In his Thrall [Codren feat. Pumi]

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    • Da war er. Der Hinweis, auf den Vincent gewartet hatte. Charles wusste um die Arbeit der Van Helsings. Allerdings konnte Vincent immer noch nicht genau bestimmen, wie alt Charles wohl sein mochte. Sein Pokerface war alles andere als gut - zumindest für jemanden, der gerade erfahren hatte, dass er einem Erben der Familie gegenüber saß, die notorisch dafür waren, die eigene Art zu jagen und erfolgreich zu erlegen. Dass Thomas das Ganze nicht bemerkte, war allerdings ein Grund zur Sorge.
      "Hin und wieder verreise ich, ja, aber ich würde das als Geschäftsreisen bezeichnen. Ich bin noch nie verreist, ohne dabei meine Sammlung antiker Bücher zu erweitern," antwortete Vincent freundlich, als bemerke nicht, wie sehr Charles nach Informationen lechzte.
      Dieses Spiel, dieses Geben und Nehmen, war nichts Neues für Vincent. Er würde seine Antworten bekommen, allerdings bildete er sich dabei ein, ein bisschen eleganter vorgehen zu können, als dieser Charles. Bisher schien der Mann noch nicht besonders lange in der Nacht zu wandeln. Sein Verhalten war einfach zu... kindisch. Vincent konnte es nicht anders bezeichnen.
      "Die Regeln kenne ich, ja, aber ich verspreche nicht zu viel. Es hat einen Grund, warum ich lange keine Karten mehr gespielt habe. Einen sehr teuren," scherzte Vincent, als er sich seine Karten ansah.
      Da er neben dem Geber saß, war er derjenige, der als erstes setzen musste. Was er auch sogleich tat. Er war nicht ganz so schlecht in Kartenspielen, wie er hier gerade behauptete, allerdings gab er sich nicht gern als guter Spieler. Für jemanden mit seiner Lebenserfahrung war es einfach, Menschen zu lesen. Es half auch, ihren Herzschlag hören zu können, wenn sie logen. Aber gewinnen war heute Abend auch gar nicht sein Fokus. Er beobachtete viel lieber Charles und wie der spielte. Und Thomas, der hoffentlich bald auf die Idee kam, diese Gesellschaft zu hinterfragen. Wenn nicht, würde Vincent eingreifen müssen. Musste er sowieso. Nie im Leben würde er diesen Charles verschwinden lassen, ohne mit ihm geredet zu haben. Er hatte keine Lust, sich sein Revier zu teilen, selbst wenn er nicht aktiv darin jagte.
      "Gibt es davon noch mehr?" fragte er und deutete auf Charles' Zigarre.
    • Unter weiterem, vereinzeltem höflichen Geplauder starteten sie das Spiel, nachdem auch Charles bestätigte, die Regeln zu kennen. Thomas nahm einen Schluck von seinem Whiskey, sah auf seine Karten, setzte. Als er aufsah, hatte Charles sich Vincent zugewandt, um seine Frage zu beantworten.
      "Natürlich. Wieso gehen wir später nicht nach draußen, wenn wir schon zu zweit sind, dann muss der gute Herr Doktor nicht an unserem Rauch leiden."
      Thomas zog eine Augenbraue hoch, wollte etwas entgegnen, tat es dann doch nicht. Er beobachtete, wie Charles seine Zigarre mit flinken Fingern wieder in seinem Etui verschwinden ließ, auf seinem Stuhl ein wenig herumrutschte, sich noch weiter nach hinten lehnte und dann seine Karten verdeckt auf dem Tisch ablegte, alles, ohne Thomas aus den Augen zu lassen. Die beiden starrten sich für einen Moment an ohne zu blinzeln, Charles starr, Thomas unwillens dazu, den Augenkontakt als erstes abzubrechen. Sein Instinkt schlug an, eine Alarmglocke in seinem Hirn, die losklingelte und seine Eingeweide weckte. Er versteifte sich selbst ein wenig, richtete sich ein Stück auf.
      Charles wandte seinen Blick schließlich wieder zu Vincent.
      "Sind Sie ein Mann der Religion, Charles?"
      Die ausdruckslosen Augen richteten sich wieder auf ihn - und dann brauchte Charles eine Sekunde zu lange, um zu antworten. Es war nur eine äußerst kurze Verzögerung, sie konnte nicht mehr als eine Sekunde betragen haben, ehe er den Mund für eine Antwort öffnete, aber es war in Thomas' Augen eine Sekunde zu lang.
      "Warum?"
      "Ihre Halskette."
      "Ach. War ein Geschenk."
      "Dann sind Sie nicht religiös?"
      "Kann man nicht, so sagen, nein."
      Thomas lehnte sich zurück. Der Abend hatte sich gerade äußerst unbefriedigend für ihn entwickelt.

      Bei der nächsten Runde sah er nur kurz in seine Karten, setzte irgendwas und beobachtete dann Charles. Der Mann sah seine Karten lange Zeit starr an, dann hob er den Kopf, begegnete Thomas' Blick, wirkte ertappt und lächelte ein wenig. Er setzte und gewann die Runde zum zweiten Mal.
      In der folgenden Runde versuchte Thomas den Trick, den er bereits bei Vincent getan hatte: Er kratzte mit dem Daumennagel über die Innenseite seiner Karten, eine winzige, unaufhörliche Bewegung, die er selbst überhaupt nicht hörte und durch die kleine Bewegung auch nicht sichtbar war. Dann beobachtete er Charles. Der Mann starrte wieder in seine Karten wie bei den letzten Malen, wurde kurz darauf von Tony angeredet, neigte sich ein Stück zu ihm. Sein Blick wanderte dabei auf die Tischplatte, weiter zu Hughes und schoss dann über Thomas' Karten hinweg wieder auf seine eigenen. Er beantwortete Tonys Frage, lächelte sein schiefes Lächeln, lehnte sich wieder zurück. Thomas vollzog sein Kratzen weiterhin, setzte mit der anderen Hand und stoppte in dem Moment, als Charles seinen eigenen Einsatz setzte. Ihre Blicke begegneten sich von Neuem.

      Als die gesamte Runde nach einer halben Stunde endete, hatte Charles haushoch gewonnen und Thomas war sämtliche Lust an Gesprächen vergangen. Er war zu beschäftigt damit, seine geistliche Liste durchzugehen und sich zu fragen, ob er auf die Schnelle irgendwo Silber herbekommen konnte, um auf Hughes Gesprächsanläufe ordentlich zu antworten. Erst, als Charles sein Wort an Vincent richtete, wurde er ein bisschen lebendiger.
      "Gehen wir kurz nach draußen, Vincent? Eine kleine Raucherpause."
      Er stand auf, indem er seinen Stuhl über den Holzboden nach hinten schob. Als Vincent sich erhob, hätte Thomas sich beinahe selbst verraten, als er nach seinem Arm griff. Er suchte händeringend für einen Moment nach einer Ausrede, konnte sich allerdings auf keine besinnen.
      "Bleib nicht zu lange in der Kälte."
      Herrgott, wie sollte er Vincent weis machen, dass Charles ziemlich sicher ein Vampir war? Sie hätten ein Codewort oder sowas ausmachen müssen. Er würde ihm fünf Minuten geben, keine Sekunde länger, bevor er ihnen nachgehen würde. Zum Glück stand Hughes Haus an einer Hauptstraße, kein Ort, bei dem Menschen sehr leicht verschwunden gehen konnten.
    • Thomas hatte also doch Wind bekommen von der potenziellen Gefahr, die da mit ihnen am Tisch saß. Gut. Aber musste er wieder diese Taktik mit dem furchtbaren Kratzen anwenden? Es erforderte einiges an Willenskraft, ihm nicht wie einem unartigen Kind auf die Hand zu hauen.
      Vincent verlor einiges an Geld in dieser Runde, zog sich aber klugerweise aus den Runden zurück, bevor es zu teuer wurde. Immer wieder machte er Witze darüber, dass er wirklich kein gutes Händchen hatte. Er ließ die anderen Männer regelmäßig wissen, wann er bluffte und wenn er dann doch einmal ein gutes Blatt hatte, verspielte er jedes dritte davon mit voller Absicht.
      Und dann, endlich, war das Spiel vorerst vorüber und Charles fragte ihn, ob sie eine rauchen gehen wollten. Perfekt.
      "Was will ich denn da draußen, wenn die gute Gesellschaft und der noch bessere Whiskey hier unten auf mich wartet," scherzte Vincent mit einem breiten Lächeln.
      Er wusste, dass sich Thomas Sorgen darüber machte, seinen neuen Lover mit einem Vampir allein zu lassen. Wenn er doch nur wüsste, dass es dafür keinen Grund gab. Aber wenn Vincent seine Karten heute Nacht richtig spielte, dann würde sich Thomas noch eine Weile Sorgen um ihn machen, wann immer sie einem Vampir begegneten - was hoffentlich weniger oft der Fall sein würde.
      Er folgte Charles aus dem Keller und aus dem Haus heraus. Auf ihrem Weg begegneten sie kurz der Dame des Hauses, mit der Vincent ein paar höfliche Worte austauschte. Sie brachte ihm sogar seinen Mantel.
      Draußen sah sich Vincent um, wie er es so oft tat, wenn er in einer belebten Stadt war. Manche Instinkte wurde man einfach nicht los. Er nahm die Zigarre von Charles entgegen und nutzte diese Gelegenheit, um den Mann zu mustern. Gut aussehen tat er ja.
      "Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden. Zumal es nicht Ihr Stil zu sein scheint, subtil vorzugehen. Wenn Sie den Van Helsing noch deutlicher anstarren, brennen Sie noch ein Loch in seinen Kopf. Er vermutet jetzt schon etwas. Diesen Kratz-Trick hat er auch mir gegenüber verwendet. Sie sollten nichts von ihm entgegennehmen, es könnte Silber sein. Und es wäre höchst unpassend, wenn Sie auf einmal die gleiche seltsame Krankheit haben, wie ich. Ich habe ihm das weis gemacht, als wir gestern essen waren."
      Vincent schob eine Hand in eine Hosentasche und gab sich entspannt. Aber nach dem ersten Zug an der Zigarre wandte er sich Charles zu, ignorierte dessen persönlichen Raum und starrte ihn in Grund und Boden.
      "Wenn Sie mir das hier versauen, werden Sie sich wünschen, Ihre Verwandlung nicht überlebt zu haben. Der Van Helsing gehört mir. Ich werde niemand anderen diese Blutlinie beenden lassen, verstanden?"
