In his Thrall [Codren feat. Pumi]

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    • Vincent bedankte sich überschwänglich bei Nora für das gute Mittagessen. Normalerweise stand sie nicht in der Küche, das sagte jedoch nichts über ihre Kochkünste aus. Nora wusste, was da anstellte.
      Vincent ließ sich in seinen Stuhl am Kopfende des Tisches sinken und betrachtete das Festmahl, das ihm seine langjährige Haushälterin bereitet hatte. Was für eine Schande, dass all diese Köstlichkeiten für ihn nach nichts schmecken würden. Ihm wurde fast schon schlecht bei dem Anblick. Dennoch bediene sich Vincent, wie jeder Mann mit gesundem Appetit es tun würde.
      Und dann geschah es. Thomas ließ sein Messer fallen und griff ungebremst in die gut geschärfte Klinge. Vincent konnte das Blut des Mannes riechen, bevor dieser den Schnitt überhaupt wahrgenommen hatte. Mit äußerster Mühe schaffte es Vincent, ein Knurren zu unterdrücken und sitzen zu bleiben. Aber mehr auch nicht. Er starrte Thomas Hand an, alles andere verschwamm um ihn herum. In seinem Kopf gab es nur einen einzigen Gedanken: Friss.
      Nora kam sofort herangeeilt, ein neues Messer und ein sauberes Geschirrtuch in der Hand. Letzteres wickelte sie sofort um Thomas' Hand mit der geübten Genauigkeit von jemandem, der schon dutzende Haushaltsunfälle erstversorgt hatte. Dabei platzierte sie sich gezielt zwischen Vincent und Thomas, der momentan ausschließlich Beute war, egal was sie gestern getan hatten, egal was sie vor zwei Wochen getan hatten. Nora wusste selbst, wie lange Vincent schon heute schon hungerte. Sie wusste, dass es schlimmer war, als es sein sollte, weil er darauf bestanden hatte, sich gestern noch um sie zu kümmern. Den ganzen Tag schon hatte sie auf eine Gelegenheit gewartet, ihm wenigstens ein kleines Glas Schweineblut zukommen zu lassen.
      "Kommen Sie," sagte sie. "In der Küche haben wir Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel. Lebensmittel machen sich ja bekanntlich nicht besonders gut in offenen Wunden."
      Lächelnd begleitete sie Thomas in die Küche, weg von Vincent, weg von dem Raubtier, das nur auf eine Chance wartete, zuzuschlagen. Vincent war ihr äußerst dankbar dafür. Zumindest der Teil von ihm, der noch klar denken konnte. Er war so hungrig...
    • Nora kam sogleich herangeeilt, die geschäftige Haushälterin, die sich Thomas' Unfall annahm. Er beobachtete aus reiner Gewohnheit, wie sie ihm das Geschirrtuch ungefragt umwickelte, aufmerksam in seiner Beobachtung, um sie im Zweifel korrigieren zu können. Der Arzt in ihm fühlte sich ein wenig in seinem Stolz gekränkt, dass er diese minimale Verletzung jemand anderen behandeln ließ, aber Nora hatte gar nicht erst gefragt und daher widersprach er auch nicht. Besonders nicht bei der Aussicht auf Desinfektionsmittel.
      "Danke."
      Er stand auf, warf dabei einen Blick auf Vincent, der äußerst still geworden war, allerdings versperrte ihm Noras Kopf die Sicht. Er beeilte sich in die Küche zu kommen, um das Essen nicht weiter aufzuhalten. Nora war dabei äußerst flink, ihm den Schnitt zu reinigen und dann den Verband anzulegen, selbst Thomas hatte dabei nichts auszusetzen.
      "Danke; ich fürchte, Sie werden mir wohl das Fleisch schneiden müssen. Wären Sie wohl so freundlich?"
      Natürlich war sie das, hilfsbereit wie sie war. Sie kam mit ihm zurück an den Tisch und machte sich gleich daran, während Thomas einen Blick auf Vincent erhaschte. Der blondhaarige Mann wirkte irgendwie verändert, wenngleich Thomas es nicht ganz beschreiben konnte. Vielleicht wirkte sein Blick ein wenig starr oder er war etwas bleicher geworden, allerdings war es ein Anblick, der in Thomas unerklärlicherweise die Alarmglocken losgehen ließ. Er spürte sein Herz an Fahrt aufnehmen, bereit dazu Adrenalin durch sein Blut zu pumpen, eine Reaktion, die gänzlich nicht in diese Situation passte. Er dämpfte es ein wenig und musste sich darüber ärgern, wie paranoid er auf einmal war.
      "Vincent, geht es dir gut? Du siehst ein wenig blass aus."
    • Der Geruch nach Blut folgte Thomas in die Küche, aber er verschwand nicht. Vincent wusste genau, wo sich der eine Tropfen gerade in den Teppich hineinfraß, auf dem der Esstisch stand, wo er die Fasern rot einfärbte, wo das Blut bereits begonnen hatte zu gerinnen. Er konnte die Zellen darin sterben hören, so hungrig war er. Wie hypnotisiert lauschte er dem Sirenengesang des Blutes.
      Der Zauber wurde gebrochen, als Nora und Thomas zurückkehrten. Der Erbe der Van Helsings roch nun eher nach Desinfektionsmittel denn nach Blut, was gut war. Nora machte sich gleich daran, ihm mit seinem Essen zu helfen, auf dass er sich nicht noch weiter verletzte - und das Monster im Raum noch weiter in Versuchung führte.
      "Was? Oh. Ja. Ich äh..." Vincent lachte verlegen und senkte den Blick. "Ich bin ein bisschen... naja... Blut ist... eine Schwachstelle? Ich ähm..."
      Vincent räusperte sich, lachte verlegen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie man charmant war. Wie man Sätze formte. Das Monster knurrte ihm noch immer ins Ohr, verlangte nach Futter.
      "Ich bin ein bisschen empfindlich, was das angeht. Der Anblick..."
      Vincent atmete tief durch, um seine Nerven zu beruhigen. Ein Fehler. Das Desinfektionsmittel brannte in seiner Nase, konnte den Duft von Blut aber nicht vollständig vertreiben.
      Er legte das Besteck beiseite und nahm sich einen langen Moment, um seinen Fokus wiederzufinden. Seine Hände zitterten leicht, seine Kehle brannte.
      Er zuckte zusammen, als Nora ihm eine Hand auf die Schulter legte, sanft aber bestimmt.
      "Durch den Mund atmen, schon vergessen?" erinnerte sie ihn und Vincent folgte ihren Anweisungen, unfähig für sich selbst zu denken.
      Sie hatte sein Blut in sich, genug um das Monster davon abzuhalten, sie zu fressen. Sie gehörte zu ihm, sie war eine der seinen. Sie zu fressen wäre ein Nachteil, eine Dummheit.
      Nora lächelte freundlich, sobald sich Vincent wieder beruhigt hatte, sobald er wieder er selbst war. Sie drückte seine Schulter leicht, eine stille Versicherung dafür, dass sie weiterhin versuchen würde, seinen Hunger zu stillen, sobald sich die Gelegenheit bot. Dann entfernte sie sich wieder.
      "Bitte entschuldige, Thomas. Manche Erinnerungen verfolgen einen ein Leben lang," sagte Vincent schließlich, ein entschuldigendes Lächeln auf den Lippen.
    • Vincents Antwort war nicht gerade besänftigend, im Gegenteil, sie entfachte einen Teil in Thomas, der die Kontrolle über seine Gedanken zu übernehmen versuchte. Er musste sich, zum ersten Mal in seinem Leben, willentlich dem Drang widersetzen, eine Jagd zu starten, ein Impuls, der bereits den Großteil seines Kopfes ausfüllte. Nur der emotionale Teil von ihm, der sich noch allzu deutlich an Vincents Nähe erinnerte und an ein Dutzend verschiedener Küsse von ihm, hielt ihn noch vehement davon ab. Er wusste, dass Vincent kein Vampir war. Jede Sekunde, die sie zusammen verbrachten, war ein weiterer Beweis dafür.
