In his Thrall [Codren feat. Pumi]

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • In his Thrall [Codren feat. Pumi]

      Vorstellung --> In his Thrall [Codren feat. Pumi] - Vorstellung - ღAnime-Rpg-Cityღ










      Harker Heights war voller Aktivität. Während das stattliche Herrenhaus normalerweise in stiller Ruhe lag, war dieser Tag, der 30. Oktober, immer außerordentlich geschäftig. Mit Dienstmädchen, die hin und her eilten, Hausierer aus dem Dorf, die ihre Waren verkauften, und Frühankömmlingen, die Zimmer im Gästeflügel verlangten.
      In den zehn Jahren, die er nun schon in Harker lebte, war der 30. Oktober der Tag, den er am meisten hasste. Es war dieser Moment der Erwartung, den man spürt, bevor man in tiefes, kaltes, dunkles Wasser springt. Das Gefühl, dass sich etwas unter den eigenen Füßen windet oder etwas Schweres im Wasser an einem vorbeistreicht.
      Denn während sich der Haushalt auf eine Party vorbereitete, hatte er größere Beute zu fangen.
      "Werden diese Gedecke funktionieren, Meister?"
      Er blickte vom Schreibtisch zu seiner Dienerin Esther auf. Sie hielt ein Tablett mit nicht so silbernem Silberbesteck und feinem Porzellan hoch, ihr Blick flehentlich und schüchtern.
      Nichts davon ergab für ihn einen Sinn; er konnte sich weder mit dem Tablett noch mit dem Geschirr oder mit dem verdammten Gedeck beschäftigen.
      „Das wird schon, Esther“, sagte er mit einem schmalen Lächeln. „Wenn du mich jetzt bitte für den Rest des Nachmittags in Ruhe lassen würdest?"
      Esther machte einen tiefen Knicks und nickte mit dem Kopf.
      „Ja, Meister“, sagte sie, aber er hob die Hand.
      „Esther, ich habe dir gesagt, dass es keinen Grund gibt, sich vor mir zu verbeugen. Und hör auf, mich ‚Meister' zu nennen“, stellte er klar. "Eigentlich wäre es mir lieber, wenn du mich Vincent nennst."
      „Ja, Meister – ich meine Vincent“, sagte sie, sein Name fremd auf ihrer Zunge, ihre Stimme sanft und schüchtern. Sie neigte ihren Kopf noch einmal und hastete dann aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich.
      Das Mädchen war noch neu in seinem Haushalt und nicht an seine Zwanglosigkeit gewöhnt. Zweifellos hatte die Zeit, die sie in anderen Herrenhäusern verbracht hatte, sie dazu gebracht, ihren Arbeitgebern nur mit größtem Respekt zu begegnen. Aber Harker Heights war nicht wie andere Herrenhäuser.
      Tatsächlich hatte Harker Geheimnisse.
      Er stand auf und ging zur Tür, ließ das Schloss hinter Esther zuschnappen. Endlich hatte er einen Augenblick Zeit, um sich zu entspannen, sich Sorgen zu machen und zu planen. Sein Arbeitszimmer hieß ihn in stiller Umarmung willkommen, die alten Bücher an der Wand rochen nach Papier und Tinte. Eine einzelne Kerze auf seinem Schreibtisch erhellte den Raum, die Vorhänge waren wie immer zugezogen. Elektrisches Licht wäre effizienter gewesen, aber die verdammten Dinger schienen in Harker nie zu funktionieren – zumindest nicht durchgehend. Er drehte sich um und lehnte seinen Kopf gegen die Tür des Arbeitszimmers, kreuzte seine Beine an den Knöcheln, während er seine Hände in die Taschen seiner Hose schob und seufzte.
      Es waren Vorbereitungen zu treffen.
      Es war an der Zeit, sich auf die Öffnung des Schleiers vorzubereiten.
      Er setzte sich an seinen Schreibtisch zurück und breitete seine Hände darüber aus, während er den Stift hob, um mit dem Schreiben seines üblichen Briefes an seine Angestellten fortzufahren.
      Im Falle meines Todes oder Verschwindens teilen Sie bitte mein gesamtes Vermögen wie folgt auf...
      Esther Dawkins...
      Es war eine Art Testament, detaillierte Anweisungen darüber, was mit seinem Nachlass passieren sollte, wenn das Schlimmste eintrat. Sollten sich die Dinge so entwickeln, dass sie zu seinem Tod führten, sollte sein Vermögen seinen Bediensteten überlassen werden: den Menschen, die ihm am nächsten standen, die ihm bei der Pflege und Erhaltung des Herrenhauses halfen, wenn er nicht bei Tageslicht über das Grundstück wandeln konnte. Dies war sozusagen das Zuhause seiner Vorfahren, aber er hatte keine lebenden Verwandten mehr und schon gar keine Nachkommen. Somit dienten diese Männer und Frauen, die unter seine Aufsicht kamen, als seine einzige Familie.
      Diese Nacht war immer mit gewissen Gefahren verbunden, allen voran die Ankunft mysteriöser Gäste. Er hatte sich in letzter Zeit mit seltsamen Träumen herumgeschlagen, die mit Lust und Schmerz durchzogen waren. Er hatte solche Dinge nicht mehr gefühlt, seit sein Schöpfer ihn vor so vielen Jahrzehnten das letzte Mal angefasst hatte.
      Noch jetzt konnte er das Echo dieser Träume spüren. Träume, die er nicht haben sollte, denn seinesgleichen träumte nicht.
      Er atmete zitternd ein, als er das Dokument unterschrieb, blies über die Tinte zum Trocknen, faltete es schließlich ordentlich und steckte es in einen Umschlag. Das Dokument würde bei Bedarf an seine treueste Dienerin, Nora, weitergegeben werden, und er schrieb ihren Namen in großer, ordentlicher Schrift auf die Außenseite des Umschlags und platzierte ihn dort, wo sie ihn finden konnte.

      Er erlaubte sich nach getaner Arbeit noch ein wenig Ruhe. Pünktlich zu Sonnenuntergang erwachte Vincent Caley, seines Zeichens Lord von Harker Heights, aus seinem Schlaf. Es dauerte nicht lange, und der Herr des Hauses gesellte sich zu seinen Gästen im großen Salon und im Ballsaal. Die heutige Nacht und die in den November hinein würde er all diese Leute aus all ihren Gesellschaftsschichten beherbergen, verköstigen und dazu animieren, alle Zurückhaltung fahren zu lassen.
      Während er Hände schüttelte und Komplimente empfing oder verteilte, fragte sich Vincent, ob sein Plan dieses Jahr aufgehen würde, oder ob er einmal mehr die Versuchung für nichts und wieder nichts in sein Haus eingeladen hatte.
      Er machte gerade eine junge Dame aus gehobenem Hause mit einem angehenden Schriftsteller bekannt, da fiel sein Augenmerk auf einen Neuankömmling. Hin und wieder gab sich Lord Harker dann doch der Versuchung in seinem Haus hin und vielleicht - nur vielleicht - würde er sich dieses Jahr diesen Mann erlauben.
      Er warf Nora, die an der Tür stand und neue Gäste begrüßte, einen unauffälligen Blick zu. Sie nickte kaum merklich, dann setzte sie ein freundliches Lächeln auf und begrüßte auch diesen Neuankömmling in Harker Heights. Sie würde diesen Gast in Richtung ihres Arbeitgebers leiten, der sich ein wenig tiefer in den Salon zurückzog, weiterhin Hände schüttelte und freundliches Geplänkel über sich ergehen ließ.
    • In der Auffahrt zum Harker Heights Anwesen herrschte reger Verkehr. Kutschen drängten sich an Kutschen, eine dunkel gefärbte Schlange aus Wägen, die sich bis zur Straße hin vorzog, darauf wartend, dass die einzelnen Glieder Erlaubnis dazu erhielten, das Grundstück zu betreten. In allen Zwischenräumen dieser dunkelhäutigen Schlange, die sich seit mehreren Minuten schon nicht fortbewegt hatte, tummelten sich die Leute, Gäste größtenteils, mit ausladenden Gewändern oder zerlumpten Klamotten, in Arbeitskleidung oder Uniform, ein erster Blick auf dessen, was sich wohl im Anwesen selbst bereits tummeln mochte. Natürlich gab es auch Schaulustige irgendwo in diesen Reihen, Gaffer, die sich ihren Zutritt auch ohne Einladung erhofften, doch wenn man sie so leicht von dem Rest unterscheiden könnte, wäre wohl der ganze Aufmarsch nicht so langwierig aufgehalten worden.

      Es gab einen Ruck in der Schlange, dann wurde die vorderste Kutsche durchgelassen und die nächste rollte heran, ein dunkles Landauer Kutschwerk, dessen Kutschführer saubere und edle Kleidung trug. Er unterhielt sich mit dem Wachposten in einem südenglischen Dialekt und wies dann auf die Kutsche hinter sich, wie um zu zeigen, dass er sie tatsächlich mitgebracht hatte. Der Wachposten hob eine Hand, die mit einer leuchtenden Öllaterne ausgerüstet war, und ging zu der Wagentür, um sie zu öffnen.
      “Einladung.”
      Thomas van Helsing reichte sie ihm anstandslos. Er saß entspannt auf der einen Bank, gekleidet in einen dunkelblauen Frack nach neuester Mode, die Hände auf seinen Oberschenkeln abgelegt. Er behielt eine ruhige Miene bei, während der uniformierte Mann das Stück Papier begutachtete und dann erst ihn und schließlich auch die Frau, die ihm gegenüber saß, betrachtete.
      “Name?”
      Thomas musste sich einen gereizten Kommentar verkneifen, der seine Stimmung fast verraten hätte, nachdem die Wache nicht so aussah, als wäre sie zu großartigen Scherzen aufgelegt.
      Dr. van Helsing. Das ist”, er wies mit seiner Rechten auf die Frau, “meine Begleitung.
      Der Wachposten musterte die Einladung ein weiteres Mal, argwöhnisch, so wie Thomas in dem flackernden Licht zu erkennen glaubte, und gab sie dann zurück.
      “Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.”
      Dankesehr.
      Die Tür wurde mit einem hellen Knallen wieder zugeschlagen und ein paar Sekunden später setzte sich das Fahrwerk wieder schaukelnd in Bewegung und zuckelte die Auffahrt herauf.
      Thomas lehnte sich auf seiner Bank zurück und atmete langgezogen aus.
      “Nervös?”
      Sein Blick wanderte zu Darcy hinüber, die ihm gegenüber saß.

      Spoiler anzeigen


      (Outfit nicht inbegriffen)


      Darcy Brooks war die Schwester eines guten Freundes von Thomas und seine - wie er sie inoffiziell nannte - Scheinfrau. Sie waren nicht verheiratet, zumindest noch nicht, aber sie war die Person, die er an gesellschaftlichen Zusammenkünften vorzeigen konnte, um sich seinen Ruf aufrecht zu erhalten, damit niemand auf die Idee kam, hinter seinem Rücken lästerliche Vermutungen darüber preis zu geben, weshalb Dr. van Helsing ein Junggeselle war und mit keiner Frau verkehrte. Sie war so etwas wie eine ganz persönliche Einladung, die ihm Zugang zu allen möglichen Kontakten bescherte, die er sich nur vorstellen konnte: Ob Politiker, Professoren oder Adelsleute; mit einer Frau wie Darcy an seiner Seite, musste er nur den Wunsch aussprechen und schon wurde er zum Essen eingeladen, zum Theater oder zum Brunch. Sie war ein wahres Wunderwerkzug, etwas so schlichtes und doch so mächtiges, ein Universalschlüssel zu allen Schlössern dieser Welt. Thomas wäre niemals ohne sie hergekommen.
      Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles.
      Darcy musterte ihn mit ihrem offenen, neugierigem Blick, als könne sie allein durch ihre Augen weitere Antworten an den Tag befördern. Sie hatte sich für die Kontrolle der Wache manierlich aufgesetzt, aber jetzt lag sie wieder halb auf der Sitzbank und wippte mit dem Fuß ihres überkreuzten Beines in der Luft. Das weite Kleid, das sie sich für dieses Ereignis angezogen hatte, breitete sich über den Rest der Sitzbank aus wie ein geöffneter Regenschirm. Thomas wollte sie fast dazu ermahnen, etwas mehr Anstand zu zeigen, schluckte aber auch diesen Kommentar schweigend herunter. Seine Nerven waren angespannt, sein Hals fühlte sich trocken an.
      “... Nun, ich denke es wird alles reibungslos verlaufen. Und wenn nicht, konntest du das Anwesen zumindest einmal von innen betrachten. Das ist doch schonmal was, oder etwa nicht?”
      Sie wickelte sich eine Strähne ihrer Haare um den Finger und spielte damit. Thomas konnte nicht sagen warum, aber ihre Lässigkeit reizte ihn an diesem Abend. Er hätte sie gerne zurechtgewiesen, aber nachdem sie noch die ganze Nacht zusammen verbringen würden, wollte er ihre Laune nicht allzu schnell verderben.

      Die Kutsche beschrieb eine sanfte Kurve und dann hielt sie wieder an. Der Kutschführer sprang herab, marschierte zu der Tür nach hinten, öffnete sie elegant und trat dann beiseite, um Thomas das Aussteigen zu ermöglichen. Er duckte sich unter dem Türrahmen hindurch, stieg die kleine Treppe herab, drehte sich dann um und reichte Darcy eine Hand, die sich hinter ihm mit ihrem sündhaft teuren Kleid aus der Kutsche schälte. Man konnte wohl behaupten, dass sie gut aussah, eine Frau aus sichtbar adeligem Geschlecht, die niemals Dreck unter den Fingernägeln hatte und sich stets die Haut puderte - also genau das richtige, um an diesem Abend Thomas in einem guten Licht dastehen zu lassen. Er selbst sah in ihr nur das Werkzeug, das sie ihm bot, und das war ihm schon genug. Er ließ sie bei sich unterhaken und führte sie auf den hohen Eingang zu.
      Das Anwesen war durch und durch prächtig, so wie man es wohl bei einem Gebäude diesen Rufes nachsagte. Als wäre es dazu ausgelegt, dutzende Gäste zu empfangen, verschluckte der hohe Eingang sämtliche Besucher und ließ sie in einem strahlenden Foyer wieder heraus, in dem sich die Leute bereits in kleinen Gruppen zusammenfanden, angeregt miteinander tuschelten und mit glänzenden Augen ihre Umgebung betrachteten. Auch Thomas ließ sich für einen Augenblick hinreißen, starrte an die Decke hinauf und staunte über die alt-englische Baukunst, das Meisterwerk, das sich dort in den Wänden und Türen verbarg. Erst Darcys ungeduldiges Ziehen an seinem Arm veranlasste ihn dazu, seinen Blick wieder auf die Menge zu richten und den offenen Saal, in dem sich wohl vorerst alle versammelten, anzustreben. Er straffte den Rücken, zog die Schultern zurück und führte seine Begleitung dann auf den Durchgang zu, in dem bereits eine Dienerin des Hauses stand und die Neuankömmlinge mit ausladenden Gesten willkommen hieß. Als Thomas an ihr vorbeikam, lächelte sie nur allzu strahlend, begrüßte ihn zum alljährlichen All Hallow's Eve und schloss sich ihm auf seinem Weg zugleich an, eine lockere Floskel auf den Lippen, dass der Hausherr alle Menschen gerne zu sich einlud und sich über jedes Gesicht freuen würde. Thomas nickte nur; er konzentrierte sich für den Moment ausschließlich auf den Weg vor ihn. Er sah sich nun der Herausforderung gegenüber, gleich zwei Damen auf einmal durch die Menge zu manövrieren, vorbei an herumstehenden Gästen und durch Gruppen hindurch, stets darauf bedacht niemanden zu rempeln und dabei gleichzeitig nicht unhöflich zu erscheinen. Einige Gesichter kamen ihm bereits bekannt vor, das war wohl unausweichlich als bekannter Hausarzt, und er wartete nur darauf, dass man ihn ansprechen würde. Ihn und Darcy, die sich vornehm an ihm festhielt und ihr einstudiertes Lächeln strahlen ließ.
      Die Hausdienerin machte Halt bei einer kleinen Gruppe, in die sich Thomas unweigerlich bei seiner Ankunft hineindrängte. Er warf einen Blick in die Runde, streckte seine Hand aus und leitete sie dann augenblicklich in die Richtung des Mannes, den die Hausdienerin als Hausherr von Harker Heights auswies. Als er ihn sah, stutzte Thomas für einen Moment.

