In his Thrall [Codren feat. Pumi] [ABGESCHLOSSEN]

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    • Vincent half Nora so viel, wie sie ihn ließ, als es darum ging, einmal mehr den Haushalt zusammenzupacken. Mit Esther und Simon zusammen ging alles relativ schnell vonstatten, und es dauerte nicht lange, da war bereits alles sortiert: Extra Gepäck für Darcy, damit sie nicht die ganze Reise lang in dem gleichen geliehenen Kleid verbringen musste, Gepäck für Thomas und Vincent, und Gepäck für Nora. Die Haushälterin hatte erwähnt, dass Thomas Darcy angeboten hatte, in unterschiedlichen Kutschen zu reisen. Da niemand hier Darcy allein in einer Kutsche lassen wollte, würde Nora mit ihr zusammen reisen. Simon und Esther würden mit dem restlichen Gepäck folgen - ein Lord reiste niemals mit nur einem Koffer.
      Irgendwann beschloss Nora dann, dass ihr Arbeitgeber mehr im Weg stand, als hilfreich zu sein, also verbannte sie ihn in sein Studierzimmer. Vincent machte sich daran, ein paar Briefe zu schreiben. So sehr er sich auch aus der Politik heraushalten wollte - sowohl die der Menschen, als auch die der Vampire - so musste er doch ein paar Dinge regeln. Am wichtigsten war dabei wohl der Brief an Dominic, der sich über die Jahrhunderte einen gewissen Ruf und den dazugehörigen Respekt angeeignet hatte. Er fungierte ständig als eine Art Marktschreier - und genau dafür brauchte Vincent ihn jetzt. Er wusste, dass sein alter Freund noch in der Nähe war, bedachte man die Situation, die noch vor einer Woche in der Gegend vorgeherrscht hatte.