      Das änderte trotzdem nichts daran, dass er soeben unwissentlich einen Bluttest durchgeführt hatte und Vincent versagt hatte. Es konnte natürlich alles ein Zufall sein, ein riesiger, gemeiner Zufall, der Thomas das bisschen Glückseligkeit zu nehmen versuchte, das er bei Vincent empfand, aber es wäre schon ein äußerst unwahrscheinlicher Zufall gewesen.
      Hätte Thomas einen konkreten Silbertest durchgeführt, hätte Vincent ihn auch nicht bestanden.
      Er starrte Vincent an, auf das unsichere Lächeln, das er ziemlich überzeugend verkleidete. Vincent hatte bereits hundert Möglichkeiten gehabt ihn umzubringen, tausend Möglichkeiten einen seiner Gäste auf dem Ball umzubringen, noch viel mehr Möglichkeiten, jemanden in Cambridge umzubringen. Es hatte in Thomas' Gegenwart keinerlei mysteriöse Todesfälle gegeben, keine verschwundenen Personen, nichts, was seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Wenn er ein Vampir war, hätte Thomas es gemerkt. Herrgott, er würde doch nicht mit einem Vampir schlafen, ohne es zu bemerken.
      Trotzdem hatte er zwei von den drei wichtigsten Test nicht bestanden.
      Thomas starrte für einen Moment auf seine Hand hinab, während Nora bei Vincent vorbeiging. Ihm war der Hunger vergangen und es drängte ihn dazu, seinen Herzschlag zu senken, um einen möglichen Vampir nicht auf seine Gedanken aufmerksam zu machen. Schließlich tat er es sogar, bremste seinen Puls und versetzte seinen Körper in den Jagdzustand. Er würde sich vergewissern, nur vergewissern. Wenn sein Verstand unbedingt dazu drängte, einen Vampir zu entlarven, würde er ihm zeigen, dass er auch falsch liegen konnte. Er war ein Mensch, sein antrainierter Instinkt hatte auch Makel und konnte nicht perfekt sein.
      Als er wieder zu Vincent aufsah, schien dieser etwas von seinem Charme wiedergewonnen zu haben. Vergessen wäre die ganze Sache gewesen, wenn er sich nur eine Sekunde früher zusammengerissen hätte. So verlangte es Thomas nach einer Bestätigung - nach welcher auch immer.
      "Erzähl mir davon", verlangte er, gefolgt von einem hastigen "Bitte", während er versuchte, die Vertrautheit zwischen ihnen aufrecht zu erhalten. Es misslang ihm ein wenig und er versuchte es durch sein Doktoren-Lächeln zu entschärfen.
      "Manche solcher Erinnerungen können geheilt werden."
    • Vincent seufzte und stand auf. Er brauchte einen Drink, auch wenn Alkohol nicht das war, wonach es ihm wirklich verlangte.
      "Glaubst du wirklich, du kannst das Herz eines Jungen heilen?" fragte er Thomas.
      Er ignorierte die ach so tollen Regeln der Gesellschaft und füllte sein Glas ordentlich, nachdem er zwei Eiswürfel hineingeworfen hatte. Er nahm einen großen Schluck, sammelte sich, dann drehte sich um und kehrte an seinen Sitzplatz zurück.
      "Mein Vater wurde vor meinen Augen ermordet."
      Vincents Blick war hart, bohrte sich geradezu in Thomas' Augen. Er konnte nicht der charmante, freundliche Lover sein, wenn er diese Geschichte erzählte. Diese wahre Geschichte. Er konnte sich noch daran erinnern, als sei es erst gestern geschehen.
      "Er hatte ein Buch aus seiner Bibliothek geholt, das ich noch nicht fertig gelesen hatte. Also habe ich im Salon danach gesucht. Als ich ihn und seine Freunde kommen hörte, habe ich mich hinter einem Sofa versteckt. Ich wusste damals nicht, worum es ging. Geld vielleicht. Einfluss auf jemanden. Es spielt auch keine Rolle, denn die Männer unterhielten sich nur wenige Minuten. Dann hörte ich einen überraschten Laut. Ein seltsames Gurgeln. Ein Körper, der zu Boden fällt. Ich war so neugierig, dass ich unter dem Sofa durchgeguckt habe. Und da lag er. Mein Vater starrte mich direkt an, während das Blut aus seinem Hals sprudelte. Es floss einfach so über den Boden. Irgendwann saß ich drin, das Buch fest in meinen Händen. Don Quixote von Miguel de Cervantes."
      Vincent leerte das halbe Glas in einem großen Zug.
      "Den zweiten Teil habe ich nie gelesen, weil ich bis heute nicht weiß, wie der erste Teil endet."
      Er senkte den Blick auf sein Whiskeyglas, plötzlich nicht mehr in der Lage, Thomas anzusehen. Der Appetit war ihm nun vollends vergangen. Das charakteristische Brennen von Alkohol in seiner Kehle half ein wenig. Gegen den Hunger, gegen die Erinnerungen, die sich ihm aufdrängten.
      "Du wirst mir verzeihen, wenn ich in diesem Punkt nicht an deine heilenden Kräfte als Arzt glaube," sagte er schließlich, leerte seinen Drink und floh aus dem Raum.
      Er hatte noch nie jemandem von diesem Tag erzählt. Damals, als er noch ein Junge gewesen war, war so etwas Gang und Gebe in der gehobenen Gesellschaft gewesen. Er hätte gar nicht dort sein sollen. Er war der Sohn einer Dienerin, nicht der Sohn eines Politikers. Jedes Mal, wenn er sich in der Bibliothek versteckt hatte, war er damit ein Risiko eingegangen. Jedes Mal, wenn er dort gefunden wurde, hatte Prügel bezogen.
      Vincent flüchtete sich in sein Schlafzimmer, wo er vor seinem Bett auf und ab lief wie ein Tiger in einem zu kleinen Käfig. Auf und ab, auf und ab. Warum nur war Thomas so gut darin, genau die Punkte zu finden, die am meisten wehtaten? Die ihn verletzlich machten? Warum erzählte Vincent ihm nur so viel über sich?
    • Thomas erhielt eine Antwort auf seine Frage und noch dazu eine Antwort auf die ungestellte Frage, die dahinter geschwebt hatte, wobei er gleich wieder bereute überhaupt gefragt zu haben. Vincents innerer Aufruhr war echt, sowas konnte nicht gespielt sein, die vielen unbewussten Regungen, die sein Körper vollzog. Umso schockierender war es, dass die Geschichte der Wahrheit entsprach. Es war gar nicht vorzustellen, wie es Vincent wohl in einem solch jungen Alter ergangen sein musste, seinen eigenen Vater ermordet zu sehen und dabei auch noch direkt vor ihm zu sitzen. Wie ein schrecklicher, realistischer Albtraum, der ihn sein ganzes Leben lang heimsuchen und ihn an den schlimmsten Moment seines Lebens erinnern würde.
      Und Thomas saß ihm gegenüber und bezichtigte ihn des Vampirismus, als wäre ihm nichts an dessen Wohlergehen gelegen.
      Vincent rauschte aus dem Zimmer, bevor Thomas ein besänftigendes Wort hätte einlegen können und er sah ihm nach, bis er im Flur verschwunden war. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, normalisierte seinen Herzschlag und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Das war sein Fehler, sein eigener, wie konnte er auch so unsensibel sein und nach etwas fragen, was ganz eindeutig einen schwerwiegenden Ursprung hatte? Weil er in dem Moment nicht an Vincent, sondern an seinen Beruf gedacht hatte.
