinter der Landesgrenze", begann er, während er aufstand und zu einem nahestehenden Regal schlenderte, um dort in dem zusammengerollten Haufen Karten zu wühlen. Er fand, was er suchte, nahm sich die neue Karte und kam zurück zum Tisch, um sie über der Landeskarte auszubreiten. Diese neue Karte hatte deutliche Gebrauchsspuren und zeigte Theriss in seiner Gesamtheit mit all seinen Nachbarländern. Fünf waren es insgesamt.
      "Es ging dabei um einen Streit, der sogar noch viel früher angefangen hat - letztes Jahrhundert sogar, vermute ich. Wir hatten immer mal wieder Probleme damit, aber vor der großen Schlacht sind die Auseinandersetzungen außer Kontrolle geraten."
      Er tippte auf eines der angrenzenden Länder im Westen, ein etwas kleineres Land als Theriss, wenn auch nur geringfügig.
      "Unser Feind war Thagora, ein Land mit einer komplizierten Entstehungsgeschichte. Wenn du sie genau wissen willst, müsstest du Herzog Tiumus fragen, das hier ist schließlich seine Grenze."
      Er fuhr die dünne Linie nach, die beide Länder voneinander teilte.
      "Aber wichtig zu wissen ist, dass zwischen dem damaligen Thagora und dem Herzogtum Tiumus eine Verbindung bestand wie zwischen dem früheren Arlura und Riktor in meinem Reich. Der wesentliche Unterschied ist der, dass die Thagoraner nicht in das damalige Handelsabkommen aufgenommen wurden, die damaligen Tiumus aber schon. Thargora hatte sich abgespalten und andere Verbündete gesucht, genauer weiß ich es auch nicht.
      200 Jahre später, als beide Länder seine Monarchie etabliert und Thargora sich in den Westen ausgedehnt, wir uns dafür in den Süden und Osten ausgedehnt haben, gab es die ersten kriegerischen Auseinandersetzungen um Land, so wie man es nunmal kennt. Wir hatten beide Anspruch auf die Grenzhügel und wir wollten beide nicht darauf verzichten, also haben wir darüber verhandelt und schließlich auch darum gekämpft. Manchmal haben wir gewonnen, dann haben wir wieder verloren und mussten zurückziehen, um unser Land zurückzuholen, aber alles in allem blieben Grenzen weitestgehend erhalten. Das ging so lange, bis Thagora irgendwann einen Anspruch auf das Herzogtum Tiumus erhob, der sich auf die frühere Allianz mit dem Staat begründete."
      Er richtete sich ein wenig auf.
      "Wie du ja schon bemerkt haben wirst, sind wir ein recht bürokratisches Land: Unsere Konflikte laufen erstmal über Papier, bevor sie mit dem Schwert gelöst werden. Dementsprechend konnten wir uns nicht abwenden, ohne den Anspruch einmal prüfen zu lassen. Du kannst dir aber vorstellen, dass er zu dem Zeitpunkt schon längst verjährt war: Die Abspaltung von Thagora und dem heutigen Herzogtum war wieder fast 200 Jahre her und mittlerweile hatte sich alles verändert, also haben wir auch nicht zugestimmt. Die Thagoraner haben allerdings bemerkt, dass sie allein mit dem Papier weiter kommen als mit dem Schwert, also haben sie sich darauf festgesetzt, über diesen Anspruch zu verhandeln, nur dass sie die Verhandlungen dazu ausgenutzt haben, das Köngishaus zu infiltrieren. Ihre Spione haben die Schwachpunkte unserer Landesgrenzen ausgekundschaftet, eine Aufstellung unseres Militärs gezogen und einen Einblick darüber bekommen, wie unsere Monarchie durchgesetzt wird, mit den Herzögen und den Gesetzen, mit unserer Art der Kriegsführung und der Kriegsregeln. Als sie Jahre später wieder ankamen, um die Grenzen mit ihren Scharmützeln zu erobern, sind sie wesentlich präziser vorgegangen. Ich schäme mich für meinen Vater und seine Generation zu behaupten, dass sie Erfolg damit hatten. Sie haben sich einen nicht unwesentlichen Teil unseres Landes einverleibt und sich sofort niedergesetzt, um das Gebiet zu verteidigen."
      Er beugte sich wieder hinab, um die Grenze vor dem Scharmützel und danach aufzuzeigen. Die Grenze danach war wesentlich hinter der Landesgrenze des heutigen Herzogtums Tiumus.
      "Weiter sind sie nicht gekommen, weil unsere Verstärkung keinen weiten Weg hat, sie aber weit von ihrer nächsten Stadt entfernt sind. Wir konnten sie aber auch nicht zurückdrängen, sie hatten sich in gewisser Maßen festgefressen.
      Es folgten die wochenlangen Konflikte, die ich anfangs schon erwähnt hatte, in denen gekämpft und verhandelt wurde. Die Kriegserklärung war zu diesem Zeitpunkt schon längst ausgesprochen worden, aber unser König - der alte König - machte ihnen trotzdem das Angebot für eine entscheidende Schlacht: Einmal kämpfen, alles aufbringen, was beide Seite zu bieten hatten, und der Gewinner erhält das Herzogtum. Keine Gefechte mehr, keine Diskussionen mehr, die Sache sollte ein für alle Mal geregelt werden. Thagora hat zugestimmt.
      Wir fanden uns also gemäß unseren Kriegsregeln ein, der König mit seinem Gefolge und alle sechs Herzogtümer an seiner Seite, jeder Teil ausgestattet mit seiner eigenen Armee. Wir waren riesig, fast 600.000 Mann, darunter 30 volle Kompanien Reiter. Wir waren so viele, dass wir das ganze Herzogtum evakuieren mussten, um genügend Platz zu schaffen - schließlich haben wir damit gerechnet, dass die andere Armee genauso vollzählig eintreffen würde. Und das tat sie auch."
      Er beschrieb einen kleinen Kreis um die Gegend der Grenze.
      "Auf den Hügeln haben wir auf sie gewartet und über die Hügel sind sie gekommen, Scharen an Thagoranern mit diesen furchtbar eintönigen Rüstungen, mit ihren Schlachtentrommeln, die den Boden erbeben konnten. Sie kommunizieren über Instrumente, das ist mir bis heute ein Rätsel. Wenn man in ihrer Armee kämpft, muss man erst einmal lernen, was jeder Trommelschlag zu bedeuten hat und jeder Ton eines Horns, furchtbar, wenn man auf der anderen Seite steht. Ich hatte fast damit gerechnet, dass sie auch noch anfangen würden zu singen.