      Er unterstrich seine Aussage mit einem leisen Knurren. Er musste diesem Charles klarmachen, dass das hier sein Revier war und dass er keinerlei Konkurrenz duldete.
    • Charles war ein Mann bulliger Gestalt, mit auffallend dicken Muskeln und einem eher steifen Gang. Er brachte, was Höflichkeit und Manier anging, das absolute Grundmaß an den Tag, allerdings nichts, was darüber hinausging. Auf dem Weg nach draußen nickte er der Hausdame nur kurz zu und bediente sich dann gleich seiner Zigarre, bevor er Vincent eine andere reichte. Sein Blick war starr, als wolle er nicht die Mühe auf sich nehmen, seine Umgebung im Auge zu behalten, und seine Aufmerksamkeit begrenzte sich ausschließlich auf sein Umfeld, was in diesem Moment von Vincent ausgefüllt wurde. Er zündete ihrer beider Zigarren an und blies den Rauch in einer kleinen Wolke in die Luft. Schließlich grinste er, aber es hielt nicht lange an; spätestens, als Vincent ihn so eindringlich anstarrte, schien er wohl zu begreifen, dass der andere es durchaus ernst meinte.
      "Ich bin für ein entspanntes Abendessen hergekommen und stattdessen treffe ich einen van Helsing und ein kleines Schoßhündchen von ihm, das mir noch Ratschläge erteilen will. Wie dumm kannst du sein, dich in seiner Nähe aufzuhalten? Der Mann ist Gift und du bist schon von oben bis unten verseucht."
      Er nahm einen weiteren Zug seiner Zigarre und blies den Rauch in Vincents Gesicht. Ganz anscheinend schien er erpicht darauf, sich von dem anderen nicht einschüchtern zu lassen, allerdings war er schlecht darin die Steifheit seines Körpers zu verstecken, die ihn befallen hatte, nachdem Vincent so direkt auf ihn zugetreten war. Zumindest war seine Stimme dunkel genug, um sein nachfolgendes Knurren zumindest akustisch einprägend wirken zu lassen.
      "Wenn du ihn nicht erlegen kannst, dann überlass' es jemand anderem, aber ich werde mir mein Essen nicht versauen lassen, nicht von dir und auch nicht von einem Jäger. Also entweder", er tippte ihm ungeniert gegen die Brust, "du ziehst Leine und suchst dir ein anderes Haus für dein Abendessen, oder ich werde dich wie einen Fisch entgräten. Was darf's sein, Lockenkopf?"
      Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarre.
    • Vincent setzte ein sein übliches, freundliches Lächeln auf. Im nächsten Augenblick packte er Charles' Handgelenk, riss es herum und drückte die Zigarre auf dessen Handgelenk aus, bevor er ihn mit der freien Hand an der Kehle packte und gegen die nächste Hauswand presste, sodass die Füße des anderen Mannes einige Zentimeter über dem Boden baumelten. Er hatte einige Augenblicke, bevor sie jemand beobachten würde, da er mit voller Absicht darauf gewartet hatte, dass das Pärchen am Ende der Straße um die Ecke bog und damit außer Sichtweite war.
      "Schoßhündchen?" lachte er. "Du scheinst mich nicht verstanden zu haben, Kleiner. Aber was soll man von einem Jungspund wie dir auch schon erwarten? Du bist wie alt? Fünfzig? Sechzig? Du magst die Geschichte der Van Helsings kennen, aber du hast keine Ahnung. Dieser Mann würde dich in der Luft zerfetzen. Aber deinesgleichen können ja nicht anders als mit der Tür ins Haus zu fallen. Für Eleganz und Präzision hast du einfach keinen Sinn. Du kannst ja nicht einmal einer direkten Frage ausweichen, ohne das ein Jäger Verdacht schöpft. Oder glaubst du wirklich, er hat dein Zögern vor deiner Antwort nicht bemerkt?"
      Vincent verstärkte seinen Griff um den Hals des anderen Vampirs.
      "Iss, wen auch immer du essen willst, das ist mir egal. Aber wenn ich dich nach heute Abend noch einmal sehe, werde nicht ich es sein, der ausgeweidet dem Sonnenaufgang ausgeliefert ist. Finger weg von dem Van Helsing und raus aus meinem Revier."
      Er drückte noch ein wenig fester zu, machte einen Punkt daraus, seine Finger in das weiche Fleisch zu drücken. Dann ließ er Charles los, lächelte freundlich und richtete dessen Hemdkragen.
      "Danke für die Zigarre," erwiderte er zuckersüß und verschwand wieder nach drinnen.
      Schnellen Schrittes hielt er auf den Keller zu, wo er sich Thomas schnappe und ihn kurz zur Seite nahm. Dieser Charles war gefährlich, er wollte kein Risiko eingehen.
      "Thomas, ich glaube, wir haben ein Problem," begann er und sah sich dabei kurz verschwörerisch über die Schulter. "Ich weiß zwar nicht genau wie dieses Vampir... Ding funktioniert, von dem du mir erzählt hast, aber diese Wesen trinken Blut, nicht war? Dieser Charles... der hat mir eben die ganze Zeit auf den Hals gestarrt. Der starrt mich schon den ganzen Abend so an, als wäre ich etwas zu Essen. Da draußen war ein Pärchen auf der Straße und er... ich weiß nicht. Aber dieser Blick... sowas habe ich schon einmal gesehen. Bei einem alten Bekannten meines Vaters. Bei dem Tiger, den er aus Indien mitgebracht hat. Das war der Blick eines Raubtieres, ich sage es dir."
      Wieder sah er über seine eigene Schulter, als fürchte er sich davor, Thomas all das zu sagen, während Charles im Raum sein könnte.
      "Vielleicht bin ich nur paranoid, aber dieser Mann ist mir alles andere als geheuer. Und normalerweise bin ich nicht so schreckhaft. Können wir irgendwie herausfinden, ob er... du weißt schon?"
    • Thomas hätte seine Erleichterung gar nicht in Worte fassen können, als Vincent nur wenige Minuten später äußerst lebendig und unbeschadet wieder hinab kam. Er hätte das ganze Viertel, ja sogar die ganze Stadt auf den Kopf gestellt, wenn Vincent verschwunden wäre, und dann hätte er Charles stückweise die Haut vom Körper geschält, um sich dafür zu rächen, was er Vincent angetan hatte. Es war schon erstaunlich, wie sehr ihm der blonde Mann in der kurzen Zeit ans Herz gewachsen war - erstaunlich, aber nicht unverständlich, wie Thomas fand. Vincent musste man einfach lieben.
      Seine Sorge stieg wieder ein bisschen mehr, als Vincent ihn zielsicher anstrebte und ein Stück vom Tisch wegholte, wo Hughes ihnen gerade allen nachschenkte. Seine Alarmglocken schlugen wieder an und er versteifte sich, während er Vincents Erzählung lauschte. Zugegeben hörte es sich anfangs etwas unglaubwürdig an, dass ein Vampir ein so offenes Interesse daran zeigte jemanden umzubringen, allerdings hatte Vincent recht damit, dass Charles ihn schon den ganzen Abend angestarrt hatte, das war ja selbst Thomas aufgefallen. Und außerdem war er selbst schon kurz davor seinen Verdacht zu bestätigen, daher sah er die vage Erläuterung des anderen schon mehr als weiteres Beweisstück.
      Aber einen letzten Test würde er durchführen, um sich absolut sicher zu sein. Nicht an diesem Abend und auch an keinem anderen würde er gegen seine Prinzipien verstoßen und jemanden verurteilen, bevor er sich nicht absolut sicher war, dass er tatsächlich ein Vampir war. Und erst recht nicht würde er irgendjemanden in diese Sache hineinziehen - ganz sicher nicht Vincent.
      "Können wir, aber lass das ruhig meine Sorge sein. Wir sind hier sicher, solange wir in der Gruppe sind, wir wären viel zu viel für ihn. Also mach dir keine Gedanken."
      Er lächelte ihn über die dicke Lüge, die er ihm gerade auftischte, hinweg an und fügte dann hinzu:
      "Aber geh vielleicht nicht wieder mit ihm rauchen - nur um sicher zu gehen."
      Es war ihm alles andere als recht Vincent zu offenbaren, dass er ein Jäger war. Der andere hatte das Thema des Vampirismus zwar gut aufgefasst, aber die Meinungen über die Jäger gingen so extrem auseinander, dass das eine nichts über das andere aussagte. Außerdem würde Vincent wohl früher oder später begreifen, dass Thomas daher auf das Fest gegangen war, um sich seiner Existenz als Vampir klar zu werden und das war etwas, das er - nachdem er den anderen so sehr ins Herz geschlossen hatte - mit ins Grab nehmen wollte. Er würde ihre Freundschaft keineswegs durch sein Vermächtnis gefährden, also würde er versuchen zu vermeiden, Vincent darin einzuweihen.
      Er lud ihn zurück an den Tisch ein und legte ihm beim vorübergehen kurz die Hand auf den oberen Rücken. Dann setzte er sich selber, zog eine freundliche Miene auf und bemühte sich, sich zurück in die Runde einzugliedern, allerdings nur sehr halbherzig. Er hatte es ziemlich sicher mit einem Vampir zu tun, also würde er Vorkehrungen treffen.
      Er nahm ein paar tiefe Atemzüge, leierte gedanklich sein Mantra herab und atmete zuletzt so lange aus, bis er sämtliche Luft aus seiner Lunge gepresst hatte. Er zwang seinen Herzschlag auf einen beständigen, langsamen Rhythmus herab, den er von diesem Moment an bewusst beibehalten würde müssen, der aber im Gegenzug nicht dazu neigen würde, seine Gedanken zu verraten. Dann dachte er darüber nach, wo er Silber herbekommen würde.

      Charles kam nur kurze Zeit später herab. Er hatte eine ausdruckslose Miene aufgesetzt und sah niemanden direkt an, als er den Tisch umrundete, um zu seinem Platz zurückzukehren. Wenn er vor ein paar Minuten noch Vincent als sein Abendessen beobachtet hatte, ignorierte er ihn jetzt völlig und wandte sich stattdessen der Runde zu, um sich scheins daran zu beteiligen. Auch Thomas sah er nicht mehr an, was dieser beinahe schade fand. Die Möglichkeit, ihm weitere verräterische Reaktionen zu entlocken, war damit wohl vergangen.