      Er saß noch einen Moment länger und gab Vincent die Ruhe, die er zu brauchen schien, während er selbst über die Geschichte nachdachte. Es tat ihm im Herzen weh, Vincent so aufgewühlt zu sehen, so verletzlich. Es war seine Pflicht, diesen Vertrauensbeweis, den der andere ihm entgegen gebracht hatte, nicht beiseite zu werfen. Er würde, was auch immer nötig war und in seiner Macht stand, tun, um ihm zu helfen.
      Er stand nach diesem Moment auf, verließ das Zimmer und veranstaltete eine kurze Suche im Haus, die bereits an der geschlossenen Schlafzimmertür endete. Dort trat er heran und klopfte sanft.
      "Vincent? Kann ich reinkommen?"
      Er wartete die Antwort ab, bevor er die Tür einen Spalt weit öffnete, sich hineinschob und sie hinter sich wieder schloss.
      "Es tut mir leid. Ich hätte nicht danach fragen dürfen, das war unsensibel."
      Er überbrückte die Distanz zwischen ihnen, nahm Vincents Hand und drückte sie leicht.
      "Ich möchte dir nur mein Beileid aussprechen. Das muss unvorstellbar schwierig für dich gewesen sein und nichts, was sich in irgendeiner Weise vernünftig verarbeiten lässt. Ich kann wahrscheinlich nicht halbwegs nachvollziehen, wie sich das für dich anfühlen muss, aber ich möchte dass du weißt, dass ich für dich da bin, wenn du darüber reden möchtest, okay? Nicht als Arzt, sondern als Freund."
      Er zog ihn sanft aber bestimmt zu sich und legte seine Arme um ihn. Mit der Hand kraulte er ihm zärtlich über den Rücken.
      "Es tut mir so leid."
    • Vincent wusste nicht, warum er ihn rein ließ. Er wusste nicht, warum er Thomas gestattete, seine Hand festzuhalten. Doch als der andere Mann seine Arme um ihn legte, wurde es ihm zu viel. Zu nahe. Vincent wollte sich aus der Umarmung befreien, doch Thomas ließ das nicht zu. Schließlich legte sich der Drang, wegzurennen und er entspannte sich, lehnte sich geradezu hilfesuchend gegen Thomas. Ihm war schmerzlich bewusst wie nahe er dem Hals des Mannes gerade war.
      "Ich will nicht darüber reden," murmelte er schließlich. "Ich will es vergessen. Aber du hast gefragt und ich kann dir einfach keine Antworten verwehren."
      Vincent schlang nun seinerseits die Arme um den anderen, hielt sich an ihm fest.
      "Was machst du nur mit mir, Thomas? Warum kann ich mich nicht gegen dich wehren? Warum lasse ich dich rein? Ich lasse nie jemanden rein. Außer einigen Sammlern weiß kaum jemand von meiner Vorliebe für Bücher. Nur Nora weiß von meinen seltsamen Reaktionen auf Silber und dass ich ein Nachtschwärmer bin, der gern lange schläft. Niemand weiß von meinem Vater. Und dann kommst du daher und ich... Ich reiße mir die Maske vom Gesicht, sobald ich dich sehe! Warum bist du so anders als alle anderen?"
      Er löste sich mit einem Seufzen von Thomas, bevor er noch etwas Dummes tat. Er hatte gerade keine Nerven dafür, sich um das Biest zu kümmern, dass an seinem Käfig kratzte und nagte. Er wollte ins Bett fallen und einhundert Jahre schlafen. Er wollte seine Zähne in einhundert Menschen schlagen und sie alle bis auf den letzten Tropfen aussaugen. Er war so müde, so hungrig. Und Thomas... Thomas machte ihn verletzlich. Ein Jäger schaffte es, hinter all die Mauern zu blicken, die Vincent in penibler Kleinarbeit über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte. Er verbarg sich hinter dicken Vorhängen in teuren Häusern, hinter einem mysteriösen Ruf, hinter auffälligen Klamotten, hinter einem charmanten Lächeln und ein bisschen Flirten. Niemals zeigte er, wer er wirklich war. Nie. Und doch...
      Vincent ließ sich in seinen Sessel in der Ecke sinken.
      "Du kannst mir tausend Fragen stellen und du wirst tausend Antworten erhalten. Kein einstudiertes Lächeln, keine Gegenfragen, kein Ausweichen. Warum beantworte ich deine Fragen? Ausgerechnet deine? Ich denke nicht einmal darüber nach, nicht zu antworten oder so vage wie möglich zu sein. Warum?!"
    • Einen Moment lang standen sie lediglich Arm in Arm, bevor Vincent wieder sprach. Es lag eine Verzweiflung in seiner Stimme, die Thomas höchst beunruhigte. Wieso wollte er niemanden hereinlassen? Wieso versuchte er sich zu verstecken wenn das, was ihn ausmachte, etwas so wundervolles war? Thomas war sich schließlich sicher, dass Vincent nicht der einzige auf der Welt sein konnte, der Interesse am Lesen selbst hatte und große Veranstaltungen mied. Wieso versteckte er es also und ließ Gerüchten freien Lauf?
      Er beobachtete, wie Vincent sich von ihm löste, zu seinem Sessel schlurfte, was wirkte wie ein Gang zum Henkersbeil, und sich setzte. Thomas blieb wo er war, er wagte weder sich ihm aufzudrängen, noch den Moment der Stille zu unterbrechen, der sich zwischen ihnen auftat. Vincent sah so aus, als sei er im Zwiespalt mit sich selbst, als gäbe es zwei Teile in ihm, die sich einander auszuspielen versuchten und ihn selbst dabei aus dem Gleichgewicht brachten. Thomas hätte ihm so gerne geholfen, aber die hängenden Schultern ließen darauf schließen, dass er womöglich gar nicht in der Verfassung dazu war, sich gänzlich damit auseinanderzusetzen.
      Er ging zum Bett und setzte sich auf die Bettkante, weit genug von Vincent entfernt, um ihm etwas Raum zu lassen, nahe genug, damit er es nicht als Distanziertheit auffassen würde. Es war schwierig ihn so zu sehen und nicht in die Arme zu nehmen.
      "Warum möchtest du sie nicht beantworten? Warum möchtest du niemanden hereinlassen?", entgegnete er sanft und fügte schnell hinzu: "Das sind keine Fragen, auf die ich eine Antwort haben möchte, wenn du sie nicht beantworten möchtest. Ich möchte nur..."
      Er stutzte.
      "Ich mag dich, Vincent. Nicht, weil du mein erster... Mann bist, sondern weil ich mich grundsätzlich für dich interessiere - nicht nur für deinen Körper. Ich möchte natürlich nicht, dass du dich bei mir verstellst, aber wenn es einfacher für dich ist, wäre es völlig in Ordnung. Du sollst dich zu nichts... gezwungen fühlen. Ich kann unmöglich nachvollziehen, was wirklich in dir vorgeht, aber du bist ein charmanter, liebenswerter Mann, ganz abgesehen davon, was du mit deiner Maske zeigen willst, und mit diesem Mann möchte ich... befreundet sein. Ich würde mir viel lieber anhören, welche Bücher du liest, anstatt welche Aktien du kaufst oder welche Kutsche die beste ist, oder worüber der ganze Rest der Welt miteinander redet. Ich möchte keinen versteckten Vincent kennenlernen, ich möchte nur den einzigen Vincent, der überhaupt existiert, und das solltest du auch wollen, wenn es nur möglich ist. Ich möchte, dass es dir gut geht."
      Er runzelte knapp die Stirn. Er hätte nicht gedacht, dass er dazu in der Lage war, richtige Gefühle auszudrücken.