      Der Hausherr von Harker Heights war gänzlich anders, als Thomas sich ihn vorgestellt hatte. Mit einem lebendigen Glitzern in den Augen, einem charmanten Lächeln auf den Lippen und einer - wie ihm schien - immerzu perfekten Umgangsform, entsprach er so ziemlich gar nichts von dem, wovon Thomas jemals gehört hatte, weder als Mensch noch als das, für das er ihn hielt. Der sagenumwobende Mann, das Mysterium, das in diesen Wänden hauste, sein Ziel des heutigen Abends und der vergangenen Wochen, all das versteckte sich hinter einem jungen, sympathischen Mann, dessen Lächeln Thomas für einen Moment völlig in den Bann zog. Er musste sich willentlich daran erinnern, was er wirklich war - was Thomas glaubte, das er wirklich war - um zu seiner Stimme zurückzufinden.
      "Ich freue mich über die Gelegenheit. Dr. van Helsing mein Name, das ist meine... Freundin, Ms. Brooks."
      Darcy löste sich von Thomas und streckte manierlich ihren Handrücken aus, um ihn von ihrem Gegenüber küssen zu lassen.
    • Der Geruch von Zimt und Antiseptikum füllte seine Nase und er wandte sich im genau richtigen Augenblick um, um dem Blick des Neuankömmlings zu begegnen. Sofort lächelte er freundlich, als sich die beiden vorstellten. Ganz, wie es die Höflichkeit gebot, ergriff er die Hand der Dame, verneigte sich ein bisschen tiefer als nötig und platzierte einen sanften Kuss auf ihre behandschuhten Knöchel.
      "Enchanté", grüßte er die Frau. "Vincent Caley. Oder Lord Harker, wenn Sie gestelzt höflich bleiben wollen."
      Er schenkte ihr noch ein freundliches Lächeln, dann erst wandte er sich dem guten Doktor zu. Ein Van Helsing also. Diese Nacht wurde ja immer interessanter.
      "Von Ihnen hört man ja so einiges. Nur Gutes, möchte ich betonen. Van Helsing... ist das Niederländisch?"
      Eine ältere Dame zu seiner Linken kicherte leise.
      "Sie müssen ihm verzeihen, Doktor. Vincent ist immer so erpicht auf die Herkunft von Worten! Er spricht fünf Sprachen, wussten Sie das? Lady Judithe Norwich."
      Die alte Dame wusste wirklich, wie man eine Unterhaltung an sich riss, aber Vincent könnte sich nicht weniger für sie interessieren. Sie hatte ihre besten Jahre hinter sich, jeder konnte das sehen. Doch sie klammerte sich verzweifelt an eine Jugendhaftigkeit, die ihr schon vor Jahren abhanden gekommen war. Sie versteckte sich unter überflüssigen Schichten teuren Make-Ups und Lagen an Unterröcken. Vincent hatte fast schon Mitleid mit ihr. Es war das dritte Mal, dass sie seiner Einladung folgte. Das erste Jahr war sie mit ihrem Ehemann erschienen, das zweite Jahr mit ihrem Sohn. Dieses Jahr war sie allein, bis auf einen Diener, den sie mitgebracht hatte. Der junge Mann hielt sich am Rande des Raumes auf, wie es sich gebührte, auch wenn Vincents Bedienstete sich alle Mühe gaben, ihm die entspannten Regeln dieses Haushaltes näher zu bringen.
      "Was soll ich sagen?", griff Vincent die Unterhaltung auf. "Jeder braucht ein Hobby, oder nicht?"
      Lady Norwich lachte überschwänglich und klopfte ihm scherzhaft auf den Unterarm.
      "Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?"
      Vincent drehte sich um und da stand einer von seinen jungen Männern, ein kleines Kerlchen namens Eric. Eric hielt ein Tablett in der Hand und Vincent griff sich zwei Champagnergläser, die er seinen neuen Gästen reichte, bevor er sich selbst ebenfalls eines nahm. Daraufhin entfernte sich Eric mit einem höflichen Lächeln, um frisch gefüllte Gläser zu holen.
      Er musterte den neusten Van Helsing Erben. Er hatte tatsächlich schon von ihm gehört. Ein Arzt, wie einst Abraham. Die Verwandtschaft stand diesem hier im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht geschrieben. Vincent erkannte die Nase wieder, die dunklen Haare. Allerdings sah dieser Dr. Van Helsing besser aus als der Letzte. Wenn sich Vincent nicht völlig irrte, war der Mann nervös. Interessant, sollte er doch an Gesellschaften wie diese gewöhnt sein.
      "Auf einen netten Abend und eine friedliche Nacht der Geister", toastete Vincent seinen Gästen zu, bevor er einen Schluck von seinem Champagner nahm.
      Der Alkohol würde keinen allzu großen Effekt auf ihn haben, dank seines langsameren Kreislaufes. Diesen Champagner trank er sowie so nur zum Schein. Er hatte den Geschmack nie wirklich gemocht. Vincent bevorzugte eine gute Flasche Wein.
      "Wo kommen Sie her, Doktor?", fragte er. "Ich weiß nie wo genau diese ganzen Einladungen eigentlich hingehen."

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Insane Pumpkin ()