      Im Tal unten haben wir gekämpft und was vermutlich eine Schlacht von, sagen wir mal, sechs Stunden hätte sein können, wurde zu 16."
      Unwillkürlich musste er über die Abstrusität der damaligen Situation lächeln.
      "Einen vollen Tag lang hat es gedauert. Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber in diesen Rüstungen fängt man bereits nach zehn Minuten zu schwitzen an und die Hauptauseinandersetzung dauerte acht Stunden. Acht Stunden in voller Montur. Ich habe gedacht, wenn ich nicht durch eine Waffe sterbe, werde ich daran sterben, dass meine Muskeln reißen. Ich war mir ganz sicher, dass ich nie wieder auch nur auf den Beinen stehen könnte."
      Das Lächeln verblasste wieder und wich einer diesmal tieferen Ernsthaftigkeit.
      "Die Schlacht sollte schließlich vertagt werden. Es wurde ein temporärer Waffenstillstand ausgerufen und dann zogen beide Armeen zurück in ihre Lager, um sich für einen Tag lang auszuruhen. Ein einziger Tag, 24 Stunden lang. Wir wollten beide die Möglichkeit haben, unsere Leichen zu bergen und Verletzte zu versorgen. Wir haben beide auf die Möglichkeit gehofft, in dieser kurzen Zeit noch Verstärkung anzufordern.


      In der Nacht, die diesem Tag folgte, haben sie den König ermordet. Wir dachten, dass wir alle Spione aus unserem Land entfernt hätten, aber rückblickend betrachtet hätte uns klar sein müssen, dass nicht alle Spione neue Posten besetzen - manche Anhänger unseres eigenen Volkes sind auch einfach bestechlich oder wollen die Seite wechseln. Wir wissen nicht, was letzten Endes der Grund dafür war, denn der Mörder wurde in unserer Hast einfach umgebracht, aber er war einer von uns gewesen. Ein Freund meines Vaters sogar, er hat uns nicht selten auf unseren Ländereien besucht.
      Die Thagoraner hatten es wohl darauf abgesehen, uns durch unsere Kriegsregeln zu fesseln. Sie wussten, dass der neue König jemand aus seinem Gefolge war, deswegen hatten sie ihn nicht nur gezielt umgebracht, sondern seine engsten Vertrauten gleich mit dazu. Sie haben sichergestellt, dass binnen einer Nacht sämtliche nachfolgende König für diese Schlacht ausgelöscht wurden. Sie haben sich vergewissert, dass den einzelnen Herzögen das Kommando übertragen wurde, aber nur auf ihre eigenen Truppen. Ich weiß schon, dass du sicherlich etwas an dieser speziellen Regel auszusetzen hättest, aber ich möchte betonen, dass die Thagoraner ein halbes Jahrhundert dafür benötigt haben, diesen Streich auszuführen. Ja, es hätte anders laufen können, aber unsere Regeln haben uns bisher am Leben erhalten und sie werden uns auch in Zukunft noch am Leben halten, auch wenn es damals wirklich, wirklich knapp war."
      Er deutete auf der Karte auf einen Punkt an der Grenze.
      "Wir wussten, wo die Thagoraner ihr Lager hatten und wir wussten auch, dass sie nicht bis zum Morgen warten würden, um den Waffenstillstand einzuhalten. Mittlerweile hatten wir wohl gelernt, dass die Thagoraner nur selten an ihr Wort hielten.
      Es gab eine Krisensitzung, in der man erst versuchte, selbständig einen König zu ernennen und dann, als das nicht funktionierte, einen Überblick darüber zu bekommen, womit man noch kämpfen konnte. Zu dem Zeitpunkt hatten wir noch rund die Hälfte unserer ursprünglichen Armee, aber darin war schon die Reserve hinzugezählt. Die meisten hatten den vergangenen Tag schon gekämpft und waren zu müde, um noch eine Glanzleistung abzugeben.
      Zu dem Zeitpunkt hatten auch die Führungskräfte schon Verluste erlitten, aber mittlerweile wieder ausgebessert. Meriah hatte das Amt ihrer Schwester übernommen, der Vater von Emjir das Amt seiner verstorbenen Frau. Es war eine unsichere Lage, aber zumindest gab es keine Zweifel in den Führungsämtern.
      Wie durch ein Wunder haben sich alle Herzöge darauf geeinigt, das Schlachtfeld an einen Ort zu verschieben, wo wir nicht mehr das Kommando einer Einzelperson benötigten, sondern jeder einen Posten einnehmen und den dann halten konnte. Das war ein äußerst dürftiger Plan, aber zumindest alles, was in einer Stunde der Besprechung zustande kommen konnte. Wir mussten gleich losziehen, bevor die Thagoraner kommen und uns in den Rücken fallen würden.
      Besagter Ort war schließlich Thurin, eine Festungsstadt, die schon dem einen und anderen Angriff von Thagora standgehalten hatte. Hier.
      Er deutete auf den kleinen Punkt auf der Karte innerhalb der Grenze.
      ...
    • ...
      Wir haben Festung und Umgebung eingenommen, damit sie uns nicht einkreisen und belagern konnten. Die Herzogtümer Luor, Kerellin und Riev waren draußen, die anderen drei haben sich innen stationiert. Wir mussten draußen bleiben, um unsere Kavallerie einsetzen zu können, Kerellin wollte nicht hinein, um ihrem Rachedurst so schnell wie möglich nachzukommen und Riev hatte es lediglich als unersetzlich gehalten, die Lücken zwischen uns auszufüllen. Wir haben eine gute Abwehr geboten, das kann ich dir versichern. Eine harte Linie aus rund 100.000 Soldaten, den Rücken gestärkt von einer Festung mit ihren Geschütztürmen und ihren Schützen. Wir hatten, nach dem hektischen Aufbruch und dem viel hektischeren Marsch, um noch rechtzeitig anzukommen und die Festung zu besetzen, wieder Hoffnung gewonnen. Jeder Herzog konnte für sich kämpfen, die Festung würde unsere Verluste wieder wegmachen. Wir hatten alle rechtmäßige Heerführer, das hat uns geholfen, es hat uns Mut gemacht. Wir waren uns sicher, hier die Schlacht beenden zu können.
      Er hob einen Blick zu Kassandra, bevor er wieder auf die Karte hinuntersah und den Finger entsprechend platzierte.