      "Du bist mir keine Rechenschaft für irgendwas schuldig. Tu das, was sich für dich am besten anfühlt; wenn du glücklich bist, bin ich es sicherlich auch sein."
      Dann lächelte er.
    • Vincent lachte. Er lachte leise in sich hinein, ob der Absurdität dieser Situation. Ein Jäger und ein Vampir, beide überrascht über das, was auch immer zwischen ihnen entstand.
      Schließlich schüttelte er den Kopf, stand auf und ging rüber zu seinem Bett. Er lehnte sich über Thomas, bis dieser gezwungen war, sich rücklings in die Laken fallen zu lassen. Er stützte sich links und rechts von ihm mit den Händen ab, den Blick eisern auf die dunklen Augen des Mannes gerichtet, um sich nicht von dem verlockenden Zucken von Thomas' Halsschlagader unter der zarten Haut seines Halses ablenken zu lassen. Thomas roch wie ein dekadentes Buffet.
      "Du hast nie einen falschen Vincent kennengelernt", sagte er leise. "Mein Interesse für dich war von Anfang an echt. Was ich dir gezeigt habe, war von Anfang an echt."
      Vincent senkte seinen Blick auf die dunklen Flecken an Thomas' Hals. Vorsichtig, beinahe ehrfürchtig, strich er mit dem Daumen über die Verfärbungen. Das Monster in seinem Inneren schrie auf, wollte seine Reißzähne in dem malträtierten Fleisch versenken, um sich zu nähren, um die Erinnerung an einen anderen Vampir von Thomas Haut zu brennen.
      "Und doch ist da noch so viel, dass du nicht weißt...", flüsterte er, bevor er sich vorlehnte und einen sanften Kuss auf die gereizte Haut setzte.
      Dann ließ er sich neben Thomas ins Bett sinken, kaum ein Zentimeter zwischen ihnen. Er ließ einen Arm über Thomas Brust liegen, ein Bein über Thomas' Oberschenkel.
      "Eines Tages werde ich dir alles sagen. Alles. Aber nicht heute."
    • Ein Teil von Thomas' Worten schien Vincent zu erreichen, wenngleich er sich nicht sicher war, ob das auch für ihren Sinn galt. Zumindest löste sich etwas von seiner Steifheit, als er aufstand und zu Thomas zurückkam, der ihn nur allzu gern in die Arme geschlossen hätte. Stattdessen ließ er sich von ihm nach hinten treiben und sah nur einen Moment später zu dem aufragenden Mann über ihm auf. Sein Blick war zwar unergründlich, aber so fest auf Thomas gerichtet, dass er sich einbildete, eine Spur Zuneigung darin zu erkennen. Erst seine Worte bestätigten dann diese Vermutung und entfachten ein Lächeln in Thomas' Gesicht, das zwar aufmunternd hätte sein sollen, aber dann viel eher dem Anblick entsprang, den Vincent ihm bot. Dessen streichelnder Daumen, der so vorsichtig auf seiner Haut lag, dass er lediglich für eine hauchzarte Empfindung sorgte, unterstrich dieses Gefühl. Und dann endlich überbrückte Vincent auch die letzte Distanz zwischen ihnen und Thomas zögerte nicht, ihn in seinen Armen zu empfangen, wo Vincent die Stelle küsste, über die er eben noch gestrichen hatte. Er ließ den Mann wieder ein Stück von sich herunter gleiten, bevor er ihn an sich schmiegte, in seliger Zufriedenheit darüber, dass er Vincents Zwiespalt womöglich ein bisschen gelindert hatte.
      "Nicht heute", bestätigte er, während er Vincents Arm herab zu seiner Hand strich und seine eigene darauf legte. "Eines Tages."
      Das würde auch für ihn selbst gelten.

      Der Tag neigte sich bereits dem frühen Abend zu, als Thomas deklarierte, nachhause zu gehen, nachdem er am frühen Morgen die Praxis aufschließen und dann seiner Arbeit nachgehen musste. Nach dem ganzen Tag des Faulenzens in Morgenrobe fühlte sich der Anzug, mit dem er sich wieder so adrett kleidete wie am Vorabend, äußerst beengend an. Ausnahmsweise war er ernsthaft froh darum, keiner weiteren Verpflichtung nachgehen zu müssen, außer der, sich angemessen bei Vincent zu verabschieden. Er küsste den blonden Mann lange, ausgiebig und sehnsüchtig, als könne das ihr letzter Kuss auf Erden sein, und besaß dann die Frechheit, auch seinen Handrücken zu küssen, so wie er es sonst immer bei Darcy tat. Eine gewisse Melancholie befiel ihn bei der Aussicht, wieder alleine im Bett zu schlafen.
      "Ich gebe dir Bescheid, wenn Stephen da ist. Und du wirst nicht eher abreisen, bis mein Klavier gestimmt ist, vergiss das nicht."
      Er lächelte.
    • Vincent hatte es versucht - wirklich versucht - aber gegen den eigenen Körper konnte man nur so lange bekämpfen. Angekuschelt an Thomas' warmen Körper, sein ruhiger Herzschlag an Vincents Ohr war die Stimmung einfach zu entspannt, um nicht einzunicken. Und so lernte Thomas wie schwer es wirklich war, ihn aufzuwecken, als er einige Stunden später gehen musste.
      Wenn Vincent einschlief, dann kam es einem neuen Tod gleich. Alle Empfindungen verließen ihn und er sank in ein dunkles Nichts. An diesem Ort gab es keine Zeit, keinen Raum, aber auch kein Bewusstsein. Und dann war er wieder wach. An diesem Tag hieß das, von innen heraus zu verbrennen. Die Stunden, die er verschlafen hatte, hatten seinen Hunger in neue Höhen getrieben. Zuvor war das Gefühl bloß das Monster gewesen, das nicht hätte wach sein sollen. Doch nun war es der übliche Hunger, mit dem Vincent jeden Abend aufwachte plus die Wut des Biests, weil er es gewagt hatte, es am Tage wachzuhalten. Es war schon sehr lange her, dass Vincents Hunger physisch geschmerzt hatte.
      Und dennoch setzte er ein verschlafenes, freundliches Lächeln auf, als er dabei zusah, wie sich Thomas in seinen Anzug zwängte. Als er ihm nach unten folgte und sich einen Tee mit ihm erlaubte, während sie auf seine Kutsche warteten. Er sagte nicht viel, um den Schmerz in seiner Kehle nicht noch weiter anzufachen.
      "Könnte ich gar nicht", antwortete er auf Thomas' Aussage. "Ich kann doch ein armes Musikinstrument nicht derart leiden lassen."
      Bevor sich Thomas aus dem Haus stehlen konnte, griff Vincent noch einmal nach dem Aufschlag seines Anzuges, zog ihn schwungvoll an seine eigene Brust und küsste ihn. Das Monster brüllte, wollte ihn verschlingen, ihn bis auf den letzten Tropfen aussaugen. Doch Vincent wehrte sich, klammerte sich an den süßen Duft des Schweineblutes, der aus dem Esszimmer zu ihm herüberwehte.
      Er schlang einen Arm um Thomas, seine Hand landete auf dessen Hintern und packte zu.
      "Wenn sich dieser Stephen nicht bald blicken lässt, nehme ich dein Klavier als Ausrede dafür, bei dir aufzutauchen. Und dann werde ich mehr tun, als nur ein Instrument zu stimmen," raunte er in Thomas' Ohr.
      Er war sich nicht ganz sicher, ob das ein Versprechen oder eine Drohung war.