      Sie fingen eine neue Runde an, in der Hughes - der nun selbst mitspielte - sich freundschaftlich darüber ausließ, dass Vincent wohl noch ein bisschen Übung im Kartenspiel benötigte und sehr gerne öfter bei ihm vorbeischauen konnte - wenn er denn wollte. Hughes selbst kenne sämtliche Kartenspiele, die England zu bieten hatte, und wolle es nicht verantworten, dass jemand so hoch angesehenes wie Vincent sich eines Tages durch Unwissenheit blamieren würde. Es war deutlich zu erkennen, dass er nur darauf abzielte, in anderer Gesellschaft damit angeben zu können, mit dem einzigartigen Lord Harker befreundet zu sein. Er verpackte es allerdings gut in sein offenherziges Angebot an Vincent, so wie Thomas fand, der ja wahrscheinlich von allen Anwesenden der einzige sein konnte, der ganz wahrheitsgemäß damit angeben konnte, mit Vincent befreundet zu sein. Vielleicht hätte er das sogar getan, wenn sie beide nicht mehr als pure Freundschaft verbunden hätte.

      Sie spielten erneut und Charles gewann erneut. Dieses Mal spielte Thomas so schlecht, wie er nur konnte, und verspielte in kürzester Zeit sämtliche seiner Chips, bis er zum setzen keine mehr übrig hatte. Da zog er sein Kruzifix hervor und platzierte es auf dem Tisch.
      "Oh Thomas, sag nicht, du hast keinen Einsatz mehr! Nimm doch deine Kette zurück, ich geb dir ein paar von meinen", rief Hughes, aber Thomas winkte ab.
      "Lass uns doch das Spiel nicht dafür unterbrechen, ich benutze sie nur als Platzhalter. Nachher kannst du mir einen Chip geben."
      Hughes stimme widerwillig zu und sie spielten zu Ende. Wie zu erwarten war, gewann Charles und zog den Haufen zu sich, während Thomas sich einen neuen Einsatz holte, ihm einen der Chips hinhielt und die andere Hand ausstreckte.
      "Dürfte ich die Kette wiederhaben?"
      Charles sah zu ihm auf, zum ersten Mal in dieser Runde, stierte ihn für einen Moment an und nahm sich dann die Kette. Er hielt sie ihm hin, ohne zu zucken und eine Miene zu verziehen, aber Thomas stellte sich unbeholfen damit, ihm den Chip in die selbe Hand geben zu wollen. Er zögerte die Übergabe ein paar Sekunden länger heraus, indem er den Chip umständlich in Charles' Hand zu platzieren versuchte, bevor er die Kette an sich nahm. Der andere Mann zog seine Hand sofort zurück, aber Thomas hatte trotzdem die Rötung auf seinen Fingern gesehen.
      ... Dieselbe Rötung, die auch Vincent am gestrigen Abend hatte.
      Dessen war Thomas sich in dieser kurzen Zeit absolut sicher, sein ärztlich geschultes Auge täuschte ihn nicht. Vincents Finger hatten gleich ausgesehen.
      Ihm wäre beinahe der Rhythmus seines Herzens entglitten, als er sich zurück auf seinen Stuhl setzte und sich einen Blick zu Vincent nicht verkneifen konnte. Er wollte etwas sagen, hätte gerne etwas gesagt, tat es dann doch nicht. Er musste sich stark auf sein Herz konzentrieren, darauf seine Achtsamkeit nicht zu verlieren, denn sonst wäre ihm sicher alles auf einmal entglitten.
      Es war ein Zufall, nur ein Zufall, nichts weiter. Alles nur Zufall. Er sollte sich lieber darauf konzentrieren, den Vampir zu fassen.
      Alles nur ein Zufall.
      Ihm kam in den Sinn, dass er die Tests auf Harker Heights nie vollständig abgeschlossen hatte.
    • Vincent ließ sich von Thomas beruhigen, spielte aber weiterhin den Besorgten, unter anderem auch, um ein Auge auf Charles haben zu können. Der Mann würde sich heute noch nähren und so wie er Charles einschätzte, würde dieser nicht aufhören, wenn sich der Herzschlag seines Opfers verlangsamte. Charles gehörte zu der Sorte, die ihr Opfer töteten, um ein, vielleicht zwei Tage lang gesättigt zu sein. In dieser Zeit suchten sie sich meistens ihr neustes Opfer. Anfänger, die für die Jagd lebten. Vincent konnte sie nicht leiden.
      Thomas war nun endlich davon überzeugt, dass hier ein wirkliches Problem vorlag. Vincent musste sich zusammenreißen, das silberne Kruzifix nicht anzustarren, als es über den Tisch wanderte und Charles es unachtsam entgegen nahm. Dieser verdammte Idiot! Jetzt musste sich Vincent etwas überlegen, denn er war sich sicher, dass Thomas die Ähnlichkeit zwischen seinen Händen vom vergangenen Abend und der von Charles heute erkennen würde. Zeitgleich musste er den Drang, einfach über den Tisch zu springen und Charles den Kopf abzureißen, unterdrücken.
      "Gentlemen, ich würde sagen, ich bin raus für diese Runde. Ich würde gern einen Teil meiner Würde behalten," scherzte Vincent.
      Er stand auf mit seinem leeren Glas und betrachtete die der anderen Gäste.
      "Ich mache mich mal nützlich und fülle unsere Gläser auf."
      Vincent sammelte die Gläser ein und tat, was er angekündigt hatte. Von seinem Platz weiter hinten aus beobachtete er Charles ein bisschen offener. Die anderen waren allesamt auf ihr Spiel konzentriert. Vincent versuchte herauszufinden, welchen der Anwesenden Charles als seine Beute betrachtete. Jeder hier kam in Frage, ausgenommen vielleicht Thomas, nach dem kleinen Stunt, den Vincent draußen durchgezogen hatte. Doch das machte diesen Abend hier nicht weniger gefährlich für den Van Helsing.
      Gekonnt trug Vincent alle fünf Gläser auf einmal zurück an den Tisch; ein kleiner Kniff, den er sich von Nora abgeguckt hatte. Er stellte es so an, dass er Charles' Glas zuletzt absetzte. Dabei stand er halb hinter dem Mann und musste sich an ihm vorbeibeugen. Für alle anderen sah es dabei so aus, als hätte Vincent seine Hand auf der Rückenlehne des Mannes positioniert. In Wahrheit aber presste er dem Mann ein kleines Messer, das er aus der Minibar mitgenommen hatte, in den Rücken.
      Unhörbar für den Rest der Anwesenden murmelte er dem anderen Mann zu: "Glaube nicht, dass ich dich nicht vor allen Anwesenden enthaupte, Kleiner, wenn du so weitermachst."
      Vincent richtete sich wieder auf und schlenderte lächelnd zu seinem Platz zurück. In den nächsten Runden machte er einen Punkt daraus, Charles zu schlagen. Mehr als einmal lief es darauf hinaus, dass sie beide die letzten Spieler waren. Vincent tat weiterhin so, als sei das alles das Glück der Dummen. Wann immer jemand anderes Charles die Stirn zu bieten schien, stieg er früher oder später aus, aber wenn er der einzige war, der ein gutes Blatt hatte, blieb er im Spiel. Es war so einfach, die Bluffs dieses Mannes zu durchschauen.
      Vincent war klar, dass er hier mit Feuer spielte. Er konnte sehen, wie der Mann wütend wurde. Sollte Charles nur. Vincent würde sich doch von einem Neuling der Nacht nichts vorschreiben lassen.

      Schließlich fand der nette Abend mit den unterschwelligen Machtspielen ein Ende. Vincent gab sich als ziemlich angeheitert, dabei spürte er die Effekte des Alkohols so gut wie gar nicht. Noch immer wusste er nicht, wen Charles sich heute vornehmen würde, aber seine Erfahrung sagte ihm, dass es entweder der Herr des Hauses war, weil dieser einfach hier bleiben würde - und somit musste Charles nur sicherstellen, dass er als letztes ging oder später wiederkommen. Oder aber, Charles würde sich diesen Tony vornehmen, mit dem er hier aufgetaucht war. Vincent hatte sich diesen Mann auch eingehend angesehen, aber keine Zeichen dafür entdeckt, dass Tony selbst ein Kind der Nacht war oder eine solche Verbindung zu Charles hatte, wie Nora zu ihm selbst. Tony war durch und durch ein Mensch und Vincent war davon überzeugt, dass er keine Ahnung von der Natur seines neuen Freundes hatte.
      Vincent lehnte sich in seinem Stuhl weit zurück und versank ein wenig unter dem Tisch, spielte den Verlierer gegen den Alkohol, als sich die ersten zum Gehen erhoben. Stumm beobachtete er die Männer um Charles und auch den Vampir selbst, um endlich einen Hinweis auf dessen Opfer zu finden.
    • Der Abend ging ohne weitere Komplikationen zu Ende. Charles ging kein zweites Mal hinaus und auch nicht Vincent, worüber Thomas äußerst froh war. Allerdings wirkte er deutlich angetrunken, so wie er in seinem Stuhl absackte.
      "Ich denke, es ist höchste Zeit zu gehen. Danke dir, Hughes, dir und deiner Frau."
      "Aber immer gerne doch! Meine Tür steht immer offen - naja, fast immer. Hat mich gefreut, der Lord! Schauen Sie doch wieder vorbei, wenn Sie in Cambridge sind."
      Thomas blickte beim Aufstehen auf Vincent hinab und bot ihm einen Arm an, um ihm beim aufstehen zu helfen. Er selbst hatte nichts mehr getrunken, nachdem er die Jagd begonnen hatte, das wäre nicht nur fahrlässig, sondern auch gefährlich gewesen.
      "Kannst du noch laufen?"
      Thomas war deutlich der nüchternste in der Runde - selbstverständlich bis auf Charles, der zwar ordentlich getrunken hatte, aber nicht anders wirkte. Bei dem Vampir hatte der Alkohol natürlich keine Wirkung.