    • Skepsis drohte Thomas für einen Moment zu überwältigen, ein Gefühl, das ihm aus der Tiefe seiner Magengrube entsprang und bis in seinen Kopf hinauf schoss, um dort seine Gedanken umzugraben. Der Plan, musste er sich willentlich erinnern, halte dich an den Plan, es ist doch nicht das erste Mal, wenn er es nicht ist, ist er es eben nicht, aber das gilt es erst festzustellen. Er kam sich wie ein Dummkopf vor, wie schnell er sich von dem Lächeln des Mannes vor ihm einwickeln ließ, als könnte er es sich erlauben, in so einer Gesellschaft - mit Darcy an seiner Seite - solche Gedanken zu haben. Halte dich an den Plan.
      Er straffte seine Schultern und war froh um die kurze Ablenkung, die eine Frau in der Runde leistete. Sie war allerdings nur äußerst kurz.
      "Fünf Sprachen? Das ist ein beachtliches Talent. In der heutigen Gesellschaft kann man sich deutlich abzeichnen, wenn man schon mehr als zwei spricht."
      Er ließ sich von Mrs. Norwich die Hand geben, so wie Darcy es bereits beim Hausherren von Harker Heights getan hatte, und küsste sie - sehr zur Entzückung der Alten - sanft, ehe er sich wieder dem Lord zuwandte.
      "Aber Sie haben recht, meine Ahnen stammen tatsächlich aus den Niederlanden. Das ist allerdings schon einige Generationen her, ich würde mich selbst eher als gebürtigen Engländer bezeichnen. Sie wissen sicher, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass die Sprache einfach zu merkwürdig ist, um sich damit langfristig auseinanderzusetzen."
      Die Unterhaltung hätte nicht lockerer sein können, das Thema nicht unbedeutender, die perfekte Möglichkeit, um dem Lord auf den Zahn zu fühlen, ohne sich dabei selbst zu verraten. Thomas musste nur seine Redekünste auspacken, ein bisschen mit den Wörtern feilschen, so wie er es auch von schwierigen Patienten kannte, die ihm lebenswichtige Informationen nicht preis geben wollten. Das sollte in diesem entspannten Umfeld doch kein Problem darstellen.
      Darcy musterte den Lord mit einer unverblühmten Neugier, die Art von Aufmerksamkeit, die Thomas bei sich zu verstecken versuchte. Er bemühte sich darum, ihr einen Blick zukommen zu lassen, dass sie ihr ganzes Vorhaben nicht verraten würde, als ihm schon ein Glas Champagner überreicht wurde und er es mit einem seichten Lächeln entgegen nahm. Lord Harker sprach einen Toast aus und Thomas prostete ihm zu, ehe er und Darcy tranken. Der Champagner hatte einen leicht süßlichen Nachgeschmack, geradezu perfekt, zweifellos eine Marke von Qualität. Etwas anderes hätte man in diesen Gemäuern wohl auch nicht erwarten können.
      "Ich komme aus Cambridge, meine Familie besitzt dort ein kleines Anwesen - kein so prunkvolles wie Ihres, wenn ich anmerken darf. Es ist beinahe eine Schande, dass Sie nur zu Hollow's Eve einladen, wenn man hier doch auch ein wundervolles Osterfest oder gar Allerheiligen feiern könnte. Haben Sie je darüber nachgedacht, Lord Harker? Sind Sie ein religiöser Mann?"
      Er nippte von seinem Champagner und schob sich die freie Hand in die Hosentasche, wo er ein kleines, hölzernes Kruzifix umschloss, das er sich extra für diese Veranstaltung eingesteckt hatte. Normalerweise ließ er seinen Glauben nicht allzu sehr heraushängen, um seine Neutralität als Arzt zu wahren, aber wenn man es mit einer möglichen Ausgeburt der Hölle zu tun hatte, gab es durchaus auch Ausnahmen.
    • "Cambridge? So so. Hübsches Örtchen, auch wenn ich schon eine Weile nicht mehr dort gewesen bin", kommentierte Vincent und machte sich eine Notiz.
      Es war immer gut zu wissen, wo genau diejenigen lebten, die einen vernichten wollten nur weil man existierte. Vincent gehörte nicht zu denjenigen, die ihre Jäger jagten, aber er wollte doch gut informiert sein. Und im letzten Jahrzehnt hatte er nur wenig getan, um sich über die Welt zu informieren.
      "Ah! Religion. Das ist eine komplizierte Frage, werter Doktor. Ich wurde katholisch erzogen, so viel kann ich sagen. Gehe ich brav in die Kirche am Tag unseres Herrn? Nein. Ich bin in meinem Leben schon viel gereist - für irgendwas muss ich mein Sprachtalent ja benutzen - und habe dabei gelernt, dass Religion ein Konzept ist, das die Menschen selbst nicht zu verstehen scheinen. Was spielt es schon für eine Rolle, ob wir in den christlichen Himmel kommen oder das buddhistische Nirwana erreichen nach unserem Tod? Ich würde mich also nicht als religiös bezeichnen, nein. Sie sind übrigens nicht der Erste, der mich darauf anspricht, mehr Feiern zu veranstalten. Ich fürchte, ich bin nicht besonders gut im Umgang mit größeren Menschenansammlungen. Diese zwei Nächte jedes Jahr jagen mir schon eine Heidenangst ein."
      Er lachte leise in sein Champagnerglas hinein, um seine nur halb gespielte Unsicherheit ein wenig zu verbergen.
      "Wenn wir aber über Spiritualität anstelle von Religion reden, sieht die Sache bei mir schon ganz anders aus."
      Vincent ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, auch wenn er wusste, dass sich seine nicht-körperlichen Mitbewohner eher von den Festlichkeiten fernhielten und darauf warteten, das Ruhe in dem Gemäuer einkehrte, bevor sie ihren Schabernack trieben.
      "In einem Haus wie Harker Heights gibt es viele Geister und ich wäre ein Narr, wenn ich sie nicht respektieren würde. Ich gestehe, ich bin dem Trend erlegen, mich für die okkulte Seite des Lebens zu interessieren."
      Lady Norwich kicherte leise.
      "Ich lasse euch Jungspunde mal allein. Bei dem ganzen Gerede von Geistern kann ich heute Nacht gar nicht schlafen," verkündete sie.
      Vincent nahm ihre Hand von seinem Unterarm, platzierte höflich einen Kuss auf ihren Fingerknöcheln und verabschiedete die alte Dame, die sich schon schnell in eine andere Konversation mit einem Haufen anderer Leute warf. Er hoffte, dass seine Mitbewohner sie heute Nacht ein wenig in Ruhe ließen.
      "Wenn Sie in den kommenden Nächten ein paar Türen zuschlagen hören, seien sie nicht beunruhigt. Manche meiner Geister nutzen diese Zeit des Jahres, um ihren Spaß zu treiben. Sie sind harmlos, solange man sie nicht stört", griff Vincent die Unterhaltung mit Dr. Van Helsing und dessen Begleitung wieder auf.
      Ihm waren die Blicke nicht entgangen, die sie ihm zuwarf. Er schenkte ihr ein sanftes Lächeln und in einem scheinbar unbeobachteten Moment machte er sich die Mühe ihre natürliche Schönheit zu bewundern. Sie wusste, wie man sich in solchen Kreisen bewegte und es war mehr als offensichtlich, dass sie eine Art Rettungsanker für den guten Doktor darstellte. Wahrscheinlich war sie es, die ihn dazu brachte, Konversationen mit anderen bei solchen Veranstaltungen zu beginnen. Vielleicht war es sogar sie, die ihn zu solchen Veranstaltungen mitnahm und nicht umgekehrt.
      "Wie steht es mit Ihnen, Ms Brooks? Sie wissen jetzt so viel über meine Interessen und alles, was ich über Sie weiß ist, dass Sie einen außerordentlichen Schneider kennen."
    • Lord Harker schien auf Thomas' Frage wahrheitsgemäß zu antworten, oder zumindest so viel zu verraten, wie er es sich erlauben konnte, aber seine Aussage war leider höchst schwammig und umrundete das Thema professionell, bevor er eine Bemerkung machte, die für Thomas erst tatsächlich interessant war. Die ganze Veranstaltung bereitete ihm Angst? Wovor konnte sich ein Mann, der sich inmitten all dieser Gäste so selbstverständlich bewegte wie ein Fisch im Wasser, sich fürchten? Konnte das Teil des Grundes sein, weshalb er auch sonst nie in der Öffentlichkeit auftrat und so ein großes Geheimnis um seine Person machte? Weil ihm Leute Angst bereiteten? Das passte nun wirklich nicht in das Schema, nach dem Thomas Ausschau hielt.
      "Sie sind zu bescheiden, Lord Harker, es besteht gar kein Zweifel, dass Sie ein exzellenter Gastgeber sind. Man spricht in allen Ländereien über diese Nacht und dieses Fest, da besteht gar kein Grund, sich davor zu fürchten."
      Thomas konnte sich nicht vorstellen, woher sonst diese Bemerkung kam, als aus Angst davor, an gesellschaftlicher Achtung zu verlieren. Zumindest darin war Lord Harker zumindest so normal, wie jeder vernünftige Gentleman in England.
      Sein Gegenüber fuhr fort damit, die Existenz von Geistern anzusprechen, was Darcy ein fasziniertes "Oh!" entlockte und Thomas doch tatsächlich dazu veranlasste, es dem Mann gleich zu tun und einen Blick durch den Raum zu werfen, als könne er die Geister beim spuken erwischen. Die alte Lady Norwich nahm sogleich die Gelegenheit wahr und verabschiedete sich aus der Runde, sehr zu Thomas' Erleichterung. Ein Gast weniger, der drohte, seine Arbeit zu unterbrechen.
      "Ich danke vielmals für die Warnung", schloss er das Thema ab und ergänzte: "Womöglich würde es sich lohnen, einen Kammerjäger zu beauftragen."
      Er selbst hatte reichlich wenig Erfahrung mit Geistern, allerdings ließ die übernatürliche Präsenz wieder die Vermutung zu, dass auch noch andere Wesen ihr Unwesen in diesem Gebäude trieben. Sobald er aus dem Gespräch mit Lord Harker nichts weiter herauszuholen vermochte, würde Thomas sich einmal gründlich in den Räumlichkeiten umsehen.
      Darcy ließ sich derweil von dem natürlichen Charme ihres Gastgebers umwerben und erwiderte das Lächeln, das er ihr zukommen ließ. Sie besaß bei seiner Bemerkung sogar die Frechheit, unter ihrem aufgelegten Puder zu erröten.
      "Es schmeichelt mir, dass Sie fragen, werter Herr. Sie kennen vermutlich meinen Bruder besser als mich, Stephen Brooks, dem Direktor von Titanium Industries, dem Mienen-Netzwerk bei Manchester. Unser Vater war einer der Co-Gründer, der die ersten Fabriken hochziehen ließ und mittlerweile sind wir fast Marktführer im Kohle-Export. Ich helfe meinem Bruder oft in der Buchhaltung und bei der Ablage, wann immer ich dafür Zeit finde. Eigentlich könnte man meinen, dass ein Arzt genug verdient, damit seine Frau nicht auch arbeiten muss, aber wir sind auch noch nicht verheiratet, nicht wahr, Thomas?"
      Sie sah zu Thomas auf, ein jetzt provokantes Lächeln auf den Lippen, und tätschelte seinen Unterarm. Er entzog sich ihrer Berührung und gleichzeitig dem Zwang, auf die unausgesprochene Bemerkung hinter der Aussage eine Antwort zu liefern, indem er sein Glas an die Lippen hob und gezogen daran nippte. Darcy zog ihre Hand wieder zurück und richtete ihren neugierigen Blick wieder auf Lord Harker, die zwischenzeitliche Provokation wie weggewischt.
      "Stephen und mein Thomas kennen sich schon sehr lange, man könnte sagen, das Schicksal hat uns zusammengeführt. Nicht wahr, Thomas?"
      "Wohl wahr."
      Sie lächelte.
      "Leider hatte Stephen keine Einladung erhalten, sonst wäre er jetzt auch hier. Ich hätte ihn Ihnen zu gern vorgestellt, aber vielleicht ja im nächsten Jahr. Ich will die Herren aber auch gar nicht mit meinem weibischen Geschwätz aufhalten, bitte, fahrt ruhig ohne mich fort. Ich denke, ich werde mich Mrs. Norwich anschließen, sie scheint sich hier ja bereits auszukennen. Vielleicht lässt sich heute Abend noch eine Damenrunde zusammenfinden, das wäre doch lustig, oder?"
      Sie machte einen knappen Knicks vor Lord Harker, drehte sich zu Thomas um, stellte sich auf die Zehenspitzen, platzierte einen Kuss auf seiner Wange und spazierte dann gemütlich zu der Gruppe davon, in der auch Lady Norwich stand. Es war ihre leichteste Übung, sich in die Gemeinschaft einzufädeln und keine zwei Sekunden später auch schon das Gesprächsthema aufzuschnappen. Thomas sah ihr nur kurz nach.
      "Eine Hochzeit ist schwierig, wo Manchester und Cambridge so weit auseinander liegen. Man müsste ständig unterwegs sein, um irgendwelche Eltern zu besuchen. Ganz abgesehen davon möchte ich meine Praxis nicht aufgeben."
      Er räusperte sich knapp.
      "Genug davon. Wo ist eigentlich Ihre Frau? Sagt mir nicht, dass Ihr dieses ganze Fest ohne die Hilfe einer weiblichen Hand zustande bekommen habt."
    • Vincent lauschte mit echtem Interesse den Erklärungen dieser wunderschönen Frau. Allerdings galt dieses Interesse weniger ihrer Geschichte und mehr den Informationen, die er über den guten Doktor erhalten konnte. Wenn er ehrlich war, dann tat das sogar weniger, weil er sich über seinen natürlichen Feind informieren wollte und mehr, weil er diesen Mann selbst interessant fand.
      "Mit irgendetwas muss man sich ja die Zeit vertreiben, wenn der eigene Ehemann so viel unterwegs ist, nicht wahr?" kommentierte Vincent die Ausführungen über gelegentliche Buchhaltung. "Vielleicht lerne ich Ihren Bruder ja tatsächlich einmal kennen? Wir werden sehen."
      Er erwiderte den Knicks der Lady mit einer leichten Verbeugung und sah ihr nach, wie sie von dannen zog. Und dann blieb nur noch Dr. Van Helsing in seinem direkten Umkreis. Sofort wurde er sich des Aromas von Zimt und Antiseptikum wieder bewusst. Er musste ob dessen Aussage leise lachen.
      "Mein guter Doktor, das ist die dümmste Ausrede, die ich je gehört habe. Entschuldigen Sie meine Direktheit, aber ich bin mir sicher, Ms. Brooks' Eltern haben absolut nichts dagegen, ihre Tochter - die ihnen wahrscheinlich viel zu viel ließt und dann beherrscht sie auch noch Mathematik! - in die Hände eines fähigen Arztes aus gutem Hause zu geben, egal wo besagter Arzt lebt. Aber ich werde Ihnen daraus keinen Vorwurf machen."
      Er nippte an seinem Champagnerglas und leerte es damit. Beinahe sofort war Eric wieder an seiner Seite, um das leere Glas zu empfangen.
      "Danke, Eric. Sei so gut und bringe eine Flasche Brandy und zwei Gläser rüber in den Salon, ja?"
      Eric nickte eifrig und verschwand wieder.
      "Kommen Sie", wandte sich Vincent wieder an Dr. Van Helsing. "Suchen wir uns einen etwas ruhigeren Ort und setzen uns."
      Er führte den Mann aus dem großen Ballsaal in einen angrenzenden Salon, der zwar auch groß war, aber wesentlich weniger geschäftig. Hier saßen die meisten Leute herum, einige rauchten Zigarren, noch mehr gönnten sich einen Drink. Der Raum war gefüllt mit ledernen Möbelstücken, die in kleinen oder größeren Gruppen arrangiert waren. Der Salon könnte genauso gut ein Gentleman-Club aus der Großstadt sein.
      Vincent hielt auf eine Ecke zu, in der zwei große Sessel an einem kunstvoll geschnitzten Kaffeetisch aus Mahagoni standen. Er bedeutete dem Doktor, sich zu setzen. Kurz darauf erschien Eric, der eine Flasche teuren Brandys auf dem Tisch abstellte, nachdem er den beiden Herren eingeschenkt hatte. Dann verschwand er wieder.
      "Um Ihre Frage zu beantworten, Doktor: An diesen Feierlichkeiten sind sogar viele weibliche Hände beteiligt. Allerdings ist keine davon mit mir verheiratet. Sie sehen, ich kann Ihnen schwerlich einen Vorwurf aus Ihrer Abneigung einer Hochzeit gegenüber machen, wenn ich selbst Junggeselle bin."
      Daraufhin prostete er dem anderen Mann mit einem Lächeln zu.
      "Ich hatte das Glück, irgendwelchen Arrangements aus dem Weg gehen zu können und seither... ich weiß nicht. Ich hatte einfach nie das Gefühl, mich entscheiden zu müssen. Über die Jahre habe ich mich mit meinen Reisen herausgeredet. Damit, dass ich nicht viele Kontakte in der Gesellschaft habe. Dass ich eine langweilige Partie wäre - ich bin eine furchtbare Leseratte, müssen Sie wissen."
      Das Getuschel war natürlich groß, gerade nach seiner alljährlichen Feier. Und die Tatsache, dass es keine Frau an seiner Seite gab, feuerte auch nur die Gerüchte über das verruchte Bordell in seinem Garten an. Vincent hatte schon vor langer Zeit gelernt, solche Kommentare zu ignorieren und sich nichts daraus zu machen. Solange sich die Leute das Maul über ihn zerrissen, blieb irgendwo ein anderer junger Mann davon verschont.
      "Verraten Sie mir, warum Sie einer Heirat mit Ms. Brooks nicht zugeneigt sind? Sie scheint eine intelligente Frau zu sein. Und gut aussehen tut sie allemal, da sind wir uns sicher einig."
    • Thomas legte die Stirn in Falten, ein Reflex gegenüber der unverfrorenen Beobachtung, die Lord Harker von sich gab. Er mochte es nicht, dass seine Ausrede als so offensichtlich empfunden wurde, denn es ließ ihn selbst in seinem Glauben wanken, dass er die Hochzeit weiter hinauszögern konnte. Es war ein heikles Thema, mit dem er sich nicht gerne auseinandersetzte, denn es führte unweigerlich zu einer viel zu hohen Intimität, die er sich mit seiner Scheinfrau gerne erspart hätte. Aber der fremde Lord Harker, den er vielleicht seit einer halben Stunde kannte, hatte ja recht: Es war viel zu offensichtlich, dass es eine schlechte Ausrede war. Er würde sich demnächst eine neue einfallen lassen müssen.
      Der Hausherr forderte ihn dazu auf, ihm zweifellos in den Salon zu folgen und nachdem Thomas sich nun auch der Last von Darcy entledigt hatte, war es ihm nur allzu recht, seinen Plan um einen winzigen Schritt weiter in Gang zu setzen und bereits die ersten anderen Räumlichkeiten kennenzulernen. Er würde gewiss noch genug Zeit haben, um sich alles gründlich anzusehen, aber je früher er damit anfing, desto unwahrscheinlicher war es, dass er doch nicht damit fertig werden würde. Der Salon war bereits ein guter Anfang.