      Vincent zwang sich, von dem anderen Mann abzulassen. Zurück war die Selbstbeherrschung, das charmante Lächeln. Mit einem Zwinkern entließ er Thomas dann endlich und schloss die Tür hinter ihm. Beinahe sofort war Nora bei ihm. In weiser Voraussicht hatte sie gleich zwei Gläser mit dem Schweineblut mitgebracht. Vincent kippte sie herunter, als hinge sein Leben davon ab. Was eine Untertreibung war, denn es hingen andere Leben davon ab. Er zerdrückte das erste Glas beinahe in seiner Hand.
      "Ich nehme nicht an, dass du hieraus eine Lehre ziehen und sowas nie wieder tun wirst?" fragte Nora, als sie ihm das Glas vorsichtig aber bestimmt wieder abnahm.
      "Wie kann ich diesem Mann den bitte widerstehen?"
      "Er ist gefährlich, Vincent."
      "Ich weiß. Und leider, so wissen alle echten und falschen Götter, ist das genau mein Typ."
    • Die Brooks kamen schon im Laufe des nächsten Tages und erwarteten Thomas, als er am frühen Abend von seiner Praxis zurückkehrte. Darcy lugte hinter der stattlichen Gestalt ihres Bruders hervor, der sich im Gang aufgestellt hatte und darauf wartete, dass Beth mit Thomas’ Jacke ihrer Wege ging.


      Stephen war ein Stück größer als Thomas und hatte die unbewusste Haltung einer Autoritätsperson, die es gewöhnt war, dass man ihrer Stimme gehorsam leistete. Er stand immer ganz vorbildlich, zumeist breitbeinig, wie um sich mehr Platz zu schaffen, und hatte das Kinn leicht erhoben. Als er Thomas sah, kamen seine Zähne unter dem Schnurrbart zum Vorschein und sein Grinsen kräuselte die Haare.
      “Da ist er ja endlich! Lässt uns den ganzen Tag warten, als wären wir nur Hauspersonal.”
      Thomas’ eigene Miene lockerte sich bei dem Anblick und er kam ihm entgegen.
      Stephen! Himmel, wenn ich das gewusst hätte, dass ihr schon heute da seid, hätte ich… nun, dann hätte ich auch nichts ändern können.
      Die beiden Männer begrüßten sich mit einer halben, aber freundschaftlichen Umarmung, bevor Thomas sich mit einiger Wehmut Darcy widmete und ihr einen pflichtbewussten Kuss gab. Das Wochenende mit Vincent lag noch zu deutlich auf seinen Sinnen, um Darcys Einfluss akzeptieren zu können. Er spürte fast seine Haut prickeln, als er sie berührte, aber nicht auf die gute Weise; so schlimm war es bisher noch nie gewesen.
      Darcy wirkte dafür umso fröhlicher, lächelte ihn beschwingt an und schloss ihre Hände um seine.
      “Es ist schon alles gut, das Gästezimmer war ja schon hergerichtet und Beth hat uns gleich versorgt.”
      Ach?
      “O ja, sicher”, kam es von der alten Haushälterin aus dem Hintergrund, die schon fast wieder in der Küche verschwunden war. “Ich habe nach Ihrem letzten Besuch einfach nur neu bezogen. Ms. Brooks wird ja bei Ihnen schlafen, nicht wahr?”
      Ja, sicher.
      “Nach deinem letzten Besuch?”
      Darcy legte den Kopf schräg und Thomas sah sich nach Stephen um, der sich schon wieder ins Wohnzimmer aufmachte. Ja, richtig. Er musste noch einige unbequeme Gespräche hinter sich bringen.
      Das ist eine… interessante Geschichte. Wieso setzen wir uns nicht einen Moment, bis das Essen fertig ist?
      Er leitete Darcy vorsichtig, aber bestimmt ins Wohnzimmer und folgte Stephen, der es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Er hatte sich zurückgelehnt, beide Arme auf der Lehne platziert und sah so aus, als würde er darauf warten, dass sich gleich ein paar Damen zu ihm kuscheln würden. Thomas’ eigener Blick glitt nur ein einziges Mal an ihm ab, während er bemerkte, dass ihm Vincents Körper viel mehr gefiel. Stephen wirkte auf Thomas irgendwie unförmig, als habe er zu viel Muskeln in seinen Oberkörper gesteckt und dafür den restlichen Teil vernachlässigt. Vincent war rundum schlank und äußerst wohlgeformt, das gefiel ihm viel mehr. Es war wohl auch eine neue Sache, dass er bei Stephen nicht mehr zwei Mal hinsah.
      Setz dich, Darcy. Ich muss euch noch auf den neuesten Stand bringen.


      Zur gleichen Zeit, nachdem es draußen bereits dunkel war, bog eine Gestalt in die kleine Auffahrt des Harker Anwesens ein, strebte scheinlichst die Ecke des Gebäudes an, vollzog dann einen Schlenker, untersuchte die geparkte Kutschte, lungerte ein wenig vor den Hecken herum, versuchte einen halbherzigen Blick durch die Fenster zu erhaschen und landete schließlich vor der Tür, wohin ihr Weg von vornherein geführt zu haben schien. Die schlanke Gestalt hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, bog sich ein Stück nach hinten, um den Türrahmen zu inspizieren, und richtete sich dann erst wieder auf, um den Ring des Türklopfers zu ergreifen und drei Mal fest zu klopfen. Die Hand wanderte wieder hinter den Rücken und dann wippte die Gestalt ein wenig vor und zurück, während sie wartete. Eilig leckte sie sich über die Lippen und wischte dann noch mit dem Ärmel nach, um letzte mögliche Blutreste zu beseitigen.
    • Nachdem sich Vincent ausgiebig mit dem Monster in seinem Inneren beschäftigt hatte, machte er sich gleich daran herauszufinden, wer dieser Stephen war. Von dem, was ihm Thomas so erzählt hatte, konnte Vincent einige Verbindungen ziehen, aber er musste wissen, ob es sich bei Darcy und ihrem Bruder um Mitstreiter der Van Helsings handelte. Es war eine Sache, zu einem Männerabend zu gehen. Eine gänzlich andere war es da, ein Abendessen mit einem engen Freund eines Jägers zu haben. Vincents Erfahrung nach stieg die Wahrscheinlichkeit, auf einen weiteren Jäger zu treffen, je näher eine Person einem Van Helsing stand. Und da Darcy praktisch mit Thomas verlobt war... Vincent hätte sich schlagen können dafür, dass er das übersehen hatte.
      Also griff Vincent seinerseits auf ein paar alte Freunde zurück. Er sandte zwei kurze Briefe: der eine war an einen örtlichen Archivar gerichtet, ob er doch bitte mal einen Blick in die Familiengeschichte einer gewissen Darcy Brooks werfen könne. Als Grund nannte er ein Interesse an einem Stück Land in der Nähe von Stephens Fabrik und er wolle herausfinden, ob dieser Stephen Brooks zu dieser Darcy Brooks gehöre, dann hätte er vielleicht bereits einen Fuß in der Tür für etwaige Geschäfte. Der andere Brief ging an einen Notar seines Vertrauens in London, den er um etwas ähnliches bat, nur dass er hier einen Blick in die finanziellen Bewegungen haben wollte, um herauszufinden, wie sehr die Brooks und die Van Helsings miteinander verstrickt waren - natürlich auch nur, weil er geschäftliche Interessen hatte und eventuell die Bekanntschaft mit dem einen Namen ausnutzen wollte, um mit dem anderen bekannt zu werden. Alles nicht besonders ungewöhnlich für jemanden in seinen Kreisen und ganz bestimmt nicht für Vincent Caley, Lord von Harker Heights. Jeder, der von Vincent als 'alter Freund' bezeichnet wurde, hatte schon seltsamere Anfragen von ihm bearbeiten sollen.