      Die Armee kam noch vor dem Morgengrauen von dort. Sie war sichtbar kleiner als unsere und ließ sich von der Festung ein wenig abschrecken. Sie haben aber nicht lange gezögert, bevor sie schließlich herangekommen sind und gekämpft haben. Der Kampf hat vielleicht eine Stunde gedauert, vielleicht war es auch weniger; damals konnte ich es schlecht einschätzen, weil ich den Himmel nicht beachtet habe. Was ich aber sehr wohl beachtet habe, war die zweite Armee, die von hier kam.
      Sein Finger rutschte zur Seite.
      Sie hatten keine Trommeln, keine Hörner und keine eintönigen Rüstungen. Ich dachte lange, sehr lange, dass es eine Verstärkung von Riev war, weil die Richtung ungefähr gestimmt hatte. Ich glaube, die Herzöge haben es auch gedacht. Vielleicht haben auch die in der Festung das Wappen gleich erkannt und bloß keinen Alarm geschlagen. In jedem Fall haben die Herzogtümer am Boden viel zu spät bemerkt, dass es Belgrad war.
      Sein Finger rutschte hinüber zu dem Nachbarland von Thagora, das gleichzeitig auch das Nachbarland von Theriss war.
      Wir wussten über das Bündnis zwischen beiden Ländern, aber wir haben zum zweiten Mal an diesem Tag den Fehler begannen zu erwarten, dass die Thagoraner sich an eine Abmachung halten würden. Der Handel kam ausschließlich zwischen Theriss und Thagora zustande, mit keiner dritten Partei als Unterstützung, so hatte es der König ausgemacht, so war es unterzeichnet worden. Entsprechend lange hat es gedauert, bis der Groschen endlich gefallen ist.
      Ein blasses Lächeln kam wieder und kräuselte seine Lippen, der Ausdruck von Erleichterung darüber, jetzt über dieses Ereignis lachen zu können und nicht mittendrin zu stecken.
      Ich kann mich noch gut an die Panik erinnern, sehr gut sogar. Eine ganze Kompanie hat Fahnenflucht begannen, Riev hat sofort seine Männer ein gutes Stück zurückgezogen und wir mussten mitziehen, auch wenn das bedeutet hatte, dass wir den Thagoranern für einen Moment den Rücken zukehren mussten. Wir waren alle der Massenpanik verfallen. Das war der einzige Moment in meinem Leben, in dem ich allen Göttern gedankt habe, dass ich kein Herzog bin. Aber als Herzogssohn habe ich natürlich dennoch mittendrin gesteckt.


      Meriah ist an der Front geblieben. Sie war gewissermaßen unser Fels in der Brandung, denn sie hat nicht eine Sekunde daran gezweifelt, beiden Armeen gegenüberzutreten. Mein Vater wollte auch nicht in den Schutz der Festung, der kaum lange angehalten hätte, und damit war auch Riev schließlich überredet worden: Wir würden alle unten bleiben. Wir würden die Stellung halten, das war wichtig. Die anderen Herzöge sollten sämtliche Verteidigungsmaßnahmen der Festung aufziehen.
      Die zweite Armee war noch gute zehn Minuten entfernt, die ersten Pfeilsalven sind schon geflogen, als mein Vater seine Kavallerie von ihren Posten abgezog. Ihre Plätze wurden von Meriahs Soldaten gleich aufgefüllt, aber ihre Linie verdünnte sich damit und bot Schwachstellen zum Durchbrechen. Ich weiß noch, dass ich für sehr lange Zeit gedacht hatte, dass mein Vater auch den Mut verlassen hätte und er seinen Truppen befehlen würde, abzuziehen, um seine Haut zu retten. Ich habe es mir fast gewünscht, dass das sein Plan war, auch wenn ich mich heute dafür schäme - aber ich war damals schon vier Stunden auf den Beinen, hatte einen Marsch hinter mir, einen achtstündigen Kampf und vier Stunden Schlaf. Ich hätte mir nichts besseres vorstellen können, als jetzt abzuziehen und einfach nach hause zu gehen, den Rest den anderen Herzögen zu überlassen und meine erschöpften Muskeln auszuruhen. Und ich war noch jung, Anfang 20, mein Vater war Anfang 40 und deutlich länger auf den Beinen gewesen als ich - wie musste er sich dann erst gefühlt haben? Aber er hat seine Truppen nicht abgezogen, nur seine Kavalleristen. 10 Kompanien hatten wir übrig, ein Bruchteil von dem, was uns am Anfang zur Verfügung gestanden hatte. Er hat sie von den Flanken abgezogen und aufgeteilt: Fünf Kompanien unter seinen Befehl, fünf unter meinen. Ich kann mich noch an jedes Wort erinnern, das er damals zu mir gesagt hat.
      Das Lächeln war wieder da und diesmal war es brüchig, kaum überzeugend genug, um glücklich zu wirken.
      Er hat mir genau erklärt, was er beabsichtigte und ich habe ihm im Gegenzug gesagt, dass es angenehmere Wege gibt, Selbstmord zu begehen. Das hatte ihn wütend gemacht. Ich hatte damals geglaubt, dass er sich in seiner Ehre gekränkt gefühlt hatte, dass ich ihm widersprochen habe, aber später, Jahre später, als ich erst begriffen hatte, was sein genauer Plan gewesen war, habe ich auch begriffen, dass ich genau einen Nerv getroffen hatte. Mein Vater war niemals der zornige Typ, musst du wissen, eher der nachdenkliche Typ. Wenn ihn etwas aufregt, möchte er es erst analysieren, bevor er eine Emotion hervorlässt. Ich habe ihn nur sehr selten zornig erlebt und das war ein Mal davon. Er hat mir gesagt, dass ich meine Einwände für später aufheben solle und dass es von aller Wichtigkeit war, dass ich ihn verstanden habe. Ich habe ihm gesagt, dass ich niemals an ihm zweifeln würde und dass er sich auf mich verlassen könnte, ich habe ihm mein Wort dazu gegeben. Das war das letzte, was ich jemals zu ihm gesagt habe.
      Für einen Moment war er jetzt dabei, die Karte zu verschieben, um auf der Landeskarte darunter Thurin zu kennzeichnen und die Lage der Armeen. Er musste beide Hände verwenden, um das Manöver zu veranschaulichen.