      Der Raum war ähnlich prunkvoll wie bereits der Saal und das Foyer, allerdings war es hier deutlich leiser und gemütlicher, die Gespräche friedlicher und nicht in einem so heillosen Durcheinander wie in dem Getümmel vor der Tür. Es roch drinnen nach den edleren Kneipen, in die sich auch Thomas gelegentlich verirrte, wo Bankiers und Anwälte und Ärzte wie er über die neueste Entwicklung ihrer Branche diskutierten, sich mit einem Glas Whiskey in der Hand zurücklehnten und über zukünftige Tendenzen spekulierten. Hier fühlte Thomas sich sogleich viel wohler, ein ihm bekanntes Umfeld, das ihm keine Unsicherheiten bescherte. Er folgte Lord Harker zu der kleinen Ecke, in der bereits zwei Sessel bereitstanden - ob sie extra für den Hausherren freigehalten wurden? - und setzte sich, ehe auch schon der Diener namens Eric angerauscht kam und dem Wunsch seines Herrn Folge leistete. Thomas rückte sich in seinem Sessel zurecht, strich die Falten seines Fracks glatt und bedankte sich, ehe der Junge so leise wie ein Fuchs wieder rauszischte und er sich sein Glas nahm. Die beiden Männer prosteten sich zu und tranken.
      "Das ist eine ähnlich schlecht Ausrede wie die meine", bemerkte Thomas und musste auflachen. Jetzt saß er mit dem Verdächtigen dieses Abends, der auch gleichzeitig sein Gastgeber war, in dessen Salon, nur wenige Stunden davon entfernt zu einer Entscheidung über dessen Identität zu gelangen, und unterhielt sich mit ihm darüber, dass sie beide auf ihre eigenen Arten einer Hochzeit aus dem Weg gingen. Wie absolut absurd!
      Sein Lachen hinterließ ein Schmunzeln auf seinen Lippen, als er schließlich endete.
      "Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich werde Ihnen davon erzählen, weshalb ich die Vermählung mit meiner Freundin hinauszögere und Sie werden mir erklären, weshalb ein junger Mann wie Sie noch Junggeselle ist. Auswahl hätten Sie ja genug - Himmel, Darcy hätte sich Ihnen ja sogar an den Hals geworfen, wenn sie nicht bereits vergeben gewesen wäre. Sie können mir nicht erzählen, dass es dort draußen nicht eine Frau gäbe, die sich auch ohne eine Hochzeit an Sie binden würde. Das Haus ist schließlich auch groß genug."
      Er schwenkte für einen Moment das Glas in der Hand, während er sein Gegenüber musterte und abschätzte, welche Wahrheiten er erzählen konnte - ja, welche er sogar erzählen wollte - und welche er unter allen Umständen verschweigen würde. Dass die Geschwister Brooks auch Vampirjagd betrieben, war beispielsweise eine Wahrheit, die definitiv zu letzterer Kategorie zählte.
      "Wie Darcy bereits erwähnt hatte, kenne ich Stephen schon sehr lange, auch schon bevor er Direktor wurde. Es stand nie außer Frage, dass er seine Schwester mit mir vermählen würde, um sie in vertrauter Obhut zu wissen, aber ich habe mich schon während meiner Studienzeit davor gedrückt, habe ihm gesagt, dass ich Zeit brauche, um ein Leben aufzubauen, ein Haus, eine Karriere, einen Unterhalt. Nachdem alles eingetroffen war, habe ich mich dennoch weiterhin gedrückt. Ich schätze, ich bin schlichtweg nicht der Typ für feste Bindungen. Darcy ist eine wunderbare Frau, ganz atemberaubend, sicher, aber eine Hochzeit fühlt sich falsch an. Was will sie denn bei mir, etwa in meiner Praxis sitzen und Rezepte für meine Patienten schreiben? Wenn es nach ihr ginge, würden wir jeden zweiten Abend ein solches Fest wie dieses besuchen und das würde mir den letzten Nerv rauben."
      Er trank von seinem Brandy, ließ den Blick für einen Moment zu den anderen Gästen abschweifen, suchte unterschwellig nach bekannten Gesichtern und sah Lord Harker wieder in die Augen.
      "Aber natürlich sind das alles nur weitere Ausreden. Eine bessere Frau als Darcy werde ich wohl nirgends finden, wir sind quasi füreinander bestimmt. Ich habe ihr versprochen, dass wir uns im Frühjahr, wenn es wieder wärmer wird, nach einem Haus umsehen werden, das dann auch groß genug für Kinder sein wird, und dann werde ich ihr auch einen Antrag machen, das habe ich mir fest vorgenommen. Sie hat wahrlich genug Geduld mit mir gehabt.
      Jetzt sind Sie aber an der Reihe, Lord Harker. Erzählen Sie mir, weshalb Sie es lieber zulassen, dass man Ihren Namen wegen schändlicher Gerüchte über ein Bordell und dergleichen in den Schmutz zieht, anstatt sich einer Frau zu bemächtigen. Sie müssten nur durch diese Tür gehen und ich würde mit Ihnen wetten, dass sich alle Junggesellinnen in diesem Gebäude sofort anstellen würden, um sich bei ihnen einhaken zu dürfen."
    • Vincent musterte den Mann, der ihm da gegenübersaß, eingehend, während dieser von seinem romantischen Leben erzählte. Eine Gesichte, die er nicht zum ersten Mal hörte und die für gewöhnlich auf einen von zwei Typen Mensch hinwies. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der gute Doktor lieber jedem Rock hinterher jagte, den er finden konnte, also musste es wohl die zweite Möglichkeit sein.
      "Mein Lieber, das ist aber keine wirkliche Antwort. Viele Worte, aber nicht viel Inhalt."
      Er zwinkerte Dr. Van Helsing lächelnd zu und lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück. Er streckte die Beine aus, kreuzte sie an den Knöcheln und lehnte seinen Kopf nach hinten auf die Rückenlehne. Für einen Moment betrachtete er die edle Decke.
      "Gerüchte sind Gerüchte", seufzte er schließlich. "Selbst wenn ich mir jetzt sofort eine Frau an die Seite zerren, sie heiraten und dann auch noch Kinder mit ihr Zeugen würde, so würden sich die edlen Damen und Herren da draußen - und hier drin - doch nur weiter das Maul zerreißen. Und nur, weil ich - wie sie es sagen - jede haben könnte, heißt das noch lange nicht, dass ich all diese Frauen auch will."
      Er hob den Kopf wieder und lächelte den guten Doktor freudlos an.
      "Ich bin der letzte, der behauptet, keusch zu sein und noch nie die Freuden der Fleischeslust empfunden zu haben, mit Nichten. Mir wurde sogar schon einmal gravierend das Herz gebrochen. Und sagen Sie jetzt nicht, dass mich dieser Schmerz noch bis heute verfolgt. Ich versichere Ihnen, ich habe diese Trennung verarbeitet. Es fühlt sich so an, als liege es schon ein ganzes Leben zurück. Vielleicht bin ich auch einfach nicht der Typ für feste Bindungen?"
      Ein Rumpeln ging durch den Raum, laut genug, um ein paar Unterhaltungen kurzzeitig zu unterbrechen. Vincent aber, der sehr viel mehr zu hören vermochte, zuckte regelrecht zusammen.
      "Ach herrje. Ich hatte eigentlich gehofft, dass das nicht passieren würde. Hoffen wir mal, dass der Sturm nicht zu lang anhält und sich schnell wieder verzieht," kommentierte er.
      Heftiger Regen war um diese Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Die meisten Gewitter verzogen sich nach nur ein, vielleicht zwei Stunden wieder. Bevor er am Morgen zu Bett gegangen war hatte sich Vincent schon gefragt, wann das Wetter sich verschlechtern würde. Der Himmel war verhangen gewesen und hatte den Sonnenaufgang versteckt, die Luft hatte nach baldigem Regen gerochen.
      Vincent ließ seinen Blick noch einmal über den Doktor wandern. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber dieser Mann gab ihm das Gefühl, etwas zu suchen. Die Frage war nur: Was?
      "Unterhalten Sie mich," sagte Vincent. "Glauben Sie, dass ich ein gar monströses Bordell auf meinem Grundstück beherberge?"
    • Thomas' Erklärung schien auf wenig Verständnis zu stoßen, was nur davon zeugte, dass er selbst seine Erklärung noch nicht so säuberlich ausgearbeitet hatte, wie er es gerne hätte. Aber das war ja nichts neues, in Zukunft würde er einfach erzählen, dass ihm das Studium zu Kopf gestiegen war - Medizin war schließlich bekanntermaßen äußerst zeitaufwendig und niemand würde es wohl in Frage stellen, wenn er die Bedürfnisse seiner Patienten vor seine persönlichen stellte. Ja, das war wohl eine gute Erklärung.
      Lord Hakar streckte sich vor ihm in seinem Sessel aus, ein schlanker Mann mit - wie ihm jetzt erst richtig auffiel - unglaublich langen Beinen, die sich augenscheinlich bis zu seiner Brust hinaufzogen und dort bereits in den Hals übergingen, den er unwissentlich in seiner Position gänzlich entblößte. Thomas' Blick wurde für einen Moment von der nackten Haut angezogen, von dem zuckenden Kehlkopf, der sich darunter abzeichnete und seine Bewegungen vollführte, während Lord Hakar wieder anfing zu sprechen. Dann hob er unvermittelt den Kopf und Thomas riss sich von dem Anblick los, starrte in sein Glas hinein und trank schuldbewusst, die Augen erst nach ein paar Sekunden wieder auf sein Gegenüber richtend. Seine Antwort wurde von einem Donnergrollen ersetzt, das dem anderen Mann eine merkwürdige Reaktion entlockte und damit Thomas' Alarmglocken klingen ließ. Er schob die sündhaften Gedanken beiseite, die sich vor einem Moment noch in sein Gehirn zu drängen versucht hatten, und machte sich eine gedankliche Notiz darüber. Außergewöhnliches Hörvermögen - oder der Mann hatte eine außergewöhnliche Angst vor Gewitter. Er konnte letzteres nicht ausschließen, aber diese Beobachtung ließ sich womöglich durch ein einfaches Experiment bestätigen. Er justierte sich in seinem Sessel zu einer seitlich ausgerichteten Sitzposition, überkreuzte die Beine und legte sich die freie Hand an die des Lords abgewandten Außenseite seines Oberschenkels. Sein Gesprächspartner konnte die Hand nicht mehr sehen, dessen war er sich sicher, und als er sich fertig ausgerichtet hatte, begann er sich mit einem Finger zu kratzen.
      "Wir sind wohl beide nicht geschaffen für eine Hochzeit, dessen können wir uns wohl sicher sein, um das Thema abzuschließen. Ich denke allerdings, es hätte für uns beide seine Vorzüge."
      Er kratzte sich nicht stark, zumindest nicht stark genug, um seine Haut unter der Hose aufzuscheuern, aber es war eine ständige Bewegung über den Stoff, die er selbst höchstens hätte hören können, wenn es im Raum vollkommen still gewesen wäre. Aber er kratzte sich weiter und suchte in der Miene des anderen nach einem Anzeichen von Veränderung, nach einem verräterischen Zucken oder dem Huschen seiner Augen, irgendetwas, um ihm zu verraten, dass er das Kratzen zur Kenntnis nahm. Vielleicht entlockte es ihm keine solche Reaktion wie das Donnergrollen, aber ein winziges Anzeichen wäre ihm schon genug.
      "Ich weiß nicht, was ich glauben soll, verehrter Lord. Die Gerüchte über Ihr Junggesellen-Dasein scheinen wohl zu stimmen und aus Ihrer vorherigen Bemerkung darüber, dass Ihnen Menschenansammlungen nicht angenehm sind, entnehme ich, dass es wohl auch wahr ist, dass Sie wenig - wenn überhaupt - in der Öffentlichkeit verkehren. Ich frage mich also, wo ich bei diesem ganzen Gerede eine Grenze ziehen soll. Ist es wirklich so abwegig, dass Sie hinter ihren Gemäuern ein verruchtes Établissement führen, in das sich junge Frauen und Männer verirren, um sich die Zeit zu vertreiben, die sie hier verbringen? Ich wage zwar anzuzweifeln, dass Sie tatsächlich im Blut von Jungfrauen baden, um sich Ihrer Jugend zu erhalten, so wie manch ein Lästerer behauptet, aber der Rest klingt nicht allzu abwegig für jemanden mit Ihrem Reichtum. Ich schätze, da gibt es weitaus schlimmere Adelsleute in England."
      Er kratzte sich weiter.
      "Vielleicht möchten Sie mir ja bei Gelegenheit einen Rundgang durch ihre Räumlichkeiten geben und mich von der Abwesenheit eines Bordells überzeugen? Ich habe eine Schwäche für altenglische Häuser - und Ihre vorherige Erzählung über Geister hat mich noch neugieriger gemacht."
    • Vincent lachte aus voller Brust und zog dabei sogar die Aufmerksamkeit nicht weniger Leute im Salon auf sich. Niemand würde etwas sagen, schließlich war er der Herr des Hauses.
      Als er sich wieder beruhigt hatte, musste er sich tatsächlich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel wischen.
      "Ich kann Ihnen versichern, Dr. Van Helsing: Ich bade nicht in jungfräulichem Blut und Nein, ich führe auch kein Bordell. Ich habe lediglich eines der kleineren Gebäude auf dem Anwesen renovieren lassen und stelle es dieser Tage als Privatquartiere für meine Belegschaft bereit. Die aus jungen Männern und Frauen besteht, die ich aus ihren vorherigen Diensten übernommen habe. Ich sammle Streuner, mein lieber Doktor. Menschen, die sonst nirgendwo hin können. Nehmen Sie Eric zum Beispiel. Er wurde von seinem vorherigen Arbeitgeber so sehr verprügelt, dass er auf dem rechten Ohr taub ist. Das ist vor meinen Augen passiert. Eine Woche später ist auf mein Anwesen gezogen und serviert nun meinen Gästen Drinks, während Nora - die Dame, die Sie begrüßt hat - ihm in ihrer Freizeit Lesen und Schreiben beibringt. Aber sicher. Wenn Sie sich selbst davon überzeugen wollen."
      Vincent leerte seinen Drink in einem kräftigen Zug und erhob sich. Hoffentlich würde dieser kleine Spaziergang den Mann davon abhalten, weiter über den Stoff seiner Hose zu kratzen. Dank der umliegenden Gespräche konnte Vincent dieses Geräusch zwar mehr oder weniger ausblenden, aber allein die Art des Geräusches bohrte sich tief in seinen Schädel.
      "Na kommen Sie. Lassen Sie mich Ihnen die abscheulichen Tiefen von Harker Heights zeigen," scherzte er. "Vielleicht begegnet uns unterwegs ja tatsächlich ein Geist?"
      Bevor sie den Salon verließen, lehnte sich Vincent noch kurz zu Eric hinunter, damit dieser den Rest der Belegschaft darüber informierte, dass Gäste den Herrn des Hauses im Augenblick nicht sprechen konnten, er sei beschäftigt. Dann nahm er den guten Doktor mit in die Tiefen von Harker Heights, die wie ausgestorben waren.
      Vincent griff sich einen Kerzenständer, und nahm sich Zeit, ihn zu entzünden.
      "Ich hoffe, Sie haben keine Angst im Dunkeln. Das Haus ist so groß, dass ich niemals alle Teile selbst nutzen könnte. Aber ich zeige Ihnen gern den Bereich, den aktiv nutze."
      Er hielt sich nicht lange damit auf, den Doktor durch das Erdgeschoss zu führen, in dem noch ein kleinerer Salon, ein Frühstücksraum und die Küche schlummerten. Stattdessen nahm er den Mann mit eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock. Kaum verließen sie den Schein des großen Kronleuchters aus dem Foyer, wurde es stockdunkel und nur die Kerzen in Vincents Hand erleuchteten ihren Weg durch das Haus. In aller Ruhe führte er den Mann durch den breiten Gang. An einer Wand hingen Gemälde, die exotische Orte zeigten. And der anderen tauchten vereinzelt immer mal wieder Türen auf. Insgesamt waren es drei.
      "Schlafzimmer," erklärte Vincent, als sie sich dem Ende des Ganges näherten. "Auch wenn ich gestehe, dass sie eigentlich nie benutzt werden. Dafür habe ich ja den Gästeflügel."
      Am Ende des Ganges war eine weitere Tür, zu ihrer Linken führte der Flur tiefer in das Haus.
      "Mein Studierzimmer," fuhr Vincent fort, dann deutete er in die Dunkelheit zu seiner Seite. "Und dort liegt mein privates Schlafzimmer."
      Er wandte sich um und öffnete die Tür zu seinem Studierzimmer, ein Raum beherrscht von deckenhohen Bücherregalen, alle gefüllt zum Anschlag. Es gab einen Kamin, in dem ein kleines Feuerchen brannte, um den Raum warmzuhalten. Eine Seite des Raumes wurde von einem massiven Schreibtisch beherrscht, auf dem noch immer einige Papiere herumlagen vom letzten Mal, als er genutzt worden war. Auf der anderen Seite standen zwei bequem wirkende Sofas einander gegenüber, zwischen ihnen ein weiteres Kunstwerk von einem Tisch. Auf dem Tisch und auf einem der Sofas lagen einige Bücher, eins sogar noch aufgeschlagen über der Armlehne.
      "Wie Sie sehen gibt es hier keine verruchten jungen Menschen, die sich Ihnen an den Hals werfen, um Ihre tiefsten Gelüste zu erfüllen."
      Das Licht eines Blitzes zog Vincents Aufmerksamkeit zu den großen Fenstern bei den Sofas. Er stellte den Kerzenleuchter auf dem Tisch ab und trat an das Glas heran. Im gleichen Augenblick rollte ein weiterer Donnerschlag über sie hinweg. Da er gewarnt war, reagierte er nicht so sehr darauf wie noch vorhin.
      Er blickte aus dem Fenster, auch wenn nicht allzu viel zu erkennen war - für menschliche Augen. Das Licht aus dem Studierzimmer reichte gerade einmal aus, um ein, vielleicht zwei Meter draußen zu beleuchten. Genug, um den schweren Regen zu sehen, der die Landschaft heute Nacht beherrschte.
      "Nun, da wir unter uns sind," begann er und wandte sich wieder dem Van Helsing Erben zu. "Wollen Sie mir da nicht verraten, warum Sie sich wirklich vor der Hochzeit mit einer Frau drücken?"
      Vincent wusste, dass er hier Grenzen überschritt. Aber sie waren nicht mehr in feiner Gesellschaft und seine Neugierde gebot es ihm, seine Theorie bestätigt zu wissen. Außerdem würde ein solches Eingeständnis die Dinger einfacher gestalten. Nur, weil der gute Doktor ein Van Helsing war, hieß das noch lange nicht, dass er ein hübsches Gesicht nicht bewundern konnte.
      Mit langen, langsamen Schritten näherte er sich wieder dem anderen Mann, bis er direkt vor ihm stand, zu nahe, um noch höflich zu sein. Der Geruch von Zimt und Antiseptikum füllte seine Nase und für eine Sekunde fragte er sich, ob dieser Mann auch danach schmecken würde.
      "Wir wissen beide, wie Sie mich angesehen haben, Doktor..." raunte er, versucht, dem Mann eine verirrte Strähne aus dem Gesicht zu streichen. "Ich kenne diesen Blick..."
    • Die Gerüchte über das jungfräuliche Blutbad belustigten den Hausherren - zumindest war Thomas damit nicht versehentlich in ein Fettnäpfchen getreten. Nur die fröhliche Reaktion, die Lord Harker darauf zeigte, schien etwas fehl am Platz. Dass er so leichtfertig mit diesen Lästereien umgehen würde, hätte Thomas nicht gedacht, aber andererseits setzten seine Gedanken sowieso für einen Moment aus, während er beobachtete, wie sich Lachfalten auf dem Gesicht des anderen bildeten, die seine strahlenden Zähne unterstrichen. Er zwang sich dazu, die Flasche Brandy vor sich zu mustern, während er den Rest seines Glases herunterkippte. Erst, als der Hausherr sich wieder beruhigt hatte, empfand er es als sicher genug, um wieder Augenkontakt herzustellen.
      "Das ist ein äußerst löbliches Unterfangen."
      Eine Reaktion auf sein Kratzen blieb aus. Er konnte damit ein übernatürliches Hörvermögen zwar nicht ausschließen, aber die Bestätigung hatte er damit auch nicht bekommen. Ein zweites Experiment würde er aggressiver angehen müssen.
      Vorerst allerdings erfüllte der Hausherr ihm den Wunsch, eine Führung durch das Anwesen zu erhalten, was ihm eine gewisse Erleichterung bereitete. So konnte er sich wieder vollends auf seine Arbeit konzentrieren und musste sich nicht von dem springendem Kehlkopf des anderen ablenken lassen. Er stand sogleich auf, folgte dem Lord aus dem Salon heraus und, ausgestattet mit einer einzelnen Lichtquelle, die Treppe hinauf.