      Er wanderte gerade durch seinen Salon, ein altes Buch, von dem er sich mehr Informationen über die Brooks erhoffte, in der Hand, als es dreimal an seiner Tür klopfte. Vincent sah überrascht auf, mitten im Raum stehend. Er erwartete eigentlich niemanden. Niemand außer Thomas und ein paar seiner buch-besessener Kollegen sollte überhaupt wissen, dass er hier in Cambridge war.
      Nora warf ihm einen Blick zu, bevor sie zur Tür ging und sie öffnete. Vincent derweil legte seine Lektüre beiseite und lauschte.
      "Wie kann ich Ihnen helfen?" fragte Nora ganz brav.
    • Stephen wog den Kopf von der einen Seite auf die andere Seite. Sein Anzug, den er sogar für die lange Fahrt nach Cambridge angezogen hatte, saß zu jeder Zeit perfekt an seinem Körper und daher sah es umso merkwürdiger aus, ihn bei solch gänzlich entspannten Bewegungen zu beobachten. Hätte Thomas ihn nicht schon sein Leben lang gekannt, hätte er gedacht, Stephen wolle ihm damit etwas vorspielen.
      "Thomas, ich muss sagen... hm."
      Er setzte sich ein wenig auf, lehnte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf die Knie. Dann musterte er Thomas, als würde er abschätzen wollen, welche Worte er wählen konnte.
      "... Bist du betrunken?"
      Thomas schürzte die Lippen und stellte schuldbewusst das Glas ab, das er sich gerade eingeschenkt hatte. Darcy war merkwürdig still geworden, seitdem er erwähnt hatte, dass Vincent in der Stadt war - also so ziemlich seit Beginn des Gesprächs.
      "Nein. Ich habe gründlich geurteilt."
      ""Gründlich" nennst du das? Du hast mir nichts neues erzählt als schon Darcy, außer dass ihr euch angefreundet habt, noch immer in Kontakt steht, zusammen essen und dann pokern wart. Achja, und dass er hier übernachtet hat. Seit wann gehst du mit einem Verdächtigen pokern, Thomas? Ich dachte immer, du bist lieber vorsichtig."
      "Ich bin vorsichtig. Er ist es nicht."
      "Und das weißt du, ohne Tests durchgeführt zu haben? Nein warte, ohne die wichtigen durchgeführt zu haben?"
      Thomas hatte sich eigentlich fest vorgenommen, seinem Freund von den beiden gescheiterten Tests zu erzählen - wie auch immer er es hätte einbringen sollen - aber der Moment schien ihm nicht richtig. Eigentlich war er sich mittlerweile nicht mehr sicher, ob es überhaupt einen richtigen Moment dafür geben konnte.
      "Es gab keine Todesfälle auf dem Fest - bis auf die alte Frau, aber das war ein müdes Herz - und ich habe keine Leichen im Keller gefunden, kein Bordell im Hinterhof, kein Blutlager. Das Anwesen ist sauber."
      "Bist du dir auch wirklich sicher? Hast du wirklich überall nachgesehen? Er könnte versteckte Räume haben."
      Nein, Thomas hatte nicht überall nachgesehen. Stattdessen hatte er sich in diversen Räumen vernaschen lassen.
      Er beschäftigte sich für einen Moment damit, eine Falte in seiner Hose glatt zu streichen.
      "Ich bin mir sicher. Und selbst wenn ich etwas übersehen habe; mal angenommen er ist es wirklich: Er hätte tausend Möglichkeiten gehabt mich zu überfallen, auf dem Fest und am Wochenende. Wenn er hätte essen wollen, hat er einen sehr schlechten Job damit gemacht seine Beute zu fangen - wiederholt. Du glaubst doch selbst nicht, dass ein Vampir drei Tage lang unter dutzenden Menschen wandeln könnte, ohne mindestens einen davon zu erlegen. Es ist einfach untypisch; wir sind wegen Gerüchten hingefahren und nichts davon entspricht der Wahrheit. Er ist ein anständiger, aufgeschlossener Mann mit einem hohen Vermögen, Stephen, das ist noch lange kein Verbrechen. Wenn wir ihn fälschlicherweise beschuldigen, werden ihn die Leute auch noch Dracula nennen oder so etwas."
      Stephen winkte ab und lehnte sich wieder zurück.
      "Ja ja, du mit deinem Rufmord, ich weiß ja. Das ist alles schön und gut, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass du die Tests nicht zu Ende gebracht hast. Hast du wenigstens mit dem Personal geredet?"
      Thomas musste sich darüber schämen, dass er selbst das verpasst hatte. Vincent hatte ihm wirklich gehörig den Kopf verdreht.
      "Nein."
      Stephen klatschte in die Hände.
      "Wenigstens das können wir nachholen, wenn er sowieso in der Stadt ist, ohne dass du deine Freundschaft belasten musst. Und die Tests werde ich durchführen, das wird er gar nicht merken."
      Bevor Thomas etwas dagegen einwenden konnte, kam ihm Darcy zuvor.
      "Den Lichttest kannst du dir sparen."
      Sie sahen beide zu der schwarzhaarigen, die sich auf ihrem Sessel räkelte. Im Gegensatz zu Stephen war sie bereits in ihr Alltagskleid geschlüpft und hielt wenig davon die Manier zu wahren.
      "Du hast gesagt, dass er im Frühstückssaal im Sonnenlicht gesessen hat, Thomas. Und wenn er hier übernachtet hat, ist er auch zum Sonnenlicht aufgewacht, das Gästezimmer geht nämlich doch nach Osten raus. Abgesehen davon ist das ganze Haus hell genug, um jeden Vampir auszubrennen."
      Thomas stand auf und wandte sich ab, weil er die Hitze spürte, die durch seinen Körper wallte. Er musste sich selbst glaubhaft machen, dass Vincent im Gästezimmer übernachtet hatte, andernfalls würde er sich noch verraten.
      "Okay, fein", rief Stephen, was sich so endgültig anhörte, als hätte er damit beschlossen, das Gespräch zu beenden. "Kein Lichttest. Dann also nur Blut und Silber, das sollte doch nicht allzu schwierig sein."
      "Er kann Blut nicht sehen, das ist was persönliches", murmelte Thomas kleinlaut und wusste schon, ohne sich zu Stephen umzudrehen, dass die Diskussion bald von neuem losgehen würde.


      Die Gestalt vor dem Harker Anwesen entpuppte sich als hochgewachsene, schlanke Frau in Männerklamotten.


      Sie wirkte überrascht bei Noras Anblick, aber nur für einen flüchtigen Augenblick. Sie hörte auf, nach vorne und wieder nach hinten zu wippen, und musterte Nora für einen Augenblick, ehe sie ein Lächeln auf ihr Gesicht spielte, bei dem ihre Zähne aufblitzten. Mit einer übertriebenen, ausladenden Geste verbeugte sie sich vor Nora und grinste dann zu ihr auf.
      "Bitte verzeiht die abendliche Störung meine Liebste, ich hatte nicht vor, Euch zu belästigen."
      Sie richtete sich wieder auf, warf einen verstohlenen Blick auf das wenige Stück Vorraum, das sie hinter Nora erkennen konnte, und grinste sie dann wieder an.
      "So sehr ich mich über Euren Anblick freue, Allerwerteste, hatte ich eigentlich gehofft, jemand anderen anzutreffen. Einen, uhm..."
      Ihr fiel wieder ein, dass Gabriel ja eigentlich ganz gerne unentdeckt reiste.
      "... Nun, ich bin mir sicher, Ihr würdet ihn kennen. Er hat einen unglaublich langweiligen Literaturgeschmack, aber dafür einen ganz passablen Kleidungsstil. Ich habe seine Kutsche vor der Tür parken gesehen, da dachte ich, ich versuche mein Glück - aber wenn er nicht hier ist, hätte ich auch nichts dagegen, wenn Ihr mir stattdessen Gesellschaft leistet. So wie es der Zufall will, habe ich eine Karte zu viel für das Theater in der Innenstadt, ma chérie."