      Die beiden Kavallerie-Einheiten sind zu beiden Seiten hinter unserer Armee ausgeschwärmt, was womöglich anfangs noch ausgesehen hatte wie ein äußerst beherzter Rückzug. Das Manöver war deshalb dem Selbstmord gefährdet, weil beide Gegner zusammen schon beinahe dreimal so viel waren wie unsere Truppen am Boden und unsere kleinen Kavalleristen konnten kaum mehr bewerkstelligen, als ein bisschen Ärger an den Seiten zu verursachen. Aber ich habe meinem Vater und seinem Plan vertraut, bis zur letzten Sekunde. Ich habe nicht ein Mal an ihm gezweifelt.
      Wir haben einen Bogen beschrieben und sind seitlich zum Schlachtfeld geritten, auf die Höhe unserer Feinde und darüber hinaus. Ich glaube, es war ein Zehn-Minuten-Ritt, nicht lange bei der gegnerischen Armee, die jetzt trotz des Verbündeten noch immer kleiner war als am Anfang, aber ich dachte, dass ich den ganzen Tag geritten bin, immerzu vorbei an Reihen aus Feinden, die zwar ein ganzes Stück weit weg waren, aber die irgendwann eine Grenze zwischen mir und meinen eigenen Leuten bilden würden. Die ersten Pfeile sind auch schon auf uns niedergegangen und hätte mir in diesem Augenblick jemand erklärt, dass ich schon längst gestorben war und jetzt im Fegefeuer die letzten Augenblicke meines Lebens immer und immer wieder durchleben müsste, hätte ich es ihm anstandslos geglaubt. Ich war überzeugt davon, verloren zu sein. Fünf Kompanien aus Kavalleristen auf meinem Gewissen und zu weit von heimischem Gebiet entfernt, um einen angemessenen Rückzug zu machen. Ich habe meinen Vater verflucht.
      Wieder ein brüchiges Lächeln.
      ...
    • ...
      Vielleicht ein wenig zu überzeugt, dafür, dass er ja tatsächlich später gestorben ist. Aber genug davon.
      Wir hatten ungefähr die Mitte der Armee erreicht, als ich das Zeichen gab, um unsere Keilformation aufzudröseln und in standardmäßige Zweierreihen zu verwandeln. Meine Reiter sind dem Befehl nachgekommen, die Götter mögen sie auf ewig selig halten. Wir haben unsere Linie verdünnt und dann, als ich mit der Front weit genug hinten war, sind wir in die Länge ihrer Flanke eingefallen. Du erinnerst dich an die Aussage meines Hauptmanns, wie gruselig es sein kann, einen Reiter auf dich zustürmen zu sehen? Ich kann dir versichern, dass es noch viel grauenhafter ist, eine ganze Reihe auf dich zukommen zu sehen, mit ihren zerkratzten und blutigen Rüstungen und einem schier unermüdlichen Drang nach deinem Leben. Die Thagoraner haben auch gedacht, dass wir Selbstmord begehen wollen. Aber das ist die Sache daran: Ein Soldat, der sich nicht vor dem Tod fürchtet, hat nichts mehr zu verlieren.
      Wir sind eingefallen, sind dann aber gleich wieder zurückgewichen. Die Flanken haben sich schon nach uns ausgerichtet, die Schilder aufgestellt, die Speere gezückt und mein Vater hatte mir deutlich gesagt, dass wir in jedem Fall in Bewegung bleiben sollten - nur immer bewegen, niemals stehenbleiben und kämpfen, denn dann wären wir wirklich verloren gewesen. Nur immer galoppieren, nicht langsamer werden. Das hat er gesagt und daran haben wir uns gehalten.
      Wir sind herangekommen, haben ein paar Speerspitzen abgeschlagen, ein bisschen nach den Schildern gestoßen und sind wieder weg, außerhalb der Reichweite. Wieder ran, Speere zerschlagen, weg. Ran, wieder weg. Die Bogenschützen hatten schon längst aufgehört, auf uns zu schießen, weil sie sonst auch ihre eigenen Männer getroffen hätten. Stattdessen haben die hinteren Reihen angefangen, sich zur Seite hinaus zu bewegen. Darauf hatten wir gewartet.

      Wir sind wieder weg und haben uns diesmal mit einem Bogen der Rückseite der Armee genähert, den Soldaten, die gerade noch zur Seite ausschwärmen wollten. Sie mussten sich wieder zurückdrängen und haben uns den Weg versperrt, aber wir haben erreicht, was wir wollten: Verwirrung stiften. Mittlerweile war nämlich die Flanke nach uns ausgeschwärmt, weil sie dachten, wir würden in die geöffnete Rückseite einfallen und auch noch siegen. Dadurch konnten wir tatsächlich ein paar Soldaten umbringen, bevor die Seite sich wieder ordentlich formatiert hatte. In der Zwischenzeit hatte das Manöver allerdings den gewünschten Effekt an der Front, wie ich Jahre später erst begriffen habe, denn die Verstärkungsreihen wichen nach hinten zurück, um die Lücken zu füllen, und Meriah trieb dafür nach vorne ein. Sie schlug einen Keil in die Angriffslinie und ließ ihre Soldaten sich aufstellen. Sie verhinderte, dass die Armee in ihre Ausgangsposition zurückkam.

      Was dann folgte, war unser endgültiges Ende. Die gegnerische Armee gab ihre Formation auf, spaltete sich und schwärmte in Einzelteilen aus. Sie wollten den Schwachpunkt unserer eigenen ungeschützten Seiten ausnutzen und unsere Armee an der Festung einkreisen, um sie endgültig zu zerschlagen. Sie ignorierten uns Kavalleristen und obwohl wir noch ein paar wegholen konnten, kehrten sie unserer winzigen Streitmacht den Rücken zu.
      Ich kann dir nicht genau sagen, was dann geschehen ist. Ich habe das Banner meines Vaters fallen sehen, der das Unglück gehabt hatte, an der belgradschen Seite der Armee einzufallen, deren Soldaten kräftiger und ausgeschlafener waren. Ich habe im ersten Moment gar nicht begriffen, was das bedeutete, ich habe nur gewusst, meiner Pflicht nachzugehen. Ich habe unsere Einheiten zusammengetrommelt und von der Armee weggetrieben, damit sie nicht sinnlos geopfert werden würden. Dann habe ich mir eine Sekunde genommen, um das Schlachtfeld zu überblicken.