      Charles war auch der einzige, der unzufrieden wirkte. Auf seiner Stirn hatte sich eine permanente, tiefe Falte gebildet, die wie eine Schlucht seine beiden Augenbrauen trennte. Er erhob sich zeitgleich mit Tony, der darüber scherzte, was für ein schlechter Verlierer Charly war und sie ja sowieso um nichts wertvolles gespielt hatten. Der bullige Vampir folgte dem Menschen, allerdings nicht, ohne seinen garstigen Blick auf Vincent zu werfen - und kurz darauf auf Thomas. Als sich ihre Blicke streiften, sah er allerdings schnell wieder weg, als wäre er geschlagen worden, und zuckelte hinter Tony her die Treppe herauf. Thomas stellte sicher, dass Vincent selbstständig gehen konnte, ehe er ebenfalls die Treppe hinaufging und ihn im Hausflur alleine ließ, wo Anne bereits daran war alle zu verabschieden.
      "Gib mir einen Moment."
      Er huschte hinüber durch einen Zweitgang in die Küche, solange er sich sicher sein konnte dort niemand anzutreffen, und kramte nach Besteck. Es war alles silbern und Hughes war nicht die Art von Mann, der mit Falschsilber trumpfen wollte. Er nahm sich also ein Messer, steckte es sich an die Hüfte unter den Hosenbund und schloss kurz darauf wieder mit Vincent auf.
      "Bitte, nach dir. Danke dir, Anne, schönen Abend euch."
      Anne verabschiedete sie herzlich und hielt ihnen die Tür offen.
      Vor dem Haus verabschiedeten sich Tony und Charles voneinander und Thomas beobachtete den Vampir so eindringlich, dass er fast vergessen hätte, für Vincent eine Kutsche heranzuwinken. Er betrachtete den blonden Mann kurz.
      "Fahr doch du schon nachhause, ich werde noch was erledigen. Ich komme nach, so, in einer Stunde?"
    • "Damit Sie mir noch mehr Geld aus der Tasche ziehen? Immer doch. Ich erwarte allerdings einige Flaschen guten Whiskeys, dafür habe ich heute ja schließlich großzügig bezahlt," scherzte Vincent und kam mit der Hilfe des Tisches und Thomas auf die Füße.
      "Ich bin angetrunken, Herr Doktor, nicht invalide."
      Dennoch schwankte Vincent für einen Augenblick, als bräuchte sein von Alkohol durchzogener Kreislauf einen Moment, um zu ihm aufzuschließen. Dann ließ er sich von Thomas die Treppe nach oben führen, immer ein Auge auf ihre Umgebung.
      Während der Van Helsing kurz verschwand, half Anne Vincent in seinen Mantel. Sie schien an betrunkene Gäste gewöhnt zu sein, so freundlich wie sie lächelte. Vincent bedankte sich überschwänglich bei ihr und versicherte ihr, dass er nächstes Mal, wenn er hier auftauchte, auch bestimmt ein Gläschen Wein mit ihr trinken würde.
      Draußen nahm Vincent einen tiefen Atemzug von der kalten Nachtluft, um seinen Kopf zu klären. Das war nur hab geschauspielert, er wollte wirklich den Geruch des Kellers aus seiner Nase vertreiben. Zwar war er vor einigen Stunden nicht besonders hungrig gewesen, aber ein Abend unter Menschen brachte das Monster in seinem Inneren dann doch in Versuchung.
      "Fahr doch du schon nachhause, ich werde noch was erledigen. Ich komme nach, so, in einer Stunde?" sagte Thomas.
      "Oh, du willst..? In Ordnung, ja. Entschuldige, ich hätte nicht so viel trinken sollen. Dann wäre ich jetzt eine größere Hilfe."
      Er griff nach Thomas' Hand und drückte sie kurz, ließ den Mann aber gleich wieder los.
      "Pass auf dich auf, ja? Ich habe dich doch gerade erst gefunden."
      Vincent stieg in die Kutsche, nachdem er dem Kutscher seine Adresse genannt hatte. Er wandte seinen Blick nicht von Thomas ab, bis sie um die nächste Ecke verschwanden. Dann lehnte er sich sofort aus der Kutsche und sagte dem Fahrer, er solle ihn an der nächsten Ecke rauslassen. Er bezahlte den Mann großzügig und schickte ihn weg. Sobald der Mann außer Sicht war, machte sich Vincent ebenfalls auf die Jagd. Er suchte in der Nacht nach dem ihm so vertrauten Duft von Zimt und Desinfektionsmittel und folgte ihm dann, immer versteckt in den Schatten. Alle seine Sinne liefen auf Hochtouren. Er hatte schon lange nicht mehr gejagt, war schon lange nicht mehr jemandem in der Nacht gefolgt. Das Biest, das ihm innewohnte, hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt.
    • Thomas blickte Vincent mit unterschwelliger Sehnsucht nach, so viel, wie er sich nur in Anwesenheit der anderen Abreisenden erlauben konnte. Die Zweifel über die Rötung von vor nicht allzu langer Zeit drängten sich bei Vincents Abschiedsworten schnell wieder in den Hintergrund. Vielleicht würde er noch einen kleinen Test bei ihm durchführen, nur um sich wirklich sicher zu sein, aber dann wollte er nie wieder auch nur einen Gedanken daran verschwenden. Vincent war einfach zu perfekt, um ein Vampir zu sein.
      Vorerst würde er sich um einen echten kümmern. Tonys Kutsche fuhr ebenfalls gerade ab und Charles machte sich auf den Weg den Bürgersteig entlang, während Thomas den entgegengesetzten Weg schlug, an der nächsten Ecke das Haus umrundete und dann, mit zügigeren Schritten, die Verfolgung aufnahm.
      Normalerweise hätte er sich Informationen über den Mann eingeholt, wäre nachhause gefahren, hätte sich seiner Ausrüstung bedient und ihm dann eine Falle gestellt. Nur eine kontrollierte Jagd, bei der er sich zu jeder Zeit über den Aufenthaltsort seines Ziels bewusst war, war eine erfolgreiche Jagd, aber dieses Mal war die Lage ein wenig anders. Die Nacht war noch recht jung, zumindest jung genug für einen Mord, und er würde nicht verantworten, dass einem seiner Freunde etwas zustieß - ganz besonders nicht Vincent. Zum Schluss würde Charles noch seine Fährte aufnehmen und ihm nachhause folgen und das war nun wirklich nichts, was Thomas in irgendeiner Weise zulassen würde. Bis er nachhause gefahren und wiedergekommen wäre, würde Charles über alle Berge sein.
      Also begann er die Verfolgung, ohne Vorkehrungen getroffen zu haben, ausgerüstet mit seinem Kruzifix und einem Silbermesser. Hätte Charles sich mit seiner naiven Art nicht als junger Vampir herausgestellt - er hatte ja sogar das Kruzifix berührt, dieser Dummkopf - hätte Thomas sich eine subtilere Vorgehensweise einfallen lassen müssen, aber so war damit zu rechnen, dass Charles überheblich und engstirnig war. Er würde seinen Vorteil ausschließlich in seinen übermenschlichen, körperlichen Fähigkeiten sehen, und während das trotz allem nicht ungefährlich war, war es doch etwas, was ihn vorhersehbar machte, und damit hatte Thomas ähnlich viel Kontrolle über ihn, als wenn er ihm eine Falle gestellt hätte.

      Charles blieb sein Verfolger natürlich nicht unbemerkt. Einen Vampir zu verfolgen war in etwa so, als wolle man sich an jemanden anschleichen, während man lauthals dessen Namen rief. In der richtigen Umgebung wäre es durchaus machbar, aber nachts, mit kaum Leuten auf der Straße, doch unmöglich.
      Daher kam es, wie zu erwarten war, und Charles bog in eine Seitenstraße ab, ohne sich vorher umzudrehen. Als Thomas die Straße betrat, war der andere verschwunden.
      Er blieb am Eingang stehen, gab sich verunsichert, musterte seine Umgebung. Sein Herzschlag durfte natürlich auch nicht fehlen, nicht umsonst hatte er sich so eine Kontrolle über sein Herz antrainiert. Er trieb ihn in die Höhe, gerade so weit, dass es für ihn selbst nicht unangenehm wurde, aber dass empfindliche Ohren es als ängstliches Herzklopfen wahrnehmen konnten. Dann setzte er sich langsam in Bewegung.
      Auf seiner rechten Seite stand in der Straße ein überfüllter Müllcontainer, auf der linken gab es einen Seiteneingang und eine Feuertreppe - keine Zivilisten und auch keine Pferde. Die nächste Straße war etwa 100 Meter weiter.
      Charles konnte nicht in den Container gegangen sein, ohne ein Geräusch zu machen, und die Feuertreppe stellte sich auch als schwierig heraus, da der Stahl erfahrungsgemäß auch bei leichtem Fußtritt sehr hallte. Wenn er ein guter Kletterer war, könnte er die Wände hinauf geklettert sein, oder er war in dem Seiteneingang verschwunden oder wartete an der Kreuzung auf Thomas. In jedem Fall rechnete er damit, dass er ihn von hinten überraschen würde.
      Er war keine zwanzig Meter gekommen, als er tatsächlich einen Lufthauch im Nacken spürte - also war es doch der Seiteneingang gewesen. Sein Reflex setzte ein und ließ ihn zur Seite springen, ehe er herumwirbelte. Leise wie eine Eule war Charles hinter ihm aufgetaucht und ragte nun wie ein Berg aus Fleisch vor ihm auf, die eine Hand ins Leere ausgestreckt, auf der Stirn noch immer die tiefsitzende Furche von einer Falte. Er war wütend - und wie er das war. Thomas würde sich wohl doch ein wenig in Acht nehmen müssen.
      Er kam gar nicht dazu, das Wort an den Vampir zu erheben, als der andere ihm bereits nachrückte. Dieses Mal hatte er keine Chance der schwieligen Hand auszuweichen und versuchte es auch gar nicht. Sie schloss sich beängstigend fest um seinen Hals und riss ihn nach hinten weg, bis er den Boden unter den Füßen verlor und gegen die Wand stieß. Obwohl er seinen Körper entgegen seines Instinkts entspannte, um die Gefahr eines Knochenbruchs zu senken, schoss ein dumpfer Schmerz durch seinen Rücken, der sich in seinem Gesicht widerspiegelte. Er packte Charles' Hand mit seinen eigenen und unternahm einen halbherzigen, und nicht ernstgemeinten Versuch, seine Finger von seinem Hals zu lösen. Charles hielt ihn unwissend so fest, wie Vincent ihn vor einer Stunde festgehalten hatte.
      "Hälst du dich für was besseres als ein Jäger der Nacht, du elender Scheißer?", knurrte Charles, seine beeindruckend tiefe Stimme rau wie Sandpapier. Thomas röchelte als Antwort ein wenig; er bekam tatsächlich keine Luft, aber er musste noch ein bisschen durchhalten, alles herauszögern. Bis zum richtigen Moment rauszögern.