      Oben herrschte die tiefschwarze Nacht von draußen, nicht einmal durchbrochen von Mondlicht oder einer anderen Art von Lichtquelle, als dem flackernden Kerzenschein von Lord Harkers Kerze. Zum Teil machte das unruhige Licht die Schwärze noch viel bedrohlicher als sie eh schon wirkte, denn es zauberte Gestalten dorthin, wo keine waren, und verunstaltete die hübschen Gemälde, indem es Gesichter darauf zeichnete, wenn es zu schwach wurde, um die Zeichnungen richtig zu erleuchten. Thomas war eigentlich niemand, der sich vor Finsternis gefürchtet hätte, aber in einem alten Haus, in dem es spuken sollte und in dem er nach der Existenz eines Jahrhunderte alten Vampirs Ausschau hielt, wollte er doch lieber auf Nummer sicher gehen und umschloss das Kruzifix in seiner Hosentasche, spielte in Gedanken ein kurzes Gebet ab, lauschte Lord Harker mit dem Rest seiner Sinne. Es war ein wirklich beachtliches Gebäude, ein schönes Haus durch und durch und wäre er nicht zu einem bestimmten Zweck hergekommen, wäre es nicht finsterste Nacht und wäre er nicht mit anderen Gedanken beschäftigt, hätte er sich gerne Zeit genommen, um das Bauwerk bewusst zu bestaunen und seinem Schöpfer seinen Lob auszusprechen. So beschränkte es sich nur auf ein paar flüchtige, ehrfürchtige Gedanken, ehe ihr Rundgang schon sein Ende im Studierzimmer fand.
      Selbst dieses Zimmer war stilvoll eingerichtet, ein Ort, der mit seinen vielen Regalen und Unterlagen seinem Namen gänzlich entsprach, in dem sich Thomas unmittelbar vorstellte, seine Praxis einzurichten, dessen einziges Behandlungszimmer nicht halb so groß war wie dieser Raum. Wie viele Einrichtungsmöglichkeiten es für diesen Platz nur gäbe! Wohlgemerkt holte Lord Harker sowieso alles heraus, was in diesen Wänden machbar war.
      Thomas warf dem Hausherren auf seine Bemerkung einen Blick zu.
      "Hier nicht", bestätigte er und konnte sich eine Ergänzung nicht verkneifen: "Obwohl es Platz genug dafür gäbe."
      Der Lord strebte die Fenster an und Thomas folgte ihm, um nicht unhöflich zu erscheinen, bis zu den Sitzgelegenheiten. Er versuchte, in dem seichten Licht des Raumes, den Titel auf dem Einband eines der Bücher zu lesen, das dort herumlag, konnte aber auf die Schnelle nur ein paar Buchstaben entziffern. Ein weiterer Blitz, gefolgt von einem rumpelnden Donner zog über sie hinweg, aber obwohl Thomas aufsah und ihn genau beobachtete, gab der andere Mann diesmal keine Reaktion von sich. Er sah sogar weiterhin noch nach draußen, aber das war weder logisch für ein besonderes Gehör, noch für eine Angst vor Gewittern. Vielleicht war es doch etwas gänzlich anderes? Zugegeben, es gäbe wohl kein Vermächtnis, das Thomas hätte aufnehmen können, wenn sich jede Jagd so einfach gestalten würde, dass er binnen einer Stunde deuten konnte, ob der Verdächtige ein Vampir war oder nicht. Wahrscheinlich gäbe es dann überhaupt keine Jäger so wie ihn.
      Lord Harker wandte sich ihm wieder zu und in den folgenden Worten, die er an ihn richtete, hörte Thomas einen Unterton, der ihm nicht nur nicht gefiel, sondern eine regelrechte Panik in ihm heraufbeschwor. Wieso fing er denn jetzt damit wieder an? Er hatte es ihm doch ganz gut erklärt, oder etwa nicht?
      "Ich habe es Ihnen doch erklärt. Halten Sie es etwa für eine Lüge?", brummte er und versuchte dabei möglichst missmutig zu klingen, um seine aufkommende Panik zu überspielen. Sie war wie ein namenloses Etwas, ein dunkles Loch in seinen Eingeweiden, das sich ausbreitete und seine Gedanken zu verschlingen drohte, ein mittlerweile bekanntes Gefühl, das ihn immer überfiel, wenn es um dieses Thema ging. Er war glücklich mit seiner Frau und daher gab es keinen Grund zur Besorgnis, es gibt keinen Grund zur Besorgnis.

      Als der Lord mit langsamen Schritten zu ihm kam, bei den Sesseln nicht Halt machte sondern erst dann, als sie sich knapp gegenüberstanden, gab es sehr wohl einen Grund zur Besorgnis. Das flackernde Licht der Kerze und des Feuers zauberte Formen auf seine Miene, die Thomas wie Zauberei vorkamen, Hexenwerk, das ihn dazu verleiten sollte, sich in der Verführung des anderen zu verlieren.
      In der Verführung? Was dachte er nur?
      O Herr, führe mich nicht in Versuchung und erlöse mich von dem Bösen.
      Lord Harker hatte die Stimme zu einem Raunen gesenkt. Womöglich war es das in Verbindung mit dem gedämpften Licht im Zimmer, das Thomas' Herz einen Aussetzer bescherte.
      Er zuckte vor dem Mann zurück, als er die Hand hob. Unwillentlich fing er sein Handgelenk in der Luft ab, packte es mit eisernem Griff und hielt es dort fest, wo seine Finger seine Stirn nicht erreichen konnten. Er wusste, dass es unsittlich war - was dachte er da, es gab überhaupt keine Sitten die er hätte befolgen können, nachdem der andere ihm so nahe gekommen war - aber er war der absurden Überzeugung, dass eine Berührung des Mannes etwas in ihm umwerfen würde, das er nicht so schnell wieder aufrichten konnte. Also hielt er ihn fest, umschloss mit der anderen Hand das Kruzifix in seiner Tasche und drückte es so fest gegen seinen Handballen, dass es schmerzte.
      "Sie kennen gar nichts", zischte er zurück, garstiger als geplant, hauptsache, er konnte damit die Panik begraben, die sich durch seine Eingeweide fraß. In diesem einen Moment der Pause wurde er sich des Handgelenks des anderen bewusst, den Knochen, die er unter seiner Hand spürte, der Wärme unter seiner Haut. Er ließ ihn ruckartig los, als habe er sich verbrannt, und trat einen Schritt zurück, so würdevoll, wie er es in diesem Moment nur zustande brachte.
      "Ich verbiete eine solche... Freundschaftlichkeit, Lord Harker", verlautete er, jetzt wieder ein Stück gefasster, nachdem er Abstand zwischen sie beide gebracht hatte.
      "Ich muss Sie wohl nicht darauf hinweisen, dass ich ein vergebener Mann bin. Dass Sie überhaupt an sowas denken ist... ist unsittlich."
      Genauso gut hätte er wohl zu sich selbst reden können, es hätte keinen Unterschied gemacht.
      "Ich schlage vor, wir vergessen das alles schnell wieder und gehen wieder in den Salon hinab. Ich muss nach meiner Frau sehen - nach meiner Fast-Frau - nach meiner Freundin."
      Er räusperte sich, um die Beklemmung herunterzuschlucken.

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Codren () aus folgendem Grund: Harker

    • Etwas tief in Vincents Inneren begehrte auf, als sich der Doktor wehrte. Dieses Etwas wollte den Mann an sich reißen und die Zähne in den Arm schlagen, der ihn festhielt. Aber Vincent wusste sich zu zügeln.
      Die Nervosität des Mannes ging praktisch in Wellen von ihm aus. Sie umspülten Vincents Sinne wie eine wilde Brandung. Das Monster in ihm freute sich wie ein Hund, nur darauf wartend von der Leine gelassen zu werden.
      Mit einem schnellen Schritt war er wieder bei Van Helsing. Mit einem weiteren drängte er ihn gegen die nächstbeste Wand. Er stützte einen Arm direkt neben dem Gesicht des Mannes gegen die Wand, reduzierte dessen Fluchtwege. Diesmal strich er dem Mann die Strähne aus der Stirn, bevor er mit dem Daumen über dessen Kinn strich.
      "Eine Freundin. Weiß sie Bescheid? Kennt sie dein ach so unsittliches Geheimnis? Ich denke ja. Warum sonst hätte sie mich genauso angesehen, wie du es getan hast?"
      Er widerstand dem Drang, diese wundervoll geschwungenen Lippen zu küssen. Stattdessen ließ er den Arm sinken und richtete den Kragen des Doktors, bevor er einen Schritt zurück trat und dem Mann wieder etwas Raum gab.
      "Wie Sie sagten: Mein Haus ist groß. Wer weiß schon, was hier passiert?"
      Ein hektisches Klopfen an der Tür riss seine Aufmerksamkeit von dem Van Helsing Erben fort. Kurz darauf riss Nora die Tür auf. Sie war völlig außer Atem.
      "Verzeihen Sie die Störung," japste sie. "Es gab einen Zwischenfall im Ballsaal... Lady Norwich... wir brauchen den Doktor."
      Sie deutete auf Dr. Van Helsing, ihr Blick geradezu flehentlich.
      Vincent verschwendete keine Sekunde, packte den Mann am Arm und schob ihn auf Nora zu, griff sich den Kerzenständer vom Tisch und eilte den beiden dann hinterher.

      Im Ballsaal herrschte Chaos. Eine Traube hatte sich um einen bestimmten Punkt herum gebildet. Einen Punkt, den Vincents Bedienstet verzweifelt freizuhalten versuchten. Wieder zögerte der Hausherr keinen Augenblick lang.
      "Beiseite!" rief er mit magischem Nachdruck und die Menge teilte sich vor ihm wie Wasser.
      Sie gaben den Blick frei auf Lady Norwich, die bleich und reglos auf dem Boden lag. Der junge Mann, den sie mitgebracht hatte, hielt ihren Kopf in seinem Schoß.
      Vincent machte Platz, um den Doktor durchzulassen und die Sache in den Griff zu bekommen, während er selbst die Gäste verscheuchte.
      "In Anbetracht dieser Entwicklung und des herrschenden Sturms will ich Sie alle bitten, sich in den Gästeflügel zurückzuziehen. Wir haben morgen noch genug Zeit zum Feiern."
      Er nahm Einfluss auf die mit dem schwächsten Willen und kaum bewegten sich die ersten Menschen aus dem Saal folgte auch der Rest recht schnell. In nur wenigen Minuten hatte sich der Raum vollständig geleert und es waren nur noch eine Hand voll Bedienstete, Dr. Van Helsing, dessen 'Freundin' und der Diener von Lady Norwich anwesend. Vincent hatte gewusst, dass es für die Frau zu spät war, kaum hatte er den Raum betreten. Ihr Herz hatte kaum noch geschlagen, das Rauschen, das er die letzten Jahre aus ihrer Brust wahrgenommen hatte, war geradezu ohrenbetäubend laut geworden. Es hatte seinen Kampf verloren, bevor die Gäste verschwunden waren.
      "Doktor?" fragte er dennoch, um den Schein zu wahren.
    • Thomas hätte es womöglich heil aus dieser Situation geschafft, wenn Lord Harker an dieser Stelle aufgegeben hätte, aber der Mann gab nicht auf. Er tat sogar das genaue Gegenteil davon und überbrückte erneut die Distanz zwischen ihnen, stoppte dieses Mal allerdings nicht, selbst dann nicht, als Thomas vor ihm zurückwich, um sich von seinem animalisch angeregten Instinkt zur rückwärts ausgerichteten Flucht drängen zu lassen. Sie scheiterte unweigerlich an den Begrenzungen des Raumes und so sehr, wie er sich wünschte, sich in diesem Moment in Luft aufzulösen, um diesem Bedrängnis zu entkommen, so sehr regte sich das dunkle Etwas in seinen Eingeweiden, trieb ihm den Schweiß auf die Handinnenflächen, verschnürte ihm die Stimmbänder. Thomas van Helsing war ein stattlicher Mann, ein gut ausgebildeter Mann sogar in guter, körperlicher Verfassung und mit einem Nebenberuf, der von ihm verlangte, dass er stets seine Sinne scharf und seine Muskeln gestärkt hielt. Aber in diesem einen Moment, in dem Lord Harker ihm wieder so nahe kam, dass er beinahe seinen Atem auf seiner Haut spüren konnte, versagten ihm sämtliche Reflexe. Er brachte es noch nicht einmal zustande, die Geste seines Gegenüber aufzuhalten, die er ein weiteres Mal ausführte und die er sogar dazu ausbaute, an seinem Kinn entlang zu streichen. Er hielt den Atem an, presste sich gegen die tückische Wand hinter sich - wie konnte sie auch nur die Frechheit besitzen, gerade hier hochgezogen worden zu sein und nicht weiter hin - und starrte das Glitzern in den Augen des Hausherren an. Überraschenderweise war es nicht die Berührung, die sein Inneres wie erwartet auf den Kopf stellte, sondern seine Worte, der plötzliche Verzicht auf die Höflichkeitsfloskel, das Raunen in seiner Stimme, die Thomas so nah war, dass er für den Moment nichts anderes hören konnte. Er konnte tatsächlich seinen Atem auf seiner Haut spüren, ganz leicht nur, wie die Andeutung einer Brise, die hauptsächlich nach Brandy roch. Er wusste nicht, weshalb ihm genau das so sehr ins Bewusstsein sprang.