      Die Herzöge unserer Festung gaben mittlerweile ihre Posten auf und verließen den Schutz der Mauern, zweifellos für einen Rückzug. Ich weiß nicht, wessen dumme Idee es gewesen war, denn mit dieser Strategie wandten sie der Armee den Rücken zu und hätten nur ein paar Minuten Vorsprung gehabt, ehe der Rest der Therisser an der Front vernichtet und die Armee ihnen gefolgt wäre. Ich habe es auch nie herausgefunden und in diesem einen Moment war es mir auch egal. Ich habe mich lediglich gefragt, wie ich den Plan meines Vaters vollenden konnte.
      Wir waren auf der Rückseite der feindlichen Armee, mittlerweile unbeachtet, nachdem wir sowieso keine große Gefahr darstellten. Ich wusste, dass wir vielleicht ein paar Bogenschützen-Truppen vernichten konnten, aber das würde unserer Armee nicht helfen und für die Front waren wir zu wenige. Ich habe also meine paar Einheiten formieren lassen und dann habe ich einen Boten ausgesandt, um den Rest der Armee zu erreichen, der wohl den Rückzug geplant hatte. Mein Plan war dürftig, aber zu dem Zeitpunkt war ich gedanklich schon drei Mal gestorben und damit einverstanden, dass es jetzt auch endlich soweit sein konnte. Ich hatte abgeschlossen. Meinen Kumpanen nach zu schließen, die die Situation ähnlich erfassen mussten wie ich, hatten sie auch schon ihren Frieden gemacht.
      Wir haben uns also wieder formiert, eine Einheit dieses Mal, nicht mehr zwei Teile. V-Formation, ordentliche Reihe, an den Spitzen verstärkt. Ich ritt vorne - nenn mich altmodisch, aber ich wollte sterben wie mein Vater. Ich wollte mich nicht hinter Soldaten verstecken, ich wollte meinem Gegner in die Augen sehen und ihn wissen lassen, dass ich ihn mit in den Tod reißen würde. Ich wollte ein letztes Mal glänzen und diesen Erfolg mit ins Grab nehmen.
      Wir ritten von hinten an sie heran, geradewegs in die Bogenschützen hinein. Nenn es Glück, dass wir sie überrannt haben - ich bin davon überzeugt, dass es pures Glück gewesen war. Wir sind in ihre Schützen eingefallen, haben sie durch unsere Formation eingekreist, abgeschottet, abgeschlachtet. Viele haben Fahnenflucht begannen. Unterschätze niemals den Anblick eines berittenen Soldaten, der sich nicht mehr vor dem Tod fürchtet, nicht wahr? Erst recht nicht, wenn er zwischen dir und deiner Streitmacht steht. Es war weiteres Glück, dass unsere Pferde so lange überlebt haben.
      Nach den Bogenschützen sind wir in die thagoranische Seite eingefallen, haben wieder angetäuscht, sind weggeritten, wieder heran, wieder weg. Hier haben wir fast die Hälfte der Reiter verloren und ich war, um ein weiteres Mal, sicher sterben zu müssen. Heranreiten und wieder weg, das ist ein gefährliches Manöver, weil man zu unsicher im Sattel sitzt, um sich bei einer anderen plötzlichen Bewegung halten zu können, aber ich habe mir wohl nicht umsonst den Ruf verdient, durch keinen Speer der Welt aus dem Sattel befördert werden zu können. Dennoch haben wir die Taktik irgendwann aufgegeben, nicht zuletzt wegen der Pferde. Danach sind wir alles daran gesetzt und sind mitten rein gestürmt.

      Ich hatte gerade zwei Soldaten geköpft und ein paar mehr über den Haufen geritten, da ist mein Pferd unter mir eingeknickt und hat mich abgeworfen. Ich habe mich abgerollt, so wie es uns seit jeher beigebracht wird, und habe mich zu Fuß dem Feind gestellt. Vor mir, hinter mir, neben mir gab es nichts, als die monotonen, grauen Rüstungen und Waffen, die nach mir schlugen. Den Helm verlor ich bald und die Lücken meiner Rüstung blieben auch nicht verschont. Ich hatte mir aber fest vorgenommen weiterzukämpfen, bis der letzte Atem aus meiner Lunge verbannt wäre und das hat man mir womöglich auch angesehen. Ein paar wollten sich nicht mit mir befassen, andere wollten mich mit ihren Schilden in eine Zwangslage bringen. Ich glaube, keiner von ihnen wusste, dass ich zu diesem Zeitpunkt meine Glieder schon nicht mehr spüren konnte. Wenn sich nur einer die Mühe gemacht hätte, mich ordentlich zu parieren, wäre es wirklich aus gewesen.
      Aber als ich mich dann umdrehte, weil ich gegen meinen Hintermann gestoßen und dem unausweichlichen Schlag ausweichen wollte, erkannte ich heimische Rüstung und Kerellins Wappen. Ich hatte mich bis zu unserer eigenen Front durchgeschlagen und Meriah musste es bemerkt haben, denn sie hatte ihre Soldaten geballt auf meine Position geschickt und jetzt drangen sie hinter mir in die Schneise ein, die ich geschlagen hatte. Ab diesem Zeitpunkt kann ich dir nicht mehr aus erster Sicht erzählen, was passiert ist, denn ich bin über irgendeine Leiche gestolpert, zu Boden gefallen und konnte schlichtweg nicht mehr aufstehen. Von allen anderen habe ich allerdings erfahren, dass Kerellin mit ihrem Ausfall die Angriffswelle dämmen konnte und Herzog Tiumus dem Aufruf meines Boten nachgekommen und mit seinen spärlichen Truppen hinter dem Einschlagsort meiner Kavalleristen nachgezogen und eingefallen ist. Damit konnten wir zwar noch lange nicht gewinnen, aber wir konnten die Bewegung der Schlacht zu einem gewissen Halt bringen, sodass sich die ersten unserer Truppen in die Festung zurückziehen konnten. Die anderen beiden Herzöge hatten sich unlängst dazu entschlossen, das Weite zu suchen, aber Riev und Tiumus hielten die Stellung, bis von der Festung wieder die ersten Salven geschossen wurden. Ich habe mich auch wieder angeschlossen, nachdem man mich ein Stück zurückgezogen und mir genug Schutz geboten hatte, damit ich wenigstens aufstehen und mir das nächste herrenlose Pferd suchen konnte. Ich kämpfte zwar nicht mehr, aber ich ritt hinter der Front umher und verschaffte uns den Überblick, den wir alle benötigten, um die Front nicht einbrechen zu lassen. Schließlich flüchteten wir in die Festung und bombardierten die einbrechende Armee mit dem letzten Rest an Munition, die uns zur Verfügung stand. Lange mussten wir uns aber sowieso nicht damit aufhalten, denn die belgradsche Armee schien sich dazu entschlossen zu haben, dass es keinen Sinn machte, die eigenen Soldaten für eine fremde Sache zu opfern. Sie zogen sich zurück, um offensichtlich mit den Thagoranern über den weiteren Verlauf zu diskutieren und wir flohen in der Dunkelheit der Nacht aus einer halbbelagerten Festung. Zwei Tage verbrachten wir in den Tunneln von Thurin, die uns zur Freiheit führten, und als wir wieder heraus kamen, blieb ich eigenmächtig zurück, um die Bewegung der Armee zu verfolgen. Aber sie kam nie in unsere Richtung, sondern plünderte die Festung und zog dann ab. 150 Kavalleristen waren es damals, die mit mir zurückblieben; der letzte klägliche Rest einer 10.000-köpfigen Macht. Ich habe alle ihre Namen auswendig gelernt, ich kenne sie heute noch.