      Charles trat näher an ihn heran, bis sein Gesicht kurz vor Thomas' schwebte. Spätestens jetzt musste er seinen Herzschlag nicht künstlich erhöhen, denn er hasste es, von einem Vampir festgehalten zu werden, und die Nähe seiner Fangzähne war tatsächlich etwas besorgniserregend. Aber der richtige Moment war noch nicht da.
      "Dein kleines, blondes Hündchen hat mir gesagt, ich solle die Finger von dir lassen", knurrte Charles und Thomas antwortete ihm in einem weiteren halbherzigen Versuch sich zu befreien - etwas anderes wäre wohl verdächtig gewesen. Blondes Hündchen? Meinte er etwa Vincent?
      "Dabei habe ich nichtmal zwei Sekunden gebraucht, um dich zu überwältigen. Die van Helsings sind wohl doch nicht so toll, wie alle behaupten, oder?"
      Seine Zähne blitzten in der Dunkelheit auf, allesamt von ihnen. Thomas wurde von Ekel erfüllt und wandt sich; langsam wurde seine Luft tatsächlich knapp. Zu seinem Glück schien sich Charles nicht weiter mit Small Talk aufhalten zu wollen, nachdem sein Blick bereits zu Thomas' Hals unter seinem Daumen herabwanderte und zweifellos zu dem pochenden Herz in seiner Brust. Er musste nur den richtigen Moment abwarten, aber wenn er ihn verpasste, war alles zu spät; ein äußerst riskantes Spiel, auf das Thomas sein Leben setzte. Er betete im Stillen dafür, dass es ihn auch diesmal nicht im Stich lassen würde und dachte kurzzeitig an das Glitzern in Vincents Augen, an sein freches Lächeln, an seine Lippen, an seinen Geruch. Allein deswegen schon hatte er nicht vor zu sterben.
    • Vincent fragte sich ernsthaft, wer diesen Charles gemacht hatte. Wer einen Vampir erschuf, war für besagten Vampir verantwortlich bis sie die Spielregeln verstanden. Sicher, jeder Jungvampir musste auch eigene Erfahrungen machen, aber dieser Charles... Vampire waren Lauerjäger, das wusste jeder, der sich mit der Materie beschäftigte. Sie jagten mit Geduld, im Verborgenen. Charles konnte nicht auffälliger mit einer brennenden Laterne in der Hand sein. Selbst seine ach so tolle Falle für Thomas war nichts weiter als Kinderkram.
      Vincent hockte auf einem Dach und lehnte sich gerade weit genug nach vorn, um sehen zu können, was in der Gasse vor sich ging. Nun war es an der Zeit für Thomas, sich zu beweisen. Vincent konnte nur hoffen, dass sich der Doktor als nicht so zerbrechlich herausstellte, wie er zuerst angenommen hatte. Thomas wirkte nicht wie ein Jäger, er wirkte nicht wie seine Vorfahren, und es fiel Vincent schwer, sich seine Talente vorzustellen. Er hatte gesehen, was ein fähiger Van Helsing anrichten konnte. Er hatte es sogar am eigenen Leib zu spüren bekommen.
      Er lauschte angestrengt auf Thomas' Herzschlag, versuchte herauszuhören, wann der Mann drohte das Bewusstsein zu verlieren. Vincent wollte nicht zu früh eingreifen und sich selbst verraten. Er wollte aber auch nicht zu spät sein und diesen Schwächling eine Reihe großer Männer zerstören lassen - mal ganz davon abgesehen, dass Thomas ihm schon jetzt zu sehr am Herzen lag, um einfach untätig dabei zuzusehen, wie er getötet wurde.
      Alles in ihm schrie danach, vom Dach zu springen und Charles die Wirbelsäule herauszureißen. Das Monster wollte sein Revier verteidigen, der Mann wollte seine Lover beschützen. Aber er tat es nicht. Er blieb dort oben auf dem Dach, bereit einzugreifen, und doch still wie eine Statue.
    • Als Charles sich die Lippen leckte, erkannte Thomas den Moment. Er war von seinem bevorstehenden Mahl abgelenkt genug, um unachtsam zu werden. Der Jäger erkannte es in seinem Blick.
      Er löste beide Hände von der Hand des Vampirs, aber nur eine davon schob sich über dessen Daumen an Thomas' Hals, um seinen Hals zu bedecken und gleichzeitig zu versuchen, den Daumen zu lösen. Wie zu erwarten packte der andere sein Handgelenk mit seiner freien Hand und riss es beiseite - in der gleichen Bewegung rupfte Thomas das Messer von seinem Hosenbund und jagte es, auf den Millimeter präzise, zwischen die beiden Unterarmknochen des Vampirs. Die Klinge zerschnitt spürbar das Muskelgewebe auf ihrem Weg durch den Arm, bevor sie auf der Oberseite herausstach. Blutspritzer verteilten sich auf den beiden Männern, aber nur einer von ihnen gab ein wehleidiges Knurren von sich.
      Die Hand um Thomas' Hals löste sich augenblicklich und auf seinem kurzen Weg zum Boden riss er das Messer wieder heraus, bevor Charles den Arm wegziehen würde. Thomas hatte mit dem Loch eine wichtige Muskelbahn durchtrennt, mit der Charles nicht nur seinen Mittel- und Ringfinger nicht mehr benutzen konnte, sondern schlichtweg nicht das ganze Gewicht von Thomas halten konnte. Seine Kräfte mochten noch so übermenschlich sein, ohne einen Muskel, der sie durchführte, waren sie nutzlos.
      Thomas schnappte nach Luft und befreite sein anderes Handgelenk durch eine Drehung seines Armes. Charles griff mit dem verletzten Arm bereits wieder nach ihm, aber mehr als ihn zu heben brachte er schon nicht mehr zu Stande. Thomas konnte seine Augen von dem Schmerz funkeln sehen.
      "Brennt, oder? Gewöhn' dich schonmal dran, ich bin noch nicht mit dir fertig", fauchte er und duckte sich gleichzeitig; der Schlag kam nur eine Sekunde später und traf die Wand hinter ihm. Gegen einen Vampir zu kämpfen war in etwa so, wie mit Feuer zu jonglieren, während man selbst in Öl getaucht war: Eine falsche Bewegung und ein fliegender Tropfen konnte eine wahre Explosion verursachen, die einen selbst unwiderruflich in Brand steckte. Daher wollte er es erst gar nicht darauf ankommen lassen, eine falsche Bewegung zu machen.
      Er war nicht schneller als Charles und er auch nicht stärker, daher musste er die Zukunft vorhersehen. Die Straße war etwa fünf Meter breit und bot, bis auf den Müllcontainer, kein Hindernis, das ihm - oder Charles - im Weg sein konnte. Charles hatte nur einen funktionsfähigen Arm, mit dem er agieren konnte, bis der andere sich in ein paar Minuten geheilt hatte. Ein ganzes Loch im Arm und dazu noch ein zerfetztes Muskelgewebe, brauchte auch bei einem gut genährten Vampir einen Moment, um sich wiederherzustellen. Thomas gab sich etwa zwei Minuten Zeit, um den Kampf zu beenden, wenn er diesen Vorteil ausnutzen wollte.
      Charles war wütend und er war nicht sehr umsichtig, sonst hätte er wohl an Thomas' silbernes Kruzifix gedacht und ihn danach durchsucht. Er hatte bis zum letzten Moment noch nicht einmal das Messer bemerkt, daher war davon auszugehen, dass er seine Umgebung nicht allzu sehr im Auge behielt - das schloss sich selbst ein.

      Thomas behielt seinen Blick auf Charles gerichtet, als er sich unter dem Schlag wegduckte und sich gleichzeitig von der Wand wegdrehte. Er beobachtete das Muskelspiel auf dessen Schulter, das sich unter dem Hemd deutlich abspielte, und duckte sich ein weiteres Mal, bevor der folgende Schlag, der ihm eigentlich den Kopf hätte zertrümmern können, in die Luft über ihn ging. Die Muskeln reagierten in der Hitze des Gefechts stets, bevor der eigene Kopf wusste, was er wollte, und Thomas hatte in seinem Leben schon genügend menschliche Körper beobachtet, um die feinen Bewegungen deuten zu können. Er tänzelte wieder zur Seite, als Charles nach ihm griff. Mittlerweile hatte er sich von der Begrenzung der Wand entfernt.
      Mit jedem weiteren erfolglosen Ansturm wurde Charles ungehaltener und lauter. Er fluchte ungeniert, was Thomas als äußerst unsittlich empfand, und versuchte ihn wieder an die Wand zu treiben, um ihm den Spielraum zu nehmen. Thomas ließ es für einen Moment zu, bis er nur nahe genug an der Wand war, sich dann erneut unter dem Griff hinweg duckte - der Vampir schien es auch beim vierten Mal schon nicht gelernt zu haben - sich über die Seite des nutzlosen Armes hinweg drehte und ihm gegen die Kniekehle trat. Charles stolperte gegen die Wand, und richtete sich gerade erst auf, als ihm Thomas das Messer in den Rücken rammte und es dort stecken ließ.

      Der Vampir brüllte und griff nach dem Messer. Er dehnte sich danach, beide Arme und sogar den Rücken, aber er konnte es nur mit seinen Fingern streifen. Es steckte präzise in dem einen Rückenwirbel zwischen den Schulterblättern, den ein Mensch nur erreicht hätte, wenn sein Körper absolut dafür gedehnt war. Charles war es nicht. Er bog sich danach, konnte es nicht richtig fassen und stieß dabei animalische Geräusche aus.
      Thomas zog sein Kruzifix hervor und spannte die Kette zwischen den Händen.
      "Letzte Worte?"
      Charles knurrte nur, dann wandte er sich zu ihm um und wagte einen letzten Ansturm.