      Schließlich war es wieder vorüber, schneller, als es gekommen war, und der Mann trat einen Schritt von ihm zurück, richtete seinen Kragen, an dem Thomas einen Moment später selbst herumfummelte, um seinen Fingern eine vertraute Arbeit zu geben. Er schluckte schwer, sein Herz raste, als wolle es ihm gleich aus der Brust springen, und sein Gehirn konnte sich nicht entscheiden, welchen seiner herumschwirrenden Gedanken es zuerst bearbeiten sollte.
      Eine Entscheidung zu handeln blieb ihm zuletzt erspart, als sie in ihrer merkwürdigen Auseinandersetzung von Lord Harkers Dienerin unterbrochen wurden, die einige Wörter von sich gab, welche für einen Moment nicht so richtig in das Durcheinander in Thomas' Kopf passten. Er zuckte zusammen, als der Lord ihn am Arm ergriff und zur Dienerin schob, wo er ihn auch wieder losließ und Thomas endlich den Zusammenhang begriff. Der Kloß in seinem Hals löste sich, auf seine Gedanken legte sich ein professioneller Schleier, der alles unwichtige ausblendete, und nur sein Herz zeugte noch mit seinen hüpfenden Schlägen, dass es noch längst nicht vergessen hatte, was gerade vorgefallen war. Er fummelte erneut an seinem Kragen herum - er konnte es einfach nicht lassen, der ganze Anzug schien ihm mit einem Mal viel zu eng - und eilte dann der Dienerin hinterher, die ihn bereits zur Treppe geleitete.

      In den wenigen Sekunden, die die drei benötigten, um zum Ballsaal zurück zu kommen, fand Thomas vollends zu seinem Arbeitszustand zurück, drängte die Gedanken an das Studierzimmer in die dunkelste Ecke seines Bewusstseins und folgte Lord Harker mit Wachsamkeit in die Menge hinein. Er versprühte bereits beim Eintreten die selbstverständliche Autorität eines Arztes, ein Felsen in der Brandung, der Ordnung im Chaos verschaffte und eine Grenze zwischen Tod und Leben schuf, aber wie es schien, brauchte er diese Autorität nicht zum Ausdruck zu bringen, denn das übernahm bereits der Hausherr. Die Menge teilte sich vor ihm wie ein Schwarm aufgeregter Fische und zum Vorschein kam die Patientin, Thomas' neues Ziel an diesem Abend, das er über alles andere stellen würde. Er erlaubte sich bereits eine Prädiagnose beim Heraneilen, wog verschiedene Ursachen ab, hielt mit geschultem Blick Ausschau nach Auffälligkeiten, die andere Ursachen in den Vordergrund hätten rücken können. Er kniete sich zu der Frau und ihrem jungen Begleiter auf den Boden, beugte sich zu ihr hinab, hielt das Ohr an ihre Nase, fühlte an ihrem Handgelenk und ihrem Hals nach einem Puls. Kein Lebenszeichen drang zu ihm durch, kein Atem und auch kein Puls. Er richtete sich ein Stück auf, beugte sich über sie, zog eines ihrer Augenlider nach oben und begutachtete die Pupille. Die Augen waren nach hinten gerollt, aber das Stück der Pupille, das sich zeigte, veränderte sich nicht.
      Sie war tot.
      Für einen Moment wog er noch ab, eine Herzmassage durchzuführen, was er unsinnigerweise manchmal tat, um Angehörigen das Gefühl zu geben, dass alles mögliche getan worden war, aber in dieser kleinen Gemeinschaft erlaubte er sich die Vermutung, dass ihm niemand ein Versagen unterstellen würde, wenn er die Fakten offen auf den Tisch legte.
      "Sie ist tot."
      Er ließ sie los, setzte sich auf die Knie zurück, blickte zu Lord Harker auf, dem er die unterschwellige Frage eigentlich beantwortet hatte. Er konnte den Blickkontakt allerdings für etwa eine Sekunde halten, ehe er weiter zu Darcy sah, die an der Wand stand und sich entsetzt die Hände über den Mund gelegt hatte. Schließlich sah er zurück zu dem jungen Mann neben sich.
      "Es tut mir leid. Herzversagen, nehme ich an, das ist üblich bei Menschen dieses Alters, allerdings bräuchte ich eine Krankheitshistorie, um es besser einschätzen zu können. Was ist denn passiert?"
      Der Mann schilderte es ihm, was allerdings auch keine bessere Auskunft über die Situation lieferte. Er legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter; er war ganz ansehnlich, der junge Kerl, vielleicht ein bisschen zu jung für seinen Geschmack, nicht ganz so hübsch wie - Herrgott, was dachte er bloß?
      "Besitzen Sie zufällig ein Telefon, Lord Harker? Wir sollten den Krankendienst rufen, damit niemand einen Schrecken bekommt."
      Er stand wieder auf und zwang sich dann dazu, den anderen Mann wieder anzusehen. Glücklicherweise konnte er sich in diesem Moment wieder ganz gut beherrschen.

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Codren () aus folgendem Grund: Harker

    • "Ich fürchte nicht. Elektrizität und das Haus vertragen sich nicht. Ich bezweifle allerdings auch, dass sich bei diesem Wetter jemand hier raus wagen wird."
      Er betrachtete den Leichnam der Frau, die er die letzten drei Jahre in sein Haus eingeladen hatte. Der Tod machte ihm schon lange nichts mehr aus, aber da war immer noch die ihm innewohnende Faszination, die ihm einst dieses Leben bescherte. Der Moment, in dem eine Person zu einem Gegenstand wurde. Das da vor ihm auf dem Boden war nicht mehr Lady Norwich. Es war nur noch ein Haufen Fleisch und Knochen.
      "Kälte kann... Tote sollte man kühlen, bis man sie adäquat beerdigen kann, richtig, Doktor? Im Keller des Hauses gibt es ein paar Räume, in denen wir die Würde der Lady erhalten können. Ich werde gleich morgen früh jemanden ins Dorf schicken."
      Er wandte sich dem jungen Mann zu, der noch immer den Kopf seiner Arbeitgeberin festhielt. Der Junge wirkte so geschockt und verloren. Vincent ging neben ihm in die Hocke und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. Mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten drängte er dem Jungen sanft seinen Willen auf.
      "Wie heißt du, mein Junge?" fragte er.
      "R-Richard, Sir," stammelte der junge Mann.
      "Du musst sie loslassen, Richard."
      Vincent winkte Nora heran, die ihm half, den jungen Mann auf die Füße zu ziehen. Dann führte sie ihn davon. Er würde die Nacht in der Pflege von Vincents eigenem Personal verbringen. Sobald er wieder klar denken konnte, würde Nora von ihm alle nötigen Informationen erhalten und alles in die Wege leiten. Vincent war sich allerdings sicher, dass es nicht mehr viel Familie gab, die man noch informieren konnte.
      "Eric!" rief Vincent und sein eigener Bediensteter tauchte sofort neben ihm auf. "Ich will, dass du zusammen mit George und Esther die Lady runter in den Keller bringst. Der Raum zum Weintesten sollte kalt genug sein. Behandelt sie gut, verstanden?"
      Eric nickte und verschwand wieder. Vincent erlaubte es sich, tief durchzuatmen. So hatte er sich diese Nacht nicht vorgestellt. Und das Chaos sollte noch nicht vorüber sein.
      Ein lautes Krachen durchbrach die eingetretene Stille, die nur von dem Rausche des heftigen Regens draußen untermalt wurde.
      "Was zum..."
      Vincent eilte nach vorn zum Foyer, nur um seine doppelflügelige Haustür speerangelweit offen vorzufinden. Wind und Wasser peitschten ihm entgegen, als er sich nach vorn kämpfte und die Flügel wieder schloss. Ein Baum war doch allen ernstes in seine Auffahrt gekracht.
      Als er sein Werk vollbracht hatte, lehnte er sich von innen gegen die Türen und seufzte schwer. In weniger als einer Minute war er vollkommen durchnässt.
      "Als wolle mir das Universum selbst sagen, dass diese Feiern schwachsinnig sind..." grummelte er.
      Dann stieß er sich von den Türen ab und zerrte sich sein Frack von den Schultern, auch wenn das nur wenig half. Sein Hemd war nicht viel besser dran und klebte an seiner Haut.
      "Ich kann Sie beide nicht guten Gewissens da raus und in den Gästeflügel schicken," sagte er an den Doktor und seine Begleiterin gewandt. "Sie müssen wohl leider mit den Schlafzimmern hier im Haupthaus vorlieb nehmen. Ich bitte um Verzeihung."
    • Lord Harker leitete bereits alles nötige in die Wege, um die Lady nicht nur aus den Räumlichkeiten zu befördern, sondern auch noch für eine Bestattung herzurichten, womit er Thomas ungemein Arbeit abnahm. Sogar um den traumatisierten Jungen kümmerte er sich und so blieb dem Arzt nichts weiter übrig, als schweigend zuzusehen, wie erst der Junge weggeführt und dann auch noch die Leiche abtransportiert wurde. So langsam kam eine, für Thomas in diesem Haus ungewohnte, Stille auf, die er zu schätzen wusste. Endlich einmal einen Moment des Friedens, um seine Gedanken zu sortierten und sein Herz zu beruhigen.
      Viel Zeit blieb ihm dafür allerdings nicht, als ein diesmal deutlich lauteres Krachen als der Donner von vorhin das Haus erschütterte und damit wohl alle Anwesenden gleichzeitig in Panik versetzte. Der Hausherr war der erste, der sogleich dem Ursprung des Geräuschs nachging, dicht gefolgt von Thomas, der nach weiteren Verletzten Ausschau halten wollte und mit einigem Abstand dann Darcy, die in ihren hohen Schuhen nicht annähernd so schnell laufen konnte und eher eilig heran tippelte. Anstatt eines neuen Patienten war es aber nur die Haustür, die sich geöffnet hatte und den Unrat ins Foyer hereinließ, während Lord Harker sich bereits daran gemacht hatte, die riesigen Flügel wieder zu verschließen und sich zu vergewissern, dass sie auch geschlossen blieben. Als er sich umdrehte, war Thomas eine winzige Sekunde zu spät, um den Blick rechtzeitig abzuwenden.
      Herrgott im Himmel.
      Der Lord von Harker Heights sah aus, als hätte er in der kurzen Zeit ein Bad genommen: Die Haare klebten ihm in Strähnen im Gesicht, das vom Wasser dunkel verfärbte Hemd zeichnete in aller Genauigkeit die Konturen seiner Schulter ab, seiner Brust, seines Bauches. Thomas glaubte sogar die einzelnen Muskeln zu erkennen, als würde ihm das Hemd nicht nur am Körper kleben, sondern als hätte es ihn gänzlich entblößt.
      Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, bei allen guten Geistern auf dieser Welt, erlöst mich doch bitte jemand von was-auch-immer hier gerade geschieht.
      Er drehte sich hilfesuchend nach Darcy um, seinem Anker in diesem Chaos, seiner schützenden Hand, seines Allzweck-Werkzeugs, dem einen Punkt, der seinem Leben eine Ordnung verschaffte. Sie sah unglaublich dämlich aus, wie sie herangeeilt kam, den Saum ihres Kleides angehoben, die Schritte lächerlich winzig und vorsichtig, die erschütterte Miene im deutlichen Kontrast zu ihrem aufgelegten Puder und dem intensiven Lippenstift. Herrje, wie dämlich sie aussah.
      Sie kam bei ihm an, hakte sich ungefragt bei ihm unter und Thomas drückte ihre Hand. Dann erst konnte er sich wieder dem Hausherren zuwenden, der ihnen ein Zimmer in seinen eigenen vier Wänden zuwies. Thomas hätte auch im Keller bei der Leiche übernachtet, wenn das nur bedeutete, dass er endlich von diesem Anblick erlöst wurde.
      "Ich danke vielmals für Ihre Großzügigkeit."
      Die Worte lagen ihm bitter auf der Zunge.
      "Zögern Sie bitte nicht mich zu rufen, falls noch etwas geschehen sollte. Ich bin als Arzt jederzeit auf Abruf."
      Darcy schenkte dem Lord ein unsicheres Lächeln, dann ließ sie sich von Thomas abführen, der sie regelrecht mit sich zerrte, einen entzündeten Kerzenständer ergriff und damit zu den Schlafzimmern hinauf floh. Glücklicherweise hatte er sich den Weg gemerkt, sodass er sie zielsicher in eins der Gemächer - nicht dem gegenüber des Studierzimmers, davon würde er großen Abstand halten - zerrte und hinter sich die Tür schloss. Erst, als er den Kamin entzündet, den Kerzenständer abgestellt und die Vorhänge vor den Fenster zugezogen hatte, seufzte er erleichtert und rieb sich über das Gesicht. Darcy schenkte ihm einen misstrauisch bis neugierigen Blick, stelzte zu einem der Sessel, die im Raum standen, und ließ sich darauf fallen. Sie seufzte auch vor Erleichterung, aber wahrscheinlich, weil sie sich endlich ihrer Schuhe entledigen konnte.
      "Das war ja mal merkwürdig - und außerdem ein Reinfall. Hast du was herausgefunden?"
      "Nein."
      Er räusperte sich und lockerte endlich seinen Kragen, was er schon seit zwanzig Minuten machen wollte.
      "Ich auch nicht. Kein Anhaltspunkt, nicht einer. Entweder wir vergeuden unsere Zeit, oder er hat sich ein äußerst dichtes Alibi verschafft."
      "Alibi? Er ist doch kein Mörder."
      Darcy zog die Stirn in Falten und warf ihm einen tadelnden Blick zu.
      "Du weißt doch, was ich meine."
      Er winkte ab, entledigte sich seines Fracks, knöpfte sich das Hemd auf. Vor seinem inneren Auge quälten ihn die Erinnerung an das Studierzimmer, der Anblick des Lords. Es geisterte ihm im Kopf herum, auch wenn er mit aller Willenskraft versuchte, es nach ganz hinten zu verschieben. Sein Blick wanderte zu Darcy und ihrem Körper hinab, bevor er zu dem riesigen Bett ging und sich draufsetzte.
      "Komm her."
      Sie wandte ihm den Kopf zu.
      "Hm?"
      "Mensch, Darcy, komm her."
      "Ist ja gut! Du hast ja eine komische Laune heute."
      Sie hievte sich nach oben und kam zu ihm gewackelt, oder wohl eher das Kleid wackelte zu ihren Bewegungen. Hatte er ihr schonmal gesagt, dass er das Kleid gar nicht so toll fand?
      Sie blieb bei ihm stehen und er ergriff ihr Handgelenk, zog sie sich auf den Schoß und presste ihr einen ungestümen Kuss auf die Lippen, bevor sie ihr überraschtes "Oh!" von sich geben konnte. Als er sich ein paar Sekunden später von ihr löste, grinste sie ihn an und schlang ihm die Arme um den Hals.
      "So kenn' ich dich ja gar nicht, Thomas. Hast du etwa heute zu viel getrunken?"
      "Ja. Sicher."
      Hatte er zu viel getrunken? Ein Glas Champagner und Brandy. Vielleicht hatte er ja zu viel getrunken. Konnte er alles auf seine Trunkenheit schieben? Ja, vielleicht. Er war betrunken, so musste es gewesen sein. Oder zumindest angetrunken. Das hatte ihm sicherlich den Verstand vernebelt, die Tatsachen verdreht.
      Er ließ sich rücklings ins Bett fallen, zog Darcy über sich und übersäte sie mit Küssen, was sie mit einem mädchenhaften Gekicher aufnahm und sich gefallen ließ. Er gab sich Mühe, er gab sich wirklich Mühe die Bilder in seinem Kopf zu ersetzen, aber das lenkte ihn nur ab und so konnte er gar nichts genießen, nicht Darcy und nicht die Bilder, stattdessen nur sein tiefes Schuldgefühl und die Verwirrung darüber, was in aller Herrgotts Namen nur geschehen war, dass er so von der Spur war.
      Der Alkohol war es. Der Alkohol war es ganz bestimmt. Es musste am Alkohol liegen. Er fixierte sich so sehr auf diesen Gedanken, dass er gar vergaß darüber nachzudenken, woher in Teufels Namen der Lord von Harker Heights wissen konnte, dass eine Leiche gekühlt werden sollte.
    • Vincent sah den letzten beiden Gästen seiner kleinen Feier hinterher. Sobald sie außer Sicht waren, rollte er die Schultern, als wäre eine Last von ihm abgefallen. Es war eine Sache, sich zwischen Menschen zu bewegen. Ein vollkommen andere Angelegenheit war es, sich vor einem Jäger als Mensch auszugeben. Warum mussten die Van Helsings nur alle so attraktiv sein?!
      Als Eric, George und Esther aus dem Keller zurückkehrten, wies er die kleine Gruppe an, sein Foyer zu säubern, bevor sie sich für den Rest der Nacht zurückziehen konnten. Vincent selbst kehrte in sein Studierzimmer zurück. Draußen tobte noch immer der Sturm und ein kleiner Teil fragte sich, ob dieses Wetter vielleicht doch nicht so natürlich entstanden war, wie er zuerst angenommen hatte.
      "Was für ein Quatsch. Das ist viel zu kompliziert," murmelte er vor sich hin und wandte sich von den Fenstern ab.
      Er hatte noch ein paar wenige Stunden, bevor die Sonne aufging. Wie die meisten seiner Gäste würde er den Vormittag verschlafen. Es würde ihm auch niemand übelnehmen, wenn er das Mittagessen verschlief, konnten doch die meisten bezeugen, dass er sich erst später zur Ruhe gebettet hatte. Aber er würde nicht umher kommen, zum Nachmittagstee aufzutreten. Es gab einen Grund, warum er die Festlichkeiten auf den großen Salon und den Ballsaal im Erdgeschoss beschränkte. Natürlich stand es seinen Gästen frei, das Gelände zu erkunden - sofern man sich mit einem dichten Wald auseinandersetzen wollte, der recht schnell in ein kleines Moor überging. Wie jedes Jahr würde Vincent sich als verkatert geben. Kein allzu schweres Schauspiel, fühlte er sich doch oft wie von einem Pferd zertrampelt, wenn er am Tag erscheinen musste.
      Als sich Vincent auf eines der Sofas fallen ließ, musste er an den Blick des guten Doktors denken, daran, wie schnell dessen Herz geschlagen hatte, als er ihn an die Wand gedrückt hatte. Er brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, dass diese Gedanken von einem Geruch und einem Gefühl getragen wurden. Beides kannte er nur zu gut; Harker Height hatte schon immer einen Drang dazu gehabt, seine Bewohner an der Lust anderer teilhaben zu lassen. Nur, dass dieses Mal anders war. Es fühlte sich geradezu falsch an. Nicht vulgär, einfach nur... falsch.
      "Oh Thomas... Wem willst du hier was beweisen?" fragte er in die Stille des Sturms hinein.