      Er beendete seine Erzählung, indem er sich schlussendlich aufrichtete, den Tisch wieder umrundete und dann auf seinen Stuhl fallen ließ, als hätte ihn der Gedanke an die Schlacht mindestens genauso sehr erschöpft wie die Schlacht selbst.
      Ich habe irgendwann begriffen, dass mein Vater sich Meriahs Rachedurst zu nutze machen wollte und die Konzentration der Gegner an der Front aufbrechen wollte. Er war bereit, seine kostbaren Reiter zum Wohle seiner Verbündeten zu opfern und er schickte mich auf die thagoranische Seite, um sich allein den Belgrads zu stellen, gegen die seine erschöpften Truppen wenig auszusetzen hatten. Ich habe viel über alternative Manöver nachgedacht und es ist mir auch selbst klar geworden, dass es nicht die beste Idee war, um etwas zu bewirken; aber es war das beste, was er mit ein paar Stunden Schlaf, einem ganzen Tag der Schlacht und einer scheins ausweglosen Situation hervorbringen konnte. Und selbst das war wohl letzten Endes noch besser als so manch anderer Kriegsplan.
      Zumindest sind wir damit wohl bekannt geworden als das Land, das sich gegen zwei Armeen auf einmal behaupten kann. Ich möchte mir nicht vorstellen was gewesen wäre, wenn Belgrad seinen Champion mitgebracht hätte. Die Götter haben uns wohl davor geschützt, dass der Vertrag mit Thagor eine derartige Klausel beinhaltete.
    • Nach zwei Anläufen war es endlich soweit, dass man Kassandra die Schlacht von Thurin erläuterte. Während der gesamten Berichtserstattung des amtierenden Herzoges lauschte die Phönixin ein jedem seiner Worte und verfolgte mit ihren Augen aufmerksam die Gestiken, die die Manöver auf der Karte verdeutlichten. Immer wieder steckte sie sich ein Stück Obst oder eine Nuss in den Mund und unterbrach ihn kein einziges Mal bei seiner Berichtserstattung.
      Auch sie kannte Völker, die anhand Musik untereinander kommunizierten. Es war ein Faktor, der wahrlich viel Training in Anspruch nahm wenn man seine Armee nur mit diesen Signalen lenken wollte. Verstanden die Angehörigen die Signale nicht recht, dann war das Chaos weitaus schlimmer als in jeder anderen gut sortierten Armee. Aber wenn alles funktionierte, dann war der Überraschungsfaktor gegenüber dem Feind ein massiver Vorteil. Der Gegner konnte die Signale nicht deuten und das machte die eigene Streitkraft umso unvorhersehbarer.
      "Ich bin erstaunt, dass du die Hergänge noch dermaßen detailliert weißt", gab Kassandra mit einem anerkennenden Nicken zu und richtete sich aus ihrer lungernden Haltung auf. "Aber man bekommt ein sehr gutes Bild, wie es gewesen sein musste. Selbst als göttliches Wesen klingt diese Schlacht sehr eindrucksvoll und es tut mir leid um deinen Vater. Ich stimme dir zu, dass man manche Manöver erst richtig verstehen kann, wenn man aus der Situation gelöst ist und sie neutraler rekapitulieren kann. Schon erstaunlich... 150 Mann statt 10.000..."
      Eine Zahl, die sich sehr gut in ihren Erinnerungen eingebrannt hatte. Aus der Luft hatte sie etliche Massen an menschlichen Leibern in Kriegen zuschauen können und ein Gefühl dafür entwickelt, wie die Anzahl in der Realität aussah. Die Menschen bewegten sich in einer homogenen Masse vorwärts, wie eine Welle, und je nach Streitführer sahen die Befehle von oben noch eindrucksvoller aus.
      "Die andere Seite besß einen Champion? Dann war es grobfahrlässig, ihn nicht einzusetzen...", dachte sie laut nach und warf Zoras einen nachdenklichen Blick zu. "Dein Vater war aber ein kluger Mann. Hat seinen Sohn gezielt eingesetzt aber so platziert, dass die Führungsreihenfolge aufrecht blieb, sollte er fallen. Sehr durchdacht."
      Gemächlich erhob sich Kassandra, um einen Blick von oben auf die Karte zu werfen. Sie überflog die neu aufgeschlagene Rolle flüchtig und bemerkte für sich selbst, dass sie in diesen Kreisen nur selten zugegen gewesen war. Viele der Schlachten hatte sie nur am Rande mitbekommen, wenn überhaupt. Der Zwischenfall mit den Schwarzen Feuern war einer der wenigen gewesen, wo sie aktiv beteiligt gewesen war.
      Doch darüber verlor sie keinen weiteren Gedanken. Stattdessen umrundete sie wie Zoras vor ein paar Sekunden ebenfalls den Tisch bis sie wieder an seiner Steite stand, nur dieses Mal konnte sie auf ihn herab blicken. Das tat sie nur beiläufig ehe sie sich dazu entschied, dem Tisch den Rücken zu kehren und sich plakativ auf die Tischplatte schräg vor Zoras zu setzen. So waren die Verhältnisse beinahe wieder ausgeglichen. Einen Augenblick lang musterte sie den Mann vor sich, den der Bericht scheinbar ermüdet hatte. Dann streckte sie fordernd die linke Hand aus mit der geöffneten Hand. "Gib mir deine Hand."