      Thomas wäre dem schnellen Tempo ausgewichen, wenn der Vampir auf dem Weg nicht gestolpert und regelrecht auf ihn gefallen wäre. Sie stürzten beide zu Boden und obwohl Charles durch das Silber in seinem Rücken Höllenqualen leiden musste, brachte er es dennoch zustande, Thomas davon abzuhalten die Kette um seinen Hals zu wickeln, indem er sein Handgelenk packte und zur Seite riss. Ein scharfer Schmerz in seiner Hand ließ Thomas ärgerlich zischen und er verpasste dem anderen einen Faustschlag ins Gesicht, ehe er die Beine unter dessen Körper anwinkelte und ihn unter einer gewissen Anstrengung von sich warf. Charles rollte über den Boden und bevor er sich wieder aufrichten konnte, war Thomas schon bei ihm, kniete sich auf ihn, riss das Messer aus seinem Rücken und rammte es ihm mit der Anstrengung beider Arme an anderer Stelle wieder hinein. Er musste zweimal zustechen, bis die kurze Klinge von hinten durch den Brustkorb brach und das Herz erwischte. Hughes Purrles sei Dank für seine qualitativ hochwertigen Messer.
      Der Vampir unter ihm erschlaffte nach seinem kurzen Todeskampf. Thomas richtete sich keuchend auf und streckte seinen Rücken durch. Seine Muskeln brannten, sein Rücken schmerzte, sein Handgelenk fühlte sich an wie von tausend Nadeln durchstochen, er roch seinen eigenen Schweiß, den metallenen Gestank von Blut und ihm fiel jetzt erst auf, nachdem alles ruhig geworden war, wie unglaublich kalt diese Nacht im November doch war. Er verharrte für einen Moment regungslos, lauschte nach einem anbahnenden Aufruhr, vor dem er sich hätte verstecken müssen, wenn er nicht wegen Mord festgenommen werden wollte, und wartete darauf, bis er sich einigermaßen an den Schmerz in seinem Handgelenk gewöhnt hatte. Langsam wurde er zu alt für sowas, dessen war er sich sicher.
      Schließlich beugte er sich zu Charles hinab, sammelte das Messer ein - er würde es gründlich waschen und eines Tages zurück in Hughes Haus schmuggeln - und durchsuchte die Taschen des Vampirs. Er fand ein bisschen Geld, das er ignorierte, das Zigarrenetui, das er ebenfalls liegen ließ, und zuletzt einen Zettel, den er einhändig ausfaltete und flüchtig überflog. Er entschied sich dazu ihn einzustecken und machte sich dann auf einen langsamen Weg zurück zur Straße. Mit seinem von Blut verunstalteten Anzug würde er wohl kaum eine Kutsche abpassen können, ohne Fragen aufzuwerfen, also würde er wohl zu Fuß heimgehen müssen. Erst heim und dann zu Vincent. Wenigstens ein Lichtblick in dieser Nacht.
    • Vincent war mehrfach drauf und dran, dem Kampf beizutreten. Doch er tat es nicht. Stattdessen hing er am Rand des Daches wie ein wachsamer Gargoyle und lächelte ob der Demonstration, die Thomas da gerade lieferte. Himmel, er hatte den Mann gehörig unterschätzt. Der gute Doktor war in mehr als einer Hinsicht hervorragend ausgebildet worden und tatsächlich ein mehr als fähiger Jäger.
      Während sich Thomas daran machte, den nun toten Jungvampir zu durchsuchen, verschwand Vincent von seinem Aussichtspunkt, und kletterte auf der anderen Seite des Hauses wieder hinunter. Er nutzte seinen Willen und seinen Charme, um Thomas Zeit zu geben, zu verschwinden. Er überzeugte viele der Anwohner davon, noch ein paar Minuten damit zu warten, die Polizei zu rufen und sich die Gasse anzusehen. Manche konnte er sogar davon überzeugen, überhaupt nichts mitbekommen zu haben. Er konnte schlecht nachsehen, ob Thomas sich schon aus dem Staub gemacht hatte, aber mit der Erfahrung, die der Mann gerade demonstriert hatte, war er sicher schon auf halben Weg nach Hause, um seine blutigen Klamotten zu wechseln. Vincent war durchaus neugierig, wie der Erbe der Van Helsings seinem unschuldigen Lover das erklären wollte.
      Nach etwa fünf Minuten setzte sich auch Vincent ab, winkte sich ein paar Straßen weiter eine Kutsche heran und ließ sich nach Hause bringen.

      Vincent wies Nora an, einen kleinen Eimer Eis vorzubereiten, als plane er, noch ein paar Drinks zu haben. In Wahrheit wollte er darauf vorbereitet zu sein, Thomas' mit Sicherheit schmerzenden Knochen zu kühlen.
      "Wird Doktor Van Helsing den Rest der Nacht bleiben?" fragte sie, als sie den Eimer auf einem Beistelltisch im Salon abstellte.
      "Das hoffe ich doch. Uns schwebt auch vor, den Tag zusammen zu verbringen," antwortete Vincent.
      "Tagsüber? Hältst du das wirklich für eine gute Idee?"
      "Das tue ich tatsächlich. Wir hatten heute einen kleinen... Zwischenfall. Ein Jungvampir hat sich keine Mühe gegeben und Thomas ist seine kleinen Tests durchgegangen: Er hat die typische Reaktion auf Silber gesehen und mir danach ein paar skeptische Blicke zugeworfen. Ich muss ihn also noch einmal überzeugen, dass ich kein menschenfressendes Ungeheuer bin."
      "Du könntest ihm auch einfach deinen Lebensstil erklären, weißt du? Jetzt, wo ihr zwei euch so nahe steht."
      "So einfach ist das nicht, Nora. Das letzte Mal, als ich in einer solchen Situation war, wurde ich trotzdem beinahe getötet. Thomas hat den Namen und die Aufgaben der Van Helsings geerbt und der Zufall wollte es, dass er auch mir über den Weg läuft und ich mich einmal mehr viel zu sehr involviere. Die Geschichte hat sich schon zu genau wiederholt, eine Nahtoderfahrung muss da nicht auch noch stattfinden. Ich werde es ihm sagen, aber nicht jetzt und nicht so. Das braucht Zeit und ein sehr vorsichtiges Vorgehen."
      Nora wirkte nicht überzeugt. Vincent wusste, dass er auf sie hören sollte - sie wusste es meistens besser als er. Aber, wenn er ehrlich war, hatte er Angst. Nicht davor, dass Thomas versuchen könnte, ihn zu töten, damit kam er klar. Er hatte Angst vor der Ablehnung, die mit einem solchen Geständnis einhergehen würde. Ein Van Helsing und ein Vampir? Nur Shakespeare schrieb tragischere Geschichten.
      "Wie geht es dir?" fragte er, um vom Thema abzulenken.
      Nora seufzte.
      "Mir ging es schon besser," gab sie zu, wohlwissend, dass Vincent eine Lüge sofort als solche entlarvt hätte.
      "Komm her," forderte er.
      "Das kann auch noch eine Nacht warten," protestierte sie, doch Vincent ließ ihr keine andere Wahl.
      Er streckte die Hand nach ihr aus und sie legte ihre in seine. Er zog sie zu sich und bat sie stumm nach dem Messer von dem er verlangte, dass sie es immer bei sich trug. Sie zögerte nicht lange, holte die Klinge hervor und presste sie gegen Vincents dargebotenen Unterarm, bis sie die Haut durchstieß und einige einsame Tropfen Blut hervorquollen. Vincent hielt seinen Körper davon ab, die Wunde sofort zu verschließen, während Nora das Messer wieder wegpackte. Dann ergriff sie seinen Arm und legte ihre Lippen über den kleinen Schnitt. So machten sie es schon seit mehreren Jahrzehnten. So machten sie es schon, seit Vincent die Frau grün und blau geschlagen und zum Sterben zurückgelassen gefunden hatte. Nora hatte nichts verbrochen, außer sich in die Ehefrau ihres Hausherren zu verlieben - eine vollkommen einvernehmliche Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Vincent hatte ihr sein Blut gegeben und ihr Leben gerettet. Nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war - ihr Körper war bei weitem noch nicht geheilt, sie war lediglich am Leben - hatte er ihr von dem Herzfehler erzählt, den er in ihrer Brust vor sich hin hämmern hören konnte. Er bot ihr an, sie zu seinesgleichen zu machen, doch Nora lehnte ab. Daraufhin bot er dieser wundervollen, starken Frau ein Leben an seiner Seite an. Wenn sie sein Blut regelmäßig zu sich nahm, konnte ihr der Herzfehler nichts anhaben. Genauso wenig konnten Krankheiten oder gar das Alter etwas anhaben. Sie war noch immer eine Sterbliche, aber sie war nicht mehr ganz ein Mensch, solange Vincents Blut in ihrem Körper war.
      Nach etwa einer Minute hob Nora den Kopf und ließ von Vincent ab. Vincent ließ seinen Körper die Wunde schließen, Nora wischte das letzte bisschen Blut von seiner Haut. Er lächelte, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
      "Du passt morgen doch auf mich auf, oder?" fragte Vincent.
      "Natürlich werde ich das. Aber du musst auch auf dich aufpassen," antwortete sie.
      "Klingt nach einem Deal für mich."
      Die beiden trennten sich voneinander, vergessen war die Intimität von langjährigen Freunden, als es klingelte. Nora war sofort wieder die fleißige, gewissenhafte Haushälterin und eilte zur Tür. Vincent, allein im Salon zurückgelassen, machte sich daran, sich einen Drink einzuschenken - mit viel Eis natürlich. Er besann sich auch auf seine Rolle als angetrunkener, besorgter Lover. Was gar nicht so schwer war, sobald er Thomas zu Gesicht bekam.
      Echte Erleichterung überkam Vincent, als Nora seinen Gast in den Salon führte. Er stellte seinen Drink beiseite und eilte auf Thomas zu, musterte ihn von Kopf bis Fuß.
      "Was ist passiert, Thomas? Du wirkst mitgenommen. Wo warst du?" fragte er und nahm den Doktor mit zu einem der Sofas, wo er ihm keine andere Wahl ließ, als sich hinzusetzen.
      Er setzte sich selbst neben ihn, hielt Thomas' Hand sanft in seiner. Seine Sorge war nicht mehr gespielt, sie war echt. Er hatte gesehen, mit welcher Wucht Charles ihn angegriffen hatte, aber er hatte Thomas eventuelle Verletzungen von seinem Aussichtspunkt nicht beurteilen können.
    • Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Thomas Zuhause an und nach einer weiteren Ewigkeit, die nur halb so lang wie die erste dauerte, stieg er endlich vor Vincents Haus aus. Er hatte seinen Anzug gewechselt und einen Mantel übergezogen, was zumindest halbwegs erklärbar war, außerdem hatte er sein Handgelenk bandagiert und die Jagd eilig in seinem Buch verzeichnet. Er führte eine Schrift darüber, welchen Vampir er wann, wo und wie erlegt hatte, für den Fall, dass dem einen Vampir weitere folgten. Die meisten waren Einzelgänger, aber eben nicht alle - und besonders die Gruppenjäger reagierten meist empfindlich, wenn einer von ihnen von einem Jäger ergriffen wurde. Damit wollte er es vermeiden, jemals im Dunkeln zu tappen, eine Unverzeilichkeit beim Spiel mit dem Feuer.
      Zum Glück war die Begegnung äußerst kurz verlaufen, weshalb er sich recht schnell wieder auf den Weg machen konnte. Nun stand er an der Tür und musste sich überlegen, was in Gottes Namen er Vincent erzählen sollte, wenn er danach fragte, wo er gewesen sei. Vielleicht war er ja zu betrunken, um sich damit näher zu beschäftigen.
      Nora machte ihm auf und brachte ihn in den Salon, wo Vincent ihn in Empfang nahm. Zu seiner Enttäuschung war Vincent nicht nur nicht betrunken - er hatte sich zwar noch etwas zum trinken besorgt, wirkte aber höchstens angetrunken - sondern schien noch dazu einen Riecher dafür zu haben, was Thomas zu verstecken versuchte. Ihm fielen erschrocken seine Haare ein, die er sich Zuhause kein weiteres Mal gebürstet hatte.
      "Du klingst ja schon fast wie Darcy", schmunzelte er, in dem lächerlich minimalistischen Versuch, vom Thema abzulenken. Während Vincent ihn zum Sofa führte, fuhr er sich mit der gesunden Hand durch die Haare und strich sie eilig nach hinten. Als sie sich gesetzt hatten, fiel ihm zum ersten Mal auf, wie gut es ihm tat zu sitzen. Er war erschöpft, zumindest das konnte er wohl nicht leugnen. Vincent nahm seine bandagierte Hand in seine und Thomas bemühte sich darum, nicht das Gesicht zu verziehen. In der kurzen Zeit Zuhause hatte er eine Verstauchung diagnostiziert, worüber er im Nachhinein sogar ziemlich froh war, denn wenn er nicht sofort locker gelassen hätte, wäre es zweifellos gebrochen und das wäre nun wirklich nicht gut zu erklären gewesen.
      "Ich bin nur müde, das ist alles", versuchte er sich an einer Ausrede. "Mir ist eingefallen, dass ich Hughes noch von den Laborbefunden erzählen wollte, die Gelegenheit war gut, wenn ich doch eh schon bei ihm war. Da kann er sich am Montag gleich die Rezepte von der Praxis holen und braucht nicht nochmal einen Termin."
      Er drückte Vincents Hand leicht und bereute es gleich wieder. Verstauchung hin oder her, es tat trotzdem weh. Er beäugte kurzzeitig den Eimer Eis, den Vincent für seinen Drink herangeschafft hatte und wünschte sich, er könnte seine Hand darin eintunken. Seinen Rücken spürte er auch noch dumpf, wenngleich das meiste wohl erst bemerkbar werden würde, wenn er am Morgen wieder aufwachte. Der anbahnende Muskelkater war erst das große Übel.
      "Und das hier wirst du mir eh nicht glauben."
      Er lächelte Vincent über die bandagierte Hand hinweg an; zumindest dafür musste er sich, bei seinem Beruf, keine neue Ausrede einfallen lassen.
      "Ich bin mit dem Ärmel an meinem Kleiderschrank hängen geblieben, in meinem Schlafzimmer. Ein wenig zu viel Schwung und ich habe mir das Handgelenk verbogen. Das kommt davon, wenn ich mir in aller Eile nur etwas wärmeres anziehen möchte."
      Das klang doch absurd genug, um plausibel zu sein, oder? Hoffentlich war Vincent bewusst, auf was für merkwürdige Arten manche Leute ihre Knochen brachen.
      Und für den Fall, dass er es ihm nicht war, wollte Thomas schnell vom Thema ablenken.
      "Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Abend trotz der… Begegnung.
      Er sollte aber eigentlich nicht mit dem Thema ablenken, das er zu vermeiden versuchte!
      "... Zumindest angenehm genug, um nicht zu bereuen, mitgekommen zu sein. Ich habe von deinen Ausführungen verstanden, dass du nicht sehr häufig zu solchen Gesellschaften eingeladen bist."
      Eigentlich war er zu müde, um weiterhin Small Talk zu halten, aber für Vincent wahrte er den Schein - solange ihn das nur abhalten würde, weitere Fragen zu stellen. Er sah sich flüchtig nach Nora um und umschloss Vincents Hand dann auch mit seiner gesunden.
    • Vincent betrachtete die einbandagierte Hand. Ihm war bereits aufgefallen, dass Thomas sich bewegte wie jemand, der auf den Deckel bekommen hat.
      "Glaubst du wirklich, du kannst mich mit halb-plausiblen Geschichten über Rezepte und wärmere Kleidung überzeugen?" fragte er leise.
      Er war kein böse gemeinter Vorwurf, im Gegenteil.
      Vincent hob den Blick und legte Thomas eine Hand an die Wange, sah ihn sanft an. Er erinnerte sich an den Kampf des Mannes, hatte jede Sekunde davon genau um Kopf. Es war beeindruckend gewesen. Wunderschön.
      "Du musst mir nicht erzählen, was genau passiert ist. Aber ich habe dir schon einmal gesagt, dass du an deinen Ausreden arbeiten musst. Die sind immer noch nicht besonders gut."
      Mit diesem Worten stand Vincent auf und ging hinüber zu seiner Minibar. Er nahm sich ein kleines Geschirrtuch, faltete es ein paarmal und füllte es mit Eis. Er reichte das kleine Kühlpacket an Thomas weiter.
      "Möchtest du einen Drink oder lieber ein warmes Bad? Du kannst auch beides haben."
      Er sah hinüber zur Tür und seufzte innerlich.
      "Mach dir wegen Nora keine Sorgen. Sie ist schon seit einer halben Ewigkeit bei mir, sie kennt mich besser als ich mich selbst kenne. Wir müssen es ihr nicht auf die Nase binden, aber sie wird nichts sagen - weder zu dir, noch zu irgendjemandem sonst."
      Vincent setzte sich wieder zu Thomas, legte ihm vorsichtig einen Arm um die Schultern und zog ihn sanft an sich.
      "Ich habe die Gesellschaft sehr genossen, abgesehen davon, dass ich scheinbar auf dem Speiseplan stand. Ich bereue nicht, mitgekommen zu sein. Zumindest weniger als meine Brieftasche. Aber ich meinte es durchaus ernst, als ich Hughes' Einladung für einen weiteren Abend angenommen habe. Du ruinierst mir noch den Ruf als unheimlicher Einsiedler, wenn du so weiter machst."
    • Thomas zog die Stirn in Falten. Er konnte den Blick nicht deuten, mit dem Vincent ihn betrachtete und der von Fürsorglichkeit beinahe überzuquellen schien; allerdings war ihm in diesem Augenblick Vincents unheimlich präzise Fähigkeit, Gedanken zu lesen, äußerst unangenehm. Hatte er bereits einen Verdacht, oder hatte er einfach nur seine schlechte Ausrede durchschaut? Thomas war fest dazu entschlossen, ihm von seinem Jäger-Dasein nichts zu erzählen, bis er sich nicht absolut sicher sein konnte, dass der andere es richtig auffassen würde. Er wusste nicht, ob er es ertragen würde, wenn von allen Leuten gerade Vincent sein Vermächtnis ins Lächerliche zog.
      "Es ist nicht... schon gut."
      Er brach seine zweite Ausrede ab, nachdem sie sowieso nicht ziehen würde. Er war kein besonders begnadeter Lügner und Vincent war ein talentierter Telepath, daher hatte er sowieso keine Chance.
      Etwas entspannter darüber, sich nicht weiterhin an irgendeine erfundene Geschichte krallen zu müssen, sackte er ein wenig in das Sofa ein und nahm dankbar das Geschirrtuch entgegen, das er sich behutsam auf den Verband legte. Die Kälte tat der glühenden Schwellung unheimlich gut und ließ Thomas darüber lächeln, dass Vincent es schon wieder getan hatte. Bei diesem Mann waren seine Gedanken einfach nicht sicher.
      "Ich glaube manchmal, du hast einen siebten Sinn dafür entwickelt, meine Gedanken zu lesen", sprach er laut aus, was er sich bereits ständig denken musste. "Wenn das so sein sollte, halte ich es nur für fair, mir das mitzuteilen, bevor ich mir die nächste Ausrede einfallen lasse, damit ich weiß, dass ich mir mehr Mühe damit geben muss."
      Vincent kam zurück auf das Sofa und nach einem kurzen Zögern erlaubte Thomas es sich, den Kopf auf seine Schulter zu legen. Ein warmes Gefühl umschloss ihn wie der Arm um seine Schulter und entspannte auch den Rest seiner Glieder. Vincent fühlte sich zu weich an, zu einladend, um nicht gänzlich an seiner Seite zu zerfließen und Thomas schloss die Augen, um sich vollständig darauf einzulassen. Wenn es nach ihm ginge, würde er an dieser Stelle, in seinen Armen einschlafen. Das war so viel besser als alleine nachhause zurückzukehren und darauf zu warten, dass der Muskelkater ihn den Abend bereuen ließ.
      "Wir können dir einen anderen Ruf beschaffen. Wenn herauskommt, dass Charles tatsächlich ein Vampir w... ist und wir beim nächsten Abendessen noch einen finden, könntest du als Vampirmagnet gelten. Das wäre doch auch ein würdiger Ruf, oder nicht? Vielleicht nicht ganz so mysteriös, um fair zu sein. Uns fällt sicherlich noch was besseres ein."
      Er öffnete die Augen wieder, reckte den Kopf und holte sich einen Kuss von Vincents Lippen ab. Sie waren wie Balsam für seine Seele, besonders in diesem Moment.
      "Ich glaube, ich hätte jetzt doch gerne beides: Einen Drink und ein warmes Bad. Und die Gesellschaft von einem unheimlichen Einsiedler?"
      Er richtete sich auf und legte seine angeschlagene Hand für einen Moment auf Vincents Bein ab, bevor er sie in einer Schutzhaltung an seinen Bauch legte und mit der anderen Hand den Eisbeutel weiter daran hielt. Dann stand er entgegen des Protests seines Rückens auf und streckte sich für einen Moment. Bei der nächsten Jagd würde er sich vorher besser aufwärmen.