      Nora war es als einzige erlaubt, die Privatgemächer Vincents zu betreten. Wie jedes Jahr stahl sie sich durch die dunklen Flure von Harker Heights zu ihrem Arbeitgeber und betrat das große Zimmer ohne anzuklopfen. Vincent hätte es sowie so nicht gehört.
      Nora ging sicher, dass die Vorhänge an den Fenstern auch wirklich geschlossen waren, bevor sie die am Bett öffnete und in die Halterungen an den Bettpfosten klemmte.
      "Vincent," sagte sie sanft, als wolle sie ein Kind wecken.
      Doch mittlerweile wusste sie genug über ihren Arbeitgeber, um es nicht weiter auf die sanfte Art zu versuchen. Also packte sie ihn an der nackten Schulter und rüttelte ihn so lange durch, bis Vincent müde die Augen aufschlug und zu ihr hinauf blinzelte.
      "Ist es wirklich schon Mittag?" grummelte er.
      "Ja. Und Ihre Gäste fragen schon vermehrt nach Ihnen."
      Seufzend richtete sich Vincent auf und sortierte die Instinkte seines unnatürlichen Körpers. Alles in ihm schrie danach, zu schlafen, in der Sicherheit der Finsternis zu bleiben bis sich die Sonne verzogen hatte. Aber das konnte er nicht. Nicht heute. Nicht mit einem Jäger im Haus.
      Also raffte er sich auf, ließ die Träume, die er nicht haben sollte hinter sich, und schlüpfte in die Kleidungsstücke, die Nora ihm reichte. Sie richtete außerdem seine wilde Mähne, sodass er zwar immer noch mitgenommen aussah, aber eher auf die Art, die man von einem reichen Junggesellen nach einer langen Nacht erwartete. Zum Schluss drückte sie ihm noch ein großes Glas in die Hand. Wie immer drehte sie sich um, als Vincent das Glas an die Lippen setze und das Schweineblut in großen, hastigen Schlucken hinunterwürgte.
      "Dann mal auf ins Getümmel," murmelte Vincent und machte sich auf den Weg in seinen eigenen Salon.

      Köpfe drehten sich in Richtung der Tür, als Lord Harker den Salon betrat. Viele seiner Gäste waren noch vergleichsweise entspannt gekleidet, aber niemand hatte es gewagt, in einer Morgenrobe hier aufzuschlagen - geschweige denn in einer nur halb geschlossenen und dann auch noch barfuß!
      Vincent schlenderte hinüber zu einem seiner Bediensteten, die mit kleinen Häppchen auf Tabletts durch die Gegend liefen, und griff sich zwei, nachdem er sich eins in den Mund geschoben hatte. Dann fragte er wenig diskret nach einen Drink, damit diejenigen, die die längsten Ohren machten, ein gutes Bild von dem noch immer betrunkenen Mann bekamen, als den er sich hier ausgab.
      Der Bedienstete nickte und eilte davon, während Vincent seinen Weg in die gleiche Ecke fand, in die er letzte Nacht Dr. Van Helsing entführt hatte. Lustlos ließ er sich auf einen der Sessel fallen, von Haltung keine Spur. Er sehnte sich danach, die Augen zu schließen und sich der süßen Ohnmacht des Tages hinzugeben, aber das konnte er nicht. Stattdessen suchte er sich eine hübsche Aussicht. Thomas Van Helsing zu finden war ihm ein Leichtes.
    • Ein unangenehmer Traum plagte Thomas in der Nacht, ein Albtraum, wenn man es so haben wollte, aber von der subtileren Art. Er sah das Haus vor sich, Harker Heights in all seiner majestätischen Pracht und seinem Glanz, und während sein schwebendes Selbst hineinging, gleichzeitig überall und nirgendwo zu sein schien und erst in vier Räumen gleichzeitig, und dann in keinem war, sah er den dunklen Gang vor sich, die tiefe Schwärze, die sich überall um ihn herum ausbreitete und ihn selbst zu verschlucken schien. Ihn beschlich das Gefühl, dass sie etwas vor ihm versteckte, etwas in ihrer Undurchsichtigkeit vor ihm verheimlichte, was ihm sonst eigentlich hätte auffallen müssen, wenn er nur seine Augen anstrengen würde. Aber er sah so schlecht, konnte ja nichtmal die Buchstaben lesen, die vor ihm aus der Schwärze glitten, die Buchstaben eines Buches, das war es ganz bestimmt, ein Buch aus dem Zimmer - welches dieser unendlichen Räume war es noch gleich? - und dieses Zimmer versuchte er zu finden, denn es schien ihm wichtig, unheimlich wichtig, aber wie konnte er es in der Schwärze finden, wie konnte er durch die Finsternis schwimmen und dabei nach einem Zimmer Ausschau halten, wenn er doch nichtmal die Buchstaben lesen konnte.
      Er erwachte zu einem Geräusch, das Darcy im Schlaf von sich gab, und fühlte sich besser als am Vorabend, ruhiger. Er musste den Rausch ausgeschlafen haben, den er zweifellos am gestrigen Tag erlebt hatte, das war es sicherlich.

      Das Paar tauchte rechtzeitig zum Frühstück in den frühen Morgenstunden auf, wo sie eine ganze Gruppe neugieriger Gäste in Empfang nahm, um auch ja alle Details von dem gestrigen Abend zu erfahren, ob es der Lady Norwich gut ginge, dass es hieß, dass sie verstorben sei, ob man ihre Leiche schon begraben hätte. Thomas setzte ein mechanisches Lächeln auf, die Art von Mienenschauspiel, mit dem er all seine Patienten vertraut machte, und gab ein paar vage Auskünfte über den Vorfall. Sein Blick ließ sich kaum auf einem Gesicht nieder, bevor er bereits zum nächsten wanderte, und als er die Hälfte der morgendlichen Gäste einmal abgesucht hatte, wusste er, wonach er tatsächlich Ausschau hielt. Da schüttelte er den Kopf, rückte Darcy einen Stuhl zurecht und setzte sich mit ihr zum Essen hin.
      Den Vormittag über befand er sich in der aufdringlichen, wenn nicht unbedingt unangenehmen Gesellschaft eines älteren Herren mit einem vorzüglich gepflegten Schnurrbart, der sich ihm als Norbert vorstellte und ausschweifend darüber berichtete, dass er Lady Norwich gut gekannt habe und die Alte sicherlich noch zehn Jahre auf dem Buckel gehabt hätte, wenn sie nicht so plötzlich einfach umgekippt wäre. Norbert trug zwar auch einen Anzug, allerdings keinen so penibel gepflegten wie Thomas und außerdem passten seine Schuhe nicht dazu. Er war bei der Eisenbahn-Gewerkschaft tätig und schwärmte recht schnell davon, wie modern und innovativ diese neuartige Form der Transportation sei und wie stolz er darauf war, Teil dieser weltenbewegenden Erfindung zu sein. Thomas nickte nur und lächelte. Er nickte und lächelte und sah manchmal, nur manchmal, erwartungsvoll zur Tür, wenn jemand neues hereinkam.

      Die Mittagszeit verbrachten Darcy und er mit der ausgiebigen Erkundung der öffentlich zugängigen Räume und der daraus resultierenden Recherche.
      Es gab Silberbesteck, auch wenn Thomas sich nicht sicher war, ob es aus reinem Silber bestand. Normalerweise hätte das gegen den Verdacht gesprochen, aber in einem Anwesen wie diesem durfte man erwarten, dass das Gedeck von hochwertiger Qualität war, und daher konnte er diesen Fund nicht ganz so einfach bei Seite schieben. Außerdem war der Gang in der ersten Etage noch immer stockdunkel, selbst bei Tageslicht, was Thomas nun deutlich als verdächtig empfand, wenngleich das Erdgeschoss verhältmäßig hell gehalten war.
      Aber das waren alles nur Verdachte, Theorien über spontane Entdeckungen, nichts, was ihn vollständig von seiner These überzeugt hätte. Er konnte keinen Unschuldigen damit beschuldigen, ein übernatürliches Wesen zu sein, und genauso wenig konnte er es riskieren, den Vampir - wenn er denn einer war - mit einem direkten Vorstoß in die Offensive zu treiben. Zu viele Leute waren um sie herum, zu viele Leben, die er damit aufs Spiel setzte. Er musste sich seiner Sache sicher sein, wirklich sicher sein, um sich dann überlegen zu können, ob er erfolglos wieder nachhause ging, oder wie er den Mord eines Vampirs vor mehreren dutzend Augen geheim hielt. Und wenn es eins nicht gab, was der Hausherr bei ihm auslöste, dann war es ein sicheres Gefühl.