      Er tat wonach sie fragte und sie schloss ihre Finger mit einer erstaunlichen Endgültigkeit um seine größere, raue Hand. Dann fasste sie mit ihrer anderen Hand nach dem Saum seines Ärmels und schob den Stoff bis zu seinem Ellbogen zurück. Noch während sie ihre Hand zu sich zurückzog glitten ihre Finger über seinen Unterarm und ertasteten jede Erhebung, die keinen natürlichen Ursprung hatte.
      "Durchaus erstaunlich wie wenig dauerhafte Verletzungen du davongetragen hast. Ich kenne etliche Menschen, die mindestens eine Hand in solchen Gefechten gelassen haben und du besitzt sogar noch alle Finger. Inmitten einer schier unendlichen Masse von Feinden zu stehen, die alle auf dich einhacken, muss grausam gewesen sein."
      Vielleicht so grausam wie...
      Ein vages Lächeln umspielte ihre Lippen während sie weiterhin Zoras' Hand festhielt und seinen Arm befühlte.
      "Du willst meine Blamage gegenüber einem Gott erfahren? Bitte, erzähle ich dir gerne. Ich weiß nicht mehr genau zu welcher Zeit es war oder wie die Völer damals hießen. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind recht verwaschen. Man hatte mich in eine dunkle Kammer verbannt, unsicher darüber, zu welchen Taten ich fähig sei. Das ging... Jahre so, denke ich. Irgendwann wurde das Volk scheinbar angegriffen oder rief selbst den Kriegszustand aus, ich weiß es nicht wirklich. Nur, dass die Türen aufgingen und ich auf das Schlachtfeld beordert wurde. Ich wusste nicht, welche Seite die meine war und so schlug ich die Reihen einerlei ein. Bis mir mein damaliger Träger befahl, den gegenerischen Champion unter allen Umständen zu fällen. Sein Entschluss war dermaßen stark, dass er mich damit nach vorne trieb und ich schließlich in dem Chaos eben jenen Gott ausmachen konnte. So wie du auf deinem Pferd in deine Gegner gerast bist, tat ich es bei diesem Gott. Als er mich sah war er verwirrt weil wir beide wussten, wer den kürzeren ziehen würde."
      Sie zuckte kurz mit den Schultern als sie seinen Arm drehte und die andere Seite begutachtete.
      "Er war ein Kriegsgott, für den Ehre alles war. Ich kenne nicht den Umstand, der ihn auf die Erde geholt hatte aber Bishamonten war ein herausragender Krieger. So war es ein Kinderspiel für ihn mich zu stellen und mir erst den einen, dann den anderen Arm abzuschlagen. Er wies mich an, mich zurückzuziehen, aber ich konnte es nicht. Der Zwang war zu groß, sodass ich mich vermutlich auch ohne Arme über den Boden zu ihm geschoben hätte. Als er dies erkannte, wollte er mir den Kopf abschlagen und dem Elend ein Ende setzen. Das ungefähr war der Punkt, an dem meine Erinnerungen aussetzen. Offensichtlich hat er mir nicht den Kopf abgeschlagen, doch als ich das nächste Mal wieder zu mir kam war ich in der Gestalt eines 6-jährigen Mädchens in einem völlig fremden Land und Zeitraum. Ich bin wiedergeboren worden ohne es wirklich mitbekommen zu haben."
      Als Kassandra genug untersucht hatte, gab sie Zoras Hand endlich frei, blieb aber auf der Tischplatte sitzen und sah ihn an. War sie nun weniger wert in seinen Augen, da sie gegen einen namenhaften Gott verloren hatte? Dass sie nicht so übermächtig war, wie es zunächst den Anschein hatte?

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Wieder in der Gegenwart angekommen, richtete Zoras sich auf und betrachtete Kassandra, die sich von ihrem Stuhl erhob und um den Tisch herum auf ihn zukam. Es beflügelte ihn auf eine unverschämte Art und Weise aus ihrem Mund zu hören, was für ein beachtliches Ereignis es gewesen war. Lag es daran, dass er gehofft hatte, eine ähnliche Bemerkung aus ihrem Mund zu hören? Oder dass sie schlichtweg eine Phönixin war, eine Göttin, die sich von einer irdischen Schlacht beeindrucken ließ? Er konnte nicht den Finger darauf legen. Vermutlich war es von beidem ein bisschen.
      Was auch immer es letzten Endes war, das Gefühl verstärkte sich ein wenig, als Kassandra zu ihm kam und sich auf den Tisch bei ihm setzte. Es war erstaunlich einfach, sich von den Karten und den Erinnerungen der Schlacht loszureißen und stattdessen in die dunklen Augen der Phönixin zu blicken, die mit einer gewissen Offenheit auf ihm lagen. Noch einfacher war es, ihrer Aufforderung nachzukommen und seine Hand nach ihr auszustrecken. Es war wie selbstverständlich, dass ihre Hände sich ineinander legten, als hätte es nie Zweifel daran gegeben, dass sie genau dafür geschaffen waren. Es machte alles, die Schlacht, die Karten, die Erinnerungen, noch ein Stück weiter weg, während sich die Gegenwart zusehends in den Vordergrund schob.
      Zoras spürte Kassandras Berührung, wandte den Blick aber nicht von ihren Augen ab. Es kitzelte leicht, als ihre Finger seinen Arm entlang fuhren und ein paar der Härchen stellten sich auf. Er konnte sich nicht dazu durchringen, den Augenkontakt zu brechen, aus Angst, dass dann noch etwas anderes verschwinden gehen könnte.
      Lächeln konnte er dennoch, besonders auf ihre Aussage hin.
      "Ich hatte eine ausgezeichnete Rüstung, schätze ich. Und Glück, unverschämtes Glück."
      Seine Mimik wurde erwidert, aber etwas an Kassandras Gesichtsausdruck saß nicht richtig. Der Grund dafür lag in ihrer eigenen, folgenden Erzählung.
      Zum ersten Mal seit ihrer Bekanntschaft wurde Zoras erst die Ausmaße eines Trägerwunsches bewusst, wenn er stark genug war, um den Champion zu einem Handeln zu zwingen. Sicher, Kassandra hatte schon von Anfang an klargemacht, dass ein solch starker Wunsch sie regelrecht zur Handlung zwang, aber dass es selbst beinhaltete, sich in den Tod zu stürzen, hatte er nicht bedacht. Es erschreckte ihn nicht wenig, nicht auch zuletzt, weil dieser Vorfall nur einer von sicherlich vielen in Kassandras langem Leben gewesen war, ein Zwang von vielen, dem sie sich ihrer eigenen Gesundheit zum Trotz gefügt hatte. Jetzt erkannte er erst, was für eine Macht ein Träger über seinen Champion hatte und er konnte nicht sagen, dass es ihm sonderlich gefiel. Es schmerzte ihm in der Brust.