      "Vielleicht alles drei gleichzeitig?"
    • "Also das gehört dann doch zu den Teilen des Abends, die ich nicht wiederholen möchte, wenn es sich vermeiden lässt."
      Was nicht einmal eine Lüge war. Vincent empfand es als äußerst stressig, wann immer seinesgleichen in der Nähe waren. Leichen tauchten auf, Menschen verschwanden, Machtspielchen begannen.
      Thomas' Kuss war flüchtig und bei weitem nicht lange genug, um Vincents Sehnsucht zu befriedigen, aber er gab sich damit zufrieden. Für den Moment.
      Vincent stand auf und hakte sich bei Thomas unter. Er führte ihn aus dem Salon und nach oben zu seinem Badezimmer.
      "Ich denke, damit kann ich dienen, ja," kommentierte er, als gemeinsam seinen Salon verließen.
      Er ließ Thomas kurz allein in dem gut eingerichteten Badezimmer, nachdem er das Wasser angedreht hatte, um noch einmal nach unten zu huschen und den versprochenen Drink zu machen. Besagten Drink stellte er beiseite, kaum dass er zurück war, denn es gab etwas wichtigeres zu erledigen.
      Mit geübten Fingern öffnete Vincent Knopf für Knopf an Thomas' Hemd, nachdem er den Mann aus seinem Jackett befreit hatte. Auch das Hemd strich er ihm sanft von den Schultern. Bereits jetzt konnte man die blauen Flecken erkennen, die sich auf Thomas' Körper bildeten. Echte Sorge huschte über Vincents Gesichtszüge. Aber er fragte nicht weiter nach, auch wenn er wusste, woher die Verletzungen stammten. Thomas würde es ihm schon sagen, wenn er dazu bereit war. Genau wie Vincent ihm die Wahrheit beichten würde, sobald er selbst es für richtig hielt.
      Nachdem er Thomas aus seinem Anzug geholfen hatte, half er ihm in die warme Wanne.
      "Drink und Bad erledigt. Und ich bin her, Gesellschaft leistend. Wie geht es jetzt weiter?" fragte Vincent, als er sich einen kleinen Hocker heranzog und neben die Wanne setze.
      Er hielt das Eis auf Thomas' verletzte Hand, damit dieser sich seinen Drink genehmigen konnte.
    • Thomas ließ sich für den Moment wie einen König behandeln, was ihm gar nicht mal so unrecht war, nachdem es sich schon als äußerst umständlich herausgestellt hatte, sich überhaupt erst einhändig anzuziehen. Nur Vincents Blick entging ihm dabei nicht und ließ ihn doch wieder bereuen, es nicht selbst getan und sich in die Sicherheit des Wassers begeben zu haben. Der andere musste den Unterschied seines Körpers zum gestrigen Abend bemerken, bei ihrer vergangenen Nacht war es gar nicht anders möglich. Er musste sich außerdem denken können, dass Thomas sich nichts in der Stadt zugezogen hatte, als er am Mittag für Erledigungen ausgegangen war. Wie viel wusste er also, wie viel konnte er vermuten? Thomas beobachtete ihn gründlich, aber bis auf die anfängliche Miene ließ er sich nichts weiter anmerken. Wenn er etwas ahnte, sprach er es zumindest nicht an und dafür war er ihm sogar dankbar.
      Thomas ließ sich langsam ins Wasser herab gleiten und lehnte sich an den Wannenrand zurück. Die winterliche Kälte wich langsam aus seinen Knochen und wurde von der seligen Wärme des Wassers abgelöst, das ihm die Muskeln entkrampfte. Er atmete langgezogen aus und bekämpfte den Drang die Augen zu schließen und friedlich einzuschlafen. Der ganze Moment schien ihm nach dem Abend so perfekt, dass er der Überzeugung war, Vincent müsse ein Engel sein.
      Er sah zu ihm auf.
      "Wie es weitergeht? Soweit ich mich erinnere, haben wir eine Verabredung zum Mittag- und Abendessen. Ich denke, ich werde die Kirche morgen ausfallen lassen und stattdessen länger schlafen - der Herr wird es mir sicherlich verzeihen. Oh -"
      Er setzte sich ein wenig auf, um den Schlafbefall ein wenig aufzuhalten.
      "Ich habe heute Morgen Post von Stephen bekommen, Darcys Bruder. Sie sind auf dem Weg nach London und kommen vorbei, wahrscheinlich diese Woche noch. Ich habe ja nichts dagegen, wenn du auch da bist, es ist nur..."
      Thomas würde sich wegen der nicht abgeschlossenen Tests vor Stephen verantworten müssen und Vincent war nicht nur der Verdächtige bei der Sache, sondern auch noch der Mann, mit dem Thomas seine zukünftige Frau betrog. Vor allem letzteres bereitete ihm jetzt schon Kopfzerbrechen.
      "... Es würde mich natürlich freuen, wenn du auch da bist, versteh mich nicht falsch, aber ich würde es dir auch nicht übel nehmen, wenn du lieber darauf verzichtest. Darcy kennst du ja schon und Stephen ist...", er suchte für einen Moment nach den passenden Worten, "... ein energetischer Mann. Vielleicht manchmal ein bisschen schwierig."
      Er machte Gebrauch von Vincents Gedankenlesekunst und hob die Finger seiner angeknacksten Hand, während er auf Vincents freie Hand sah. Der andere verstand den Wink und legte seine Hand über Thomas', der seine Finger um die des anderen schloss. Die Wanne erschien ihm mit einem Mal wie eine Barriere zwischen ihnen beiden.
      "Möchtest du nicht hereinkommen? Ich teile auch meinen Drink mit dir. Wir können morgen auch noch über diese Sache entscheiden."
    • "Du sagst das so, als sollte ich mich vor diesem Stephen fürchten," bemerkte Vincent.
      Er fragte sich, ob Darcy und ihr Bruder auch Jäger waren. Ihre Nachnamen sagten ihm nichts, daher war es unwahrscheinlich, dass sie auf eine lange Tradition zurückblicken konnten wie Thomas. Das hieß aber nicht, dass sie nicht gefährlich sein konnten.
      Vincent stand auf und schlüpfte aus seinem Hemd. Jackett und Veste hatte er schon abgelegt kaum dass er zur Haustür hereingekommen war. Kurz darauf stieg er vorsichtig zu Thomas in die Wanne, setzte sich ihm aber gegenüber anstatt wie letztes Mal direkt mit ihm zu kuscheln.
      "Oder machst du dir Sorgen darüber, dass er ein Näschen für das hat, was wir beide hier machen? Soweit ich weiß bist du nicht fest an die gute Darcy gebunden, du kannst also tun und lassen, was du willst. Und sollte sich Darcy über etwaige Blicke echauffieren, nun... Sie wirkte ziemlich entzückt, als ich ihr aus ihrem Korsett geholfen habe. Sie ist keine Heilige Thomas. Hätte ich während des Balls kein Auge auf dich geworfen... Sagen wir es so: Wenn sie es darauf angelegt hätte, sie hätte es in mein Bett geschafft. Zwar wäre ich ihr nicht hinterhergerannt, wie dir, aber ich hätte meinen Spaß gehabt. Und etwas - vielleicht dieser siebte Sinn, den ich zu haben scheine - sagt mir, dass absolut keine Schuldgefühle dir gegenüber deswegen empfunden hätte."
      Vincent lehnte sich vor, legte Thomas die Hände an die Wangen und zog ihn zu sich in einen Kuss.
      "Fehler machen ist menschlich, Thomas. Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Und mit einem einzelnen Fabrikbesitzer komme ich auch noch klar. Und jetzt komm her, ich will mich um deine verspannten Schultern kümmern, bevor sie noch zerreißen."
    • Thomas beobachtete mit einer gewissen Zufriedenheit, wie Vincent sich aus dem Rest seiner Kleidung schälte und schließlich seinem Wunsch nachkam. Der Mann war wohl wirklich, so wie er gesagt hatte, daran interessiert ihm seine Wünsche zu erfüllen, was er hiermit ein weiteres Mal bewies. Thomas beobachtete, wie das Wasser um dessen Brust Wellen schlug.
      "Es ist ein bisschen von beidem. Er ist manchmal etwas hitzköpfig und die Sache mit Darcy ist auch nicht so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst. Ich riskiere viel, wenn ich ihr fremd gehe - ich meine, wenn herauskommt, dass ich ihr fremdgehe - und ich ziehe seinen Zorn auf mich, wenn ich sie verlasse. Entweder ich verliere den Ruf, den sie mir zum Teil aufgebaut hat, oder ich verliere einen Freund. Das ist mir beides nicht recht."
      Er stellte seinen Drink auf dem jetzt leeren Hocker ab und kam Vincent für den Kuss entgegen. Die Gedanken wurden von der Liebkosung zu Teilen weggespült, allerdings blieb stets ein gewisses Gefühl zurück, das sich in seiner Magengrube niedergelassen hatte. Die Sorge, dass Stephen die Jagd auf Vincent neu aufnehmen wollen würde und er in Erklärungsnot geriet, war sogar größer als seine kleine Liebschaft mit Vincent, die ja noch recht gut verlief. Nur konnte er das Vincent nicht mitteilen, nicht ohne zu offenbaren, weshalb er ursprünglich auf das Fest gekommen war und dass er selbst ein Jäger war - und dafür war er schlichtweg noch nicht bereit, besonders nicht in dieser Nacht, in der die Jagd noch in seinen Knochen saß.
      Er zog Vincent nach und lehnte sich schließlich mit dem Rücken gegen ihn, so wie sie es bereits in seinem Haus getan hatten. Er genoss Vincents Nähe aufrichtig, mehr noch als er die Wärme der Wanne genoss. Wenn er sich doch nur immer so entspannen könnte.
      "Ich glaube, für einen Fehler waren wir ein Mal zu oft miteinander im Bett", bemerkte er murmelnd, als sich Vincents Hände um seine Schultern schlossen und seine Finger die Spannung aus ihnen heraus massierten. Er legte in himmlischer Entspannung den Kopf zurück und ließ sich treiben, zwischen den Beinen eines wunderschönen Mannes, der ihm noch dazu die Schultern massierte. Er hielt kaum eine Minute aus ehe er wegdöste, die gesunde Hand auf Vincents Knie abgelegt, den Kopf an Vincents Halsbeuge geschmiegt.