      Sie grinste breiter und verschränkte die Hände wieder hinter dem Rücken.
    • Vincent versuchte, die Stimme an der Tür zuzuordnen, konnte sich aber nicht erinnern, schon einmal auf die Besitzerin getroffen zu sein. Allerdings war das weniger das Problem, was ihn die Stirnrunzeln ließ. Noras Reaktion sagte ihm, dass diese Frau nicht völlig mit Blut besudelt war, aber er konnte es dennoch riechen. Menschliches Blut. Es juckte ihn in den Fingern, einzuschreiten, aber Nora würde das schon allein händeln können.
      "Nun, da muss ich Sie leider enttäuschen, werte Dame. Ich kann Ihnen versichern, dass hier sehr genau auf den Literaturgeschmack geachtet wird. Was Ihre sehr großzügige Einladung zum Theater angeht..."
      Nora setzte ein freundliches Lächeln auf und wechselte ins Französische, was Vincent ebenfalls ein Lächeln ins Gesicht trieb.
      "Merci pour l'offre, mais malheureusement je dois la décliner*. Ich habe zu arbeiten. Wenn Sie sonst nichts weiter zu erfahren wünschen, wünsche ich Ihnen noch eine schöne Nacht."
      Vincent hätte nicht stolzer sein können. Nora hatte dieser Frau gerade mehr als deutlich klar gemacht, dass sie genau wusste, was sie war. Die Haushälterin konnte Vampire schon schneller erkennen als ein ausgebildeter Van Helsing.
      Nora schloss die Tür und kehrte zu ihrem Arbeitgeber in den Salon zurück.
      "Kein Grund, nervös zu sein, meine Liebe", sagte Vincent und überbrückte die letzten paar Meter zu ihr.
      Er legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern. Ihr kaputtes Herz schlug plötzlich schnell genug, um sich zu verselbstständigen.
      "Sie hat gerade erst gegessen, du hast nicht auf der Speisekarte gestanden. Und du tust es immer noch nicht, das weißt du. Sollte diese Frau versuchen, in dieses Haus einzubrechen, wird sie es mit mir zu tun bekommen."
      Nora schenkte ihm ein schwaches Lächeln und Vincent gab dem Drang nach, sie in seine Arme zu ziehen. Während er ihr beruhigend über den Rücken strich, fragte er sich, womit er so viel Glück nur verdient hatte. Zwei Vampire, wenn nicht sogar drei in einer Stadt? Was machten diese jungen Dinger denn bitte dieser Tage? Wussten sie nicht, wie man sein eigenes Revier verteidigte? Dass man die Grenzen eines Territoriums achtete? Drei Vampire in einer Stadt war gleichbedeutend mit einem langsamen Massensterben. Ein Mensch etwa alle drei Nächte und das dreimal... Hatte man diesen Idioten denn nicht erklärt, warum es die alten Regeln gab? Vincent war versucht, Thomas Bescheid zu geben. Ein Teil von ihm hoffte sogar, dass seine Freunde Darcy und Stephen ebenfalls Jäger waren, nur damit jemand hier aufräumen konnte.
      "Wir sollten zusehen, dass wir unseren Weg nach Hause bald finden", beschloss Vincent dann, als er sich von Nora löste. "Mir ist hier viel zu viel los."
      Nora nickte, einverstanden mit Vincents Entscheidung und dessen Meinung über Cambridge. Er würde dieses Essen hinter sich bringen und alle anderen offenen Fäden noch schnell verknoten, und dann zurück nach Hause verschwinden.










      Vielen Dank für das Angebot, aber leider muss ich es ablehnen. (sponsored by Prof. Dr. G.O. Ogle)
    • Die schwarzhaarige Frau legte den Kopf schief und während Nora ihr Angebot ablehnte, leuchteten ihre Augen vor Entzückung auf. Sie wippte wieder ein wenig vor und zurück, während Nora sich bei ihr verabschiedete.
      "Das ist aber enttäuschend, Madame. Höchstgradig deprimierend. Ich bin bestürzt. Vielleicht werdet Ihr Eure Meinung ja noch ändern."
      Sie zwinkerte ihr zu und erhaschte einen letzten Blick in das Haus, bevor sich die Tür vor ihr schloss. Dann blieb sie für einen Moment davor stehen, lauschte auf die fernen, leiser werdenden Schritte und zog von der Türschwelle ab. Sie beschrieb den gleichen, scheins ziellosen Weg zurück zur Kutsche, umkreiste sie einmal gemütlich, reckte sich dann, um wieder einen Blick durch die Fenster des Hauses werfen zu können. Sie zog schlendernd noch eine weitere Bahn, die sie über Umwege wieder vor die Tür führte, wo sie einen weiteren Moment wartete, bis sie ein weiteres Mal dreifach klopfte. Sie wippte wieder vor und zurück, während sie wartete, und als Nora öffnete, erhellte sich ihre Miene wie beim ersten Mal.
      "Eine letzte Sache, Verehrteste. Wenn er denn hier ist - wenn er denn hier ist", sie betonte den letzten Satz ein wenig deutlicher und warf dabei wieder einen Blick ins Haus, damit er es auch ja hören konnte - wenn er denn wirklich hier war, "dann sagt ihm doch, dass er mich beim Theater finden kann, ich hätte gern mit ihm gesprochen über..."
      Wie umschrieb man "Vampire" ohne dabei zu offensichtlich zu klingen? Sie kniff die Augen zusammen.
      "... V e r w a n d t e. Er wird schon wissen, wovon ich rede. Sagt ihm..."
      Unter welchem Namen kannte Gabriel sie? Die schwarzhaarige wechselte Namen häufiger als ihre Kleidung.
      "... Denize war hier. Nein, uhm... Ruby. Jane? Clare. ... Denize Ruby Jane Clare Mary. Ich habe einen langen Namen."
      Sie lächelte entschuldigend, dann verneigte sie sich ein weiteres Mal, was dieses Mal durch ihre Nebenbemerkung viel eher wie das Verbeugen eines Schauspielers aussah, und zwinkerte Nora wieder zu.
      "Bonne soirée à vous, Mademoiselle. Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen."
    • Vincent hatte eigentlich zu seiner Recherchearbeit zurückkehren wollen, doch kaum hatte er sich seinem Buch wieder zugewandt, da klopfte es erneut. Nora huschte ganz dienstordentlich zurück zur Tür, doch Vincent bedeutete ihr mit einer stillen Handbewegung, innezuhalten. Er positionierte sich lautlos im toten Winkel hinter der Tür, bevor Nora ihrer Aufgabe nachging. Dieses Mal wollte er kein Risiko eingehen. Er hatte selten einen so nervigen Artgenossen getroffen.
      "Es würde helfen, wenn ich wüsste, wer dieser mysteriöse Mann ist, den Sie hier anzutreffen hoffen, Miss..?" gab Nora trocken zurück.
      Sie blieb allseits professionell, auch wenn Vincent den Unterschied in ihrer Stimme ganz genau hören konnte. Er musste sich ein Grinsen verkneifen - was angesichts der aktuellen Situation recht einfach war.