      Als sie mit der albtraumhaften Schilderung ihrer Niederlage geendet hatte, ließ sie seine Hand frei und er zog sie nur zögerlich wieder zurück. Sein Blick hatte den ihren nicht verlassen, nicht vorhin und auch jetzt nicht.
      "Das ist furchtbar, Kassandra. Dein Träger war ein dummer Mann, ein außerordentlich einfältiger und dummer Mann. Gab es keine Chance für dich, dem Zwang in… anderer Weise nachzugeben? Keine Möglichkeit, Bishamonten zu umgehen?"
      Leider konnte er sich viel zu lebhaft vorstellen, wie Kassandra erst den einen, dann den anderen Arm bei dem Versuch abgeben musste, gegen einen wahrhaftigen Kriegsgott zu bestehen, der nicht nur stärker, sondern im Kampf schlichtweg viel erfahrener war. Zoras wusste mit absoluter Überzeugung, dass er sie in keine auch nur annähernde Lage bringen wollte. Wie könnte er auch? Wie könnte irgendjemand in Kassandras makelloses Gesicht blicken und sich wünschen, sie in ihren Tod zu schicken?
      Es benötigte ihn keinerlei Überwindungskraft die Hand wieder nach ihr auszustrecken und ihre zu fassen. Er drückte sie leicht aber bestimmt, ihre Blicke lagen weiterhin aufeinander.
      "Ich gebe dir mein Wort, dass ich keine solche Dummheit begehen werde. Wir werden den Aufstand nach dem Vorbild meines Vaters führen und nach keinem Idioten, hm? Du wirst hier gegen keinen Champion antreten müssen, niemals - nicht solange ich es verhindern kann."
      Er trat ein Stück näher, aber nicht viel.
      "Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es sein muss, beide Arme zu verlieren und weiterzuleben. Ich werde dir nichts versprechen können, aber soweit es meine Macht zulässt, werde ich dich keiner solcher Situation aussetzen. Du hast lange und oft genug gelitten, langsam muss das ein Ende haben."
      Er zog ihre Hand ein wenig in seine Richtung.
      "Und es wird ein Ende haben, das verspreche ich. Und wenn es das letzte ist, was ich tun werde."
      Dann hob er ihre Hand zu seinen Lippen und verharrte kurz davor.
      "Darf ich?"
    • Ob Zoras wirklich nur unverschämtes Glück gehabt hatte, konnten nur die jeweiligen Götter sicher bestimmen. Viel wahrscheinlicher war es jedoch, dass die Meuren ihre Finger im Spiel hatten und die Fäden des Schicksals so sponnen, dass sich sein Weg bis hierher erstreckte. Ihr Aufeinandertreffen war vielleicht ebenso ein Knoten in diesem Geflecht wie die Niederlage, auf die der Herzog hinarbeitete.
      "Er war weder dumm noch einfältig fürchte ich. Er hat wie du auch sein Volk geführt und sah sich dem Untergang gegenüber. Natürlich greift man dann zum letzten Strohhalm, den man hat. Und im Angesicht des Todes war er dermaßen entschlossen, dass sein Wille mich einfach übermannt hat", erwiderte Kassandra nüchtern, die das Handeln nicht unbedingt rechtfertigen wollte, die Beweggründe dahinter aber durchaus verstand. "Es war mehreren Faktoren geschuldet, dass ich mich wohl nicht hatte entziehen können. Nach Jahren habe ich das erste Mal wieder freien Himmel über dem Kopf. Das Getose des Schlacht war alles, was ich hören konnte. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr ganz genau, was es zusätzlich war..."
      Ihre Stirn legte sich in leichte Falten als sie versuchte sich an die genauen Umstände zu erinnern. Viel war davon nicht mehr vorhanden, der Großteil ihrer Erinnerungen kurz vor ihrer Reinkarnation waren in einen Nebel gehüllt, der nur schwierig zu lüften war. Sie wurde aus ihrer Nachdenklichkeit gerissen als Zoras seine Hand von sich aus nach ihr ausstreckte. Nun lag ihre Hand in der seinen und ihr leicht abwesend erscheinender Blick lag nun wieder vollkommen klar auf dem Mann ihr gegenüber. Ihre Augen wurden sogar unmerklich etwas heller als er ihr verkündete, dass ihr Leid endlich ein Ende finden sollte. Wie sollte sie ihm begreiflich machen, dass er es schlichtweg nicht konnte? Er war nicht in der Lage, die Tore zum Götterhimmel wieder zu öffnen. DIe Verbannung aufzuheben. Denn nur dann wäre sie wieder dort, wo sie ihren Ursprung hatte.
      Bereitwillig ließ sie zu, dass er ihre Hand etwas zu sich zog und sie schließlich wieder vor seinen Lippen hielt. Die erneute Frage nach Erlaubnis ließ sie unweigerlich schmunzeln weil sie sich an den Vormittag erinnert fühlte. Der Mann war wahrlich obssesiv auf Hände fokussiert, wie es schien... Doch sie nickte und gewährte ihm, ihren Handrücken zu küssen.
      "Wieso eigentlich fragst du, ob du meine Hand küssen darfst? Ich habe dir das vor Stunden doch schon gestattet. Da werde ich doch nicht plötzlich meine Meinung ändern, oder?"
      Es entstand ein kurzer Moment der Stille in dem Kassandra einfach zusah, wie sich Zoras' Lippen ein weiteres Mal auf ihren Handrücken legte und die sanfte Berührung etwas war, was sie schon länger nicht mehr so wahrgenommen hatte. Wenn sie es recht bedachte, dann hatte sie anderen Male einfach nicht so bewusst erlebt. Das amüsierte Lächeln bekam zarte Risse als die Atmosphäre sich ein weiteres Mal zu wandeln schien.
      "Was....", sie räusperte sich tatsächlich, um ihre leicht trocken gewordene Kehle zu befeuchten, "Was hast du denn noch Wunderbares an deinem vorerst freien Tag geplant? Elive hat deinen Plan ja ein wenig torpediert und ich schwöre feierlich, dass ich sie eigenmächtig aus dem Zimmer werfe, sollte sie noch ein Mal mit Belanglosigkeiten hier reinplatzen."

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"