      Als eben jener Mann sich endlich dazu entschied, seinen Gästen auch an diesem Tag ein guter Gastgeber zu sein, war Thomas wieder von Norbert eingebunden, der ihn - wie auch immer er es geschafft hatte - nach Stunden seiner Sucherei abgepasst und dann mit Erzählungen überschwemmt hatte. Thomas lächelte gezwungen, nickte manchmal, gab eine Antwort, wenn der Alte eine erwartete und bereits ungeduldig nachhakte. Darcy hatte sich auf einer Bank am Rand des Saales niedergelassen und ein paar Frauen um sich versammelt, die sie sicherlich über den gestrigen Abend befragten und ihre Bestürzung mit großem Mienenspiel zur schau stellten. Sie war ihm also keine Hilfe, als Thomas den Trubel bemerkte, der sich beim Eingang breit machte, und dann den Lord selbst erblickte. Er sah unheimlich verkatert aus; unheimlich verkatert und unheimlich - nein! Nein. Gar nicht erst zu Ende denken. Er ist nur ein Mann. Männer konnten hübsch sein, sicher, aber am Ende des Tages war es nur ein Mann. Gar kein Grund, die nackte Haut näher zu betrachten, die unter dem Morgenmantel hervorlugte. ... Vielleicht nur ein kleiner Blick? Nur ein einziger konnte nicht schaden. Der Mann war eh viel zu verkatert, um es mitzubekommen.
      Aus einem Blick wurde ein sehr langer, als Thomas beobachtete, wie der Hausherr erst bei einem seiner Bediensteten Halt machte und dann zu den Sesseln ging, die ihm nun zweifellos freigehalten wurden. Thomas wandte sich wieder Norbert zu, der seinen Redefluss gerade unterbrochen hatte und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
      "Ah, ja, verzeihen Sie mir, lassen Sie mich doch lieber später einen Blick darauf werfen. Wenn Sie mich für einen Moment entschuldigen würden..."
      "Bitte, bitte, nur zu, ich halte Sie doch nicht auf, von Hällsing! Ich würde ja auch so rennen, wenn ich nur könnte, aber da kann man ja nichts machen, nicht wahr, ich bin wirklich untröstlich, dass das gerade in dieser Zeit passieren muss, in der..."
      Thomas kehrte ihm den Rücken zu, bevor er in die nächste Geschichte darüber abschweifen würde, wie er einen Bären bezwingen musste, während seine Kollegen das Schienennetzwerk legten, in strömendem Regen wohlgemerkt und auch noch ohne die richtigen Werkzeuge. Er eilte vor ihm davon und strebte den Hausherrn an, der so entspannt in seinem Sessel hing, dass es so aussah, als würde er jeden Moment darin versinken.
      "Lord Harker? Darf ich?"
      Er setzte sich ihm gegenüber, selbstsicherer als noch am Vortag, wahrscheinlich durch den Schlaf, oder auch den Sex mit Darcy - oder den Traum? Mittlerweile hatte er ihn schon fast wieder vergessen.
      "Ich muss mich entschuldigen für meine gestrige Laune, ich vertrage wohl den Alkohol nicht ganz so gut, wie ich gedacht hatte. Sie scheinen wohl Ihren eigenen Rausch nicht besonders ergiebig ausgeschlafen zu haben? Ich empfehle viel Wasser, etwas gutes zu Essen und Bewegung. Das schlimmste, das Sie tun können, ist den ganzen Tag herumzusitzen."
      Er verschränkte die Finger in seinem Schoß miteinander und war unheimlich stolz auf sich, der entblößten Brust seines Gegenübers keinen einzigen, gravierenden Gedanken zu schenken. Nur ein paar kleine, einflusslose Nebengedanken.
      "Haben Sie schon jemanden losgeschickt? ... Sie werden es doch nicht vergessen haben? Die Lady Norwich, in Ihrem Keller?"
    • Vincent folgte dem Doktor mit Blicken, wie ein Raubtier seine Beute beobachten würde. Auf seine Frage hin, ob er sich setzen dürfe, antwortete er lediglich mit einer einfach Handbewegung.
      "Ginge es nach mir, läge ich noch immer schön eingepackt in meinem Bett. Aber meine Dienstälteste Nora hätte etwas dagegen, solange ich Gäste im Haus habe."
      Er schob sich in einer einzigen Geste das letzte seiner Häppchen komplett in den Mund, ohne den Blickkontakt mit dem Van Helsing zu unterbrechen. Sozusagen ein kleines, rebellisches 'Ja doch, Herr Doktor, ich esse ja schon'.
      "Wie soll ich denn bitte vergessen, dass eine Frau in meinem Ballsaal gestorben ist?"
      Er stoppte sich, atmete einmal tief durch und gab sich Mühe, seine gespielte Genervtheit zu unterdrücken.
      "Entschuldigung," meinte er knapp. "Nora hat mir nicht verraten, ob dieser Junge - Reginald? Rigby? Egal - ob der schon wieder klar im Kopf ist. Der wird hoffentlich wissen, wem genau wir Bescheid geben müssen. Was den..." Vincent stoppte und schien zu überlegen, ob sein Magen es mitmachte, über einen leblosen Körper in seinem Keller zu sprechen. "Was Lady Norwich angeht... Nora ist eine von den Guten. Sie weiß, was sie tut und sie tut es sehr gut. Ich gehe einfach davon aus, dass sie schon jemanden hat holen lassen."
      Mit einem müden Lächeln wandte sich Vincent von dem Doktor ab und seinem soeben angekommenen Drink zu. Allerdings hielt er sich erstmal nur daran fest, als sei es ihm unangenehm, vor einem Arzt gegen dessen Rat zu handeln. Er spielte den Mann, der sich seiner Laster nur zu gut bewusst war. So gesehen war es gar kein Schauspiel, nur eine Veränderung der Details in dieser Geschichte.
      Schließlich stellte er seinen Drink auf dem Tisch ab und lehnte sich wieder in dem Sessel zurück. Er machte sich nicht wirklich die Mühe, seine Robe richten, die ihm dabei halb von einer Schulter rutschte.
      "Falls Sie eine Entschuldigung von mir erwarten wegen gestern: Sie werden keine Kriegen," sagte er dann und plötzlich war sein Blick sehr viel schärfer und aufgeweckter. "Ich entschuldige mich nämlich ausschließlich für Dinge, die ich bereue."
      In seinem Dämmerzustand fiel es Vincent zunehmend schwerer, den Duft von Zimt zu ignorieren. Es hatte nur einen Tag gebraucht, um den Geruch nach klinischer Reinheit loszuwerden und jetzt flutete dieser viel zu attraktive Van Helsing Erbe seine müden Sinne. Ein Gedanke von gestern Nacht zuckte durch Vincents Verstand. Das Gefühl von körperlicher Intimität. Er verfluchte das Haus im Stillen für seine vielen Echos.
      "Und? Haben Sie gestern noch irgendwelche interessanten Geister kennengelernt? Oder sind Sie gleich ins Bett gehuscht?" fragte er, um sich selbst von seinen Gedanken abzulenken.
      Zurück war der verschlafene Blick des verkaterten reichen Mannes, der sich nicht darum kümmerte, was die anderen Anwesenden gerade über ihn denken mochten.
    • Lord Harker war wirklich unsäglich verkatert, kaum mehr in der Lage, eine vernünftige Unterhaltung aufrecht zu erhalten, die Thomas anstrebte. Er gab seine Laune frei heraus zu erkennen, bevor er sich zu fassen schien und sich der erwarteten Sitte wieder fügte. Thomas nahm die Beobachtung mit einer gehobenen Augenbraue auf, die kaum mehr Aufschluss über seine Gedanken bot, als dass er sich fragte, ob sein Gegenüber wirklich noch so mitgenommen war, oder ob er schlicht keine Lust mehr hatte, seine Manieren einzuhalten.
      Aber letzten Endes war wohl auch das dem Alkohol zu verschulden, denn er konnte sich ja noch nichtmal an Richards Namen erinnern, dabei war dieser arme junge Mann ja noch direkt von dem Vorfall betroffen gewesen. Thomas hätte ihm jedoch keinen Vorwurf darüber gemacht, er konnte sich vorstellen, wie traumatisch ein solches Erlebnis sein konnte.
      "Das ist gut. Sie haben fähiges Personal, Lord Harker, das trifft man nicht oft die Tage."
      In der kurzen Pause, die zwischen ihnen entstand, während Lord Harker sich wohl zu sammeln versuchte und gute Miene zum bösen Spiel machte, drängte Thomas seine Gedanken in die Richtung seiner Recherche, dachte über das nicht-so-ganz-silberne Silberbesteck nach und über den dunklen Gang, beschäftigte das Zahnrad in seinem Kopf, damit er sich nicht von der makellosen, glatten Haut ablenken ließ, die sich unter dem Morgenmantel seines Gegenübers abzeichnete, wie ein einladendes - ah! Da war es doch schon wieder, diese Ablenkung, als hätte er im Leben noch nie einen nackten Mann gesehen, ha-ha. In seinem Berufszweig war es quasi unmöglich, keine nackten Männer zu sehen, und außerdem auch keine nackten Frauen, Frauen wie Darcy, mit der er ja schließlich gerne... nunja. Er musste sich ja nun auch nicht zwingen, über den Sex mit ihr nachzudenken. Manchmal war es auch einfach gut, gar nicht zu denken.
      Er hielt es in etwa so lange aus, bis Lord Harker sich nach vorne beugte, sein Glas abstellte, sich wieder in den Sessel fallen ließ und ihm dabei der Morgenmantel von der Schulter rutschte. Da fand Thomas es mit einem Mal unheimlich wichtig, das Glas auf dem Tisch zu studieren, oder seine Finger oder die Masse der anderen Gäste, hauptsache, er musste den Anblick nicht ertragen. Die veränderte Stimme des anderen Mannes veranlasste ihn dann allerdings doch dazu, den Blickkontakt wieder herzustellen und diesmal einen deutlich wacheren Lord Harker zu betrachten. Wenn ihn seine Aussage nicht so schlagartig wieder verunsichert hätte, wenn sie nicht das Gefühl zurückgeholt hätte, das ihn am gestrigen Abend noch so im Griff gehabt hatte, hätte er sich wohl deutlicher gewundert, wie dieser verkaterte Mann es schaffte, eine solche Eindringlichkeit in seine Augen zu legen, als wäre er hellwach und bei vollsten Sinnen. So war er allerdings mit der Gesamtsituation gänzlich überfordert, dem gleichzeitigen Verdrängen der Erinnerung, der Konzentration auf etwas wesentlicheres und dem verzweifelten Fixieren auf die Augen seines Gegenübers, um sich bloß nicht von der heruntergerutschten Robe ablenken zu lassen, um dieser Tatsache einen weiteren Gedanken zu schenken. Es war doch nur eine Schulter, Herrgott! Was war nur mit ihm los, war er etwa immer noch betrunken? Das war ja beinahe unmöglich.
      "Was geschehen ist ist geschehen und es bringt nun nichts mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir wollen doch schließlich alle nur ein wunderbares Fest genießen."
      Das Gespräch wandte sich wieder in neutralere Gefilde und damit auch Lord Harkers Stimmung, die zunehmends wieder in seine Schlafenheit abtauchte. Thomas merkte, wie sich eine unsichtbare Last von seiner Brust hob, die er bis dahin gar nicht wahrgenommen hatte.
      "O nein. Alle Ihre spukenden Geister haben uns in Ruhe gelassen, oder aber wir haben zu fest geschlafen, um sie mitzubekommen. Es ist fast eine Schande, das wäre doch ein interessantes Erlebnis gewesen."
      Er erinnerte sich wieder an den Traum, an die vagen Fetzen davon, an die er sich noch erinnern konnte, und an seinen kurzzeitigen Drang, dem Traum nachzugehen. Nun war wahrscheinlich die beste Zeit dafür.
      "Ich möchte Sie nun auch nicht weiter stören, Sie möchten sicherlich ein bisschen Ruhe genießen. Denken Sie daran, bloß genug trinken."
      Er ließ ihm ein professionelles Lächeln zukommen, während er sich aus dem Sessel erhob, die Falten seines Anzugs glatt strich und sich sogleich auf dem Weg in die Menge machte, ohne sich noch einmal durch einen Blick zurück aufhalten zu lassen.

      Sein Ziel war Darcy, die er erreichte, nachdem er einen sanften Schlenker durch die Gruppen machte und an ihre Bank herantrat, an der sich die fünf Frauen tummelten. Sie wurden in ihren Gesprächen leiser, als er herantrat, und warfen ihm alle freundliche Blicke zu, mit Ausnahme von Darcy, die neugierig dreinsah.
      "Verzeiht, die Damen, ich werde Fräulein Brooks einmal entführen müssen. Ich verspreche, sie zeitig wieder zurückzubringen."
      Die Frauen kicherten unter vorgehaltener Hand über seine eigentlich überhaupt nicht lustige Formulierung und er streckte Darcy die Hand entgegen, die sie ergriff und sich von ihm hochziehen ließ. An diesem Tag sah sie nicht mehr ganz so lächerlich aus wie am Vortag. Das stimmte ihn wieder etwas gütiger.
      Er führte sie ein Stück beiseite, vergewisserte sich, dass niemand in ihrer Umgebung lauschte, und senkte die Stimme.
      "Jetzt wo er hier ist, möchte ich mich in seinen Privaträumen umsehen. Du musst ihn für mich im Auge behalten und ihn aufhalten, wenn er nach oben gehen sollte. Gib' mir vielleicht... 10 Minuten, einverstanden? Wirst du das hinkriegen?"
      Darcy wollte an ihm vorbei schon zu Lord Harker sehen, als Thomas sie hastig anfuhr:
      "Schau nicht zu ihm, bist du wahnsinnig! Behalte ihn einfach ein bisschen im Auge. Er ist grade erst gekommen, so schnell wird er ja wohl nicht wieder gehen."
      "Und wonach suchst du?"
      "Wonach wohl? Nach Blutgefäßen, die er regelmäßig leer trinkt. Herrje Darcy, schalte doch für einen Moment dein Hirn ein, wir haben kaum Anhaltspunkte, bis auf das billige Silberbesteck und den dunklen Gang oben. Vielleicht hat er ja... ach, ich weiß auch nicht. Irgendwas muss ihn doch verraten und wir müssen es nur finden. In den Keller werde ich auch einmal müssen, aber erst kommt das Obergeschoss dran. Behalte ihn im Auge, okay? Ich verlasse mich auf dich."
      "Ja doch."
      "Gut."
      Er gab ihr einen flüchtigen, hastigen Kuss, dann trennten sich beide wieder und er ging gezwungen ziellos auf den Ausgang des Salons zu, hielt dort einmal Ausschau nach Bediensteten und machte sich dann auf in den ersten Stock.

      Das Studierzimmer sah bei Tageslicht gänzlich anders aus, weniger mysteriös und mehr wie ein normales, alltägliches Büro. Die Unterlagen und Bücher lagen alle noch so, wie Thomas sie glaubte vom Vorabend in Erinnerung zu haben, und er ging mit raschen Schritten zu den Regalen an den Wänden, überflog die Buchtitel, sah sich manche lose Blätter an, ging zum Schreibtisch über, durchsuchte die Unterlagen. Er hielt nach nichts bestimmtem Ausschau, aber wenn es etwas gab, was den Vampir verraten würde, würde er es auf den ersten Blick finden, so war er sich sicher.