      Er fragte sich, was diese Frau hier wollte. Das Haus hier in Cambridge war schon länger in seinem Besitz als Harker Heights und er konnte sich nicht entsinnen, die Kutsche in seiner Einfahrt von einem anderen gekauft zu haben. Diese Unbekannte hatte also keinerlei Grund anzunehmen, dass sich ihr Freund oder wer auch immer hier in aufhielt. Vielleicht gehörte sie zu Charles? Was aber auch nicht erklärte, warum sie hier war, immerhin hatte Vincent mit dessen Tod nur wenig zu tun - abgesehen davon, dass er den Jungspund an einen Van Helsing verraten hatte. Sie schien sich hier auszukennen, also musste sie das Risiko kennen, in der Heimat eines Jägers zu leben. Beanspruchte sie diesen Ort als ihr Territorium? Vincent war schon oft unter dem Radar geflogen und anderen Vampiren in ihren Revieren nicht aufgefallen, allerdings machte er einen Punkt daraus, die alten Regeln zu befolgen: Vor jeder Reise informierte er sich darüber, wessen Revier er betrat oder nur durchreiste und ließ die entsprechenden Figuren wissen, dass er da war. Er ließ außenvor, dass er nicht jagen würde, aber das spielte generell nur eine geringe Rolle. Wichtig war es, dass man denjenigen Informierte, der ein Gebiet beanspruchte. Diese Regeln dienten der Sicherheit aller. Und auf seiner Reise hier her hatte Vincent ganz genau gewusst, dass Cambridge eine unbeanspruchte Stadt war - zurecht, lebten die Van Helsings doch schon seit Generationen an diesem Ort.
    • "Der mysteriöse Mann?", wiederholte die Frau der vielen Namen, wobei ihre Stimme dabei fast einen melodischen Singsang von sich gab, während sie wieder vorwärts und rückwärts wippte. Die Verbindung dieser ganzen Verhaltensmuster sorgte für den Eindruck, dass sie die ganze Unterredung als Unterhaltung sah, von der man sich belustigen lassen sollte. Nur ihre Augen blieben dabei auf Nora haften, als hätte sie Angst etwas zu verpassen, wenn sie einmal nur kurz wegsah.
      "Oh das passt gut, glaube ich. Der mysteriöse Mann. Das ist er wohl, findet Ihr nicht? Ein mysteriöser Mann."
      Sie verstummte und legte den Kopf schief, als würde sie lauschen. Da wanderte ihr Blick tatsächlich von Nora weg und in den Hausflur hinter ihr, bevor sie sie unvermittelt wieder ansah.
      "Nun, dieser mysteriöse Mann ist etwa so groß wie ich, hat blondes Haar, trägt gerne Schwarz und neigt dazu, mysteriös zu sein - aber letzteres haben wir ja schon festgestellt. Abgesehen davon heißt er Gabriel wie der Erzengel, hat die Tendenz dazu lange zu schlafen, sammelt Bücher - aber nur die langweiligen -, verkriecht sich gerne in seinem Zuhause; all so ein Zeug."
      Sie wischte nachlässig mit der Hand durch die Luft.
      "Er spricht sogar französisch - so wie Ihr, meine Teuerste. Eigentlich spricht er sogar ganz viele Sprachen, aber mich persönlich interessiert nur französisch. Vielleicht ein bisschen Latein, aber das kann man nicht sprechen. Französisch ist die Sprache der Liebe, das ist das einzige, was mich interessiert."
      Sie grinste erneut und wirkte dann unvermittelt höchst erschrocken.
      "Oh, ich habe mich ja selbst gar nicht vorgestellt! Ich bin Denize… Ruby… Jane Clare Mary Melbwin die IV., aber Ihr könnt mich nennen, wie auch immer es Euch beliebt. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
      Sie kam das letzte wenige Stück auf Nora zu und wollte nach ihrer Hand greifen, um sie auf Gentleman-Art zu küssen.
    • Vincent stutzte. Es war schon mehrere Lebzeiten her seit ihn zuletzt jemand bei seinem Zweitnamen genannt hatte.
      "Ich darf doch sehr bitten," klinkte er sich in diese Unterhaltung ein, als diese seltsame Frau Nora die Hand küssten wollte.
      Gezielt schob er Nora so weit hinter sich, dass er sie problemlos vor jeder Gefahr schützen konnte.
      "Erstens sammle ich durchaus interessante Bücher. Zweitens trage ich auch andere Farben als Schwarz. Und Drittens würde ich jetzt sehr gern erfahren, mit wem wir es hier wirklich zu tun haben. Ich bin kein Freund davon, wenn man einfach unangekündigt auf meinem Grundstück auftaucht und dann keine klaren Antworten gibt. Und sparen Sie sich das Gerede um den heißen Brei, wie man so schön sagt. Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?"
      Vincents Ungeduld war nur zum Teil gespielt. Er hatte wirklich keine Lust auf dieses Treffen, insbesondere nach dem letzten Mal, das nur wenige Nächte zurücklag. Vielleicht überspitzte er seinen Ton ein wenig, aber manchmal musste man eben den territorialen Vampir geben, um sein Ziel zu erreichen. Aus dem gleichen Grund stand er auch so ausfüllend in seinem Türrahmen, eine Hand an der Tür selbst, bereit, sie jederzeit zu schließen.
      Jetzt, wo er so hier stand, konnte er endlich einen Blick auf diese mysteriöse Frau werfen. Immerhin hatte sie Tischmanieren. Sie roch zwar noch nach menschlichem Blut, aber Vincent konnte keines auf ihrer Kleidung erkennen. Er musterte ihre Züge, ihr Verhalten, aber nichts davon kam ihm bekannt vor. Er konnte einige ihrer... Angewohnheiten... zwar auf einen Hintergrund als Schauspielerin oder dergleichen zurückführen, aber die Frau selbst - wie auch immer sie sich nun nannte - war ihm völlig fremd. Woher also kannte sie ihn so gut?
    • Zur sichtbaren Freude von Denize Ruby Jane Clare Mary Melbwin die IV. vereitelte Vincent selbst ihren Annäherungsversuch an die Haushälterin, allerdings hielt ihre Freude nur so lange an, bis er den Mund zum zweiten Mal öffnete. Dann schienen die Züge in ihrem Gesicht zu fallen und eine ausgesprochen herzzerreißende Enttäuschung machte sich auf ihrer Miene breit, wenngleich nicht ganz sicher war, ob sie wirklich echt oder nur gespielt war. Sie musterte Vincent einmal von oben bis unten und schien es dann für klug zu halten, den ursprünglichen Abstand zur Tür wiederherzustellen.
      "Okay, manche Bücher sind ganz interessant. Manche. Zu wenig bei der Anzahl, die du hast."
      Sie hatte aufgehört zu wippen und obwohl man ihre lässige Haltung kaum als wachsam bezeichnen konnte, schien eine gewisse Steifheit in ihrem Körper eingezogen zu sein. Zumindest ihre Miene war noch äußerst lebhaft.
      "Ohh… Du kannst dich nicht erinnern? Das tut weh, Gabriel. Das tut weh. Dabei ist das schon", ihr Blick huschte in den nun deutlich verdeckteren Hausflur, wo sie Nora erwartete, "ein paar Jahre her. Vielleicht auch ein paar zu viel. Ich gebe zu, dass ich damals kürzere Haare hatte - und mehr Kleider habe ich auch getragen. Aber trotzdem; vielleicht erinnerst du dich, wenn ich den richtigen Namen gefunden habe. Sowas entgleitet einem gerne."
      Sie schüttelte den Kopf, dann schien sie sich daran zu erinnern, dass er ja noch eine Antwort haben wollte.
      "Ich will von dir wissen, ob du Teil von dem… ganzen bist. Unsere… Verwandte… spielen verrückt und jetzt tauchst du auch noch auf und ich soll annehmen, dass das nicht zusammenhängt? Komm schon, mein Lieber. Ich bin schon… eine Weile hier in Cambridge und bis auf ein paar kleinere Begegnungen, gab's sowas noch nie. Aber das ist auch eine Sache, die wir lieber nicht vor…", sie reckte den Hals, um nach Nora zu sehen, "... außerfamiliären Mitmenschen besprechen."