      Kurz vor Sonnenaufgang schlich sich Vincent dann in sein Schlafzimmer zurück und weckte Thomas ähnlich sanft, wie der Mann ihn jeden Abend weckte. Der Anblick eines verschlafenen Thomas wärmte ihm wie immer das Herz.
      Es dauerte nicht lange, da standen alle in Vincents Eingangshalle. Simon war damit beschäftigt, die letzten Reste an Gepäck auf die Kutschen zu laden, Esther war sicherlich dabei, die letzten Anweisungen für die Bediensteten hier in Harker Heights zu geben.
      "Ich kann Ihre Nervosität verstehen," meinte Vincent zu Darcy, während er sich von Nora in seinen Mantel helfen ließ. "Sie müssen sich für nichts bedanken. Vielmehr muss ich mich entschuldigen. Ich bin froh, dass Ihnen nicht mehr passiert ist, als eine furchtbare Reise hier her. Und nein, ich beiße tatsächlich nicht."
      Er lächelte der Frau freundlich zu, machte sich aber keine Hoffnungen, dass Darcy noch einmal so locker mit ihm flirten würde, wie früher.
      "Sie werden mit Nora reisen und ich werde mich von Ihnen fernhalten. Wenn Sie unterwegs irgendetwas brauchen, lassen Sie es Nora wissen. Im Gegensatz zu dem Mann, der Sie hier her gebracht hat - und im Gegensatz zum Meisten, was sie so über Vampire gehört haben - bin ich kein Unmensch. Wenn es etwas gibt, womit ich Ihre Rückreise angenehmer gestalten kann, dann werde ich mein Bestes tun, Ihne das auch zu geben."
      Vincent schlüpfte in seine Handschuhe, dann faltete er seine Hände vor sich. Er schlüpfte mit Leichtigkeit in eine vollkommen passive Haltung, überließ Thomas die Führung, auf dass sich Darcy wenigstens ein bisschen entspannen konnte. Ihr hektischer Herzschlag dröhnte nämlich in seinen Ohren, luden ihn dazu ein, seine Aussage über das Beißen gleich aus dem Fenster zu schmeißen. Aus dem gleichen Grund hielt er auch einen konstanten Abstand zu ihr - er kam ihr näher als drei Armlängen. Er hielt auch seine Hände stets so, dass sie sie sehen konnte und machte keine hastigen Bewegungen. Und er hasste jede einzelne Sekunde, die er sich so benehmen musste. Dass er auf Eierschalen laufen musste, nur damit sich jemand einigermaßen wohlfühlte. Gerade zu dieser Stunde war es anstrengend, auf all das achten zu müssen. Es machte Vincent sogar ein bisschen wütend, obwohl er genau wusste, woher diese Wut kam. Er musste sich so zusammenreißen, damit sich seine Beute wohlfühlte?! Und dann konnte er sie nicht einmal reißen?! Nach all der Arbeit?! Das Monster war alles andere als froh über diesen Umstand.
      Vincent atmete erleichtert auf, als er sich endlich in die Kutsche setzen und seine kleine Scharade aufgeben konnte. Er lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und legte die Füße auf die ihm gegenüberliegende Bank. Es war viel zu früh für ein solches Schauspiel.
    • Selbst in einer unangenehmen Situation wie dieser bewies Vincent doch wieder sein gesellschaftliches Geschick, mit dem er das Gespräch so herumdrehte, bis sein Gesprächspartner sich wieder wohlfühlen konnte. Darcy starrte ihn zwar noch immer mit aufgerissenen Augen an - sie sah sogar ziemlich eindringlich auf Vincents Lippen, wie Thomas bemerkte - aber sie lächelte auch wieder ein bisschen und etwas von der Spannung fiel von ihren Schultern ab. Da half es sicherlich auch, dass Vincent sich anscheinend dazu entschieden hatte, Darcy nicht näher zu kommen als unbedingt nötig. Er stand steif wie ein Brett, aber nach seinem ruhigen Gesichtsausdruck zu schließen ganz allein dafür, die Frau nicht unnötig zu verschrecken.
      Wenn er nur wüsste, was sie am gestrigen Abend für Fragen gestellt hätte, würde er sich vielleicht nicht so viel Mühe machen. Aber Thomas wollte ihm auch nicht unbedingt davon erzählen.
      "Sie sind wie immer ein Gentleman, Vincent. Es ist wirklich schade, dass sie ein... oh, hm, ich glaube, es ist unhöflich, sowas direkt auszusprechen, oder? Sie sind ja nicht anders, als ich Sie kennengelernt habe, nur weiß ich jetzt davon. Das macht es schon komisch. Wenn Sie verzeihen, ich glaube, ich würde mich jetzt lieber in die Kutsche setzen."
      Weder Vincent, noch Thomas hielten sie davon ab sich umzudrehen, bis zur Tür zu gehen, dort wohl ihren Fehler zu bemerken und lieber noch einen Blick über die Schulter zu werfen, wo Vincent noch immer unbeweglich verharrte, bis sie schlussendlich verschwunden war. Thomas war ein bisschen missmutig über diesen abrupten Abgang, konnte es ihr aber wohl kaum verübeln. Die letzten Tage waren verwirrend für sie gewesen, gelinde ausgedrückt.
      Sie gingen ihr also bald nach und setzten sich in die hintere Kutsche, wo Vincent sich gleich ausdehnte und Thomas ihm mitfühlend den Oberschenkel tätschelte.
      "Möchtest du dich ausruhen?"
      Er bot ihm seinen Schoß, seine Beine und was sonst noch alles möglich wäre an und lehnte sich dann selbst zurück. Die Kutsche war stockdunkel mit dicken Vorhängen, die sämtliches Sonnenlicht aussperrten. Das würde eine sehr monotone, lange Fahrt werden, aber allemal besser, als ohne Vincent zu fahren.

      Der Schnee war nicht mehr so dicht wie zum Neujahr, daher kamen sie recht unbehelligt durch und kehrten nach alter Manier mit Esther bei van Helsing ein, während Nora mit dem Rest der Belegschaft in Vincents Stadthaus einzog. Thomas beeilte sich, den Mann in sein Schlafzimmer zu bringen, wo er gleich die Vorhänge zuzog und sich um den Kamin beeilte. Darcy kommentierte das ganze nicht, auch wenn sie noch immer recht betroffen dreinblickte, wenn sie Vincent entdeckte. Man musste sich wohl daran gewöhnen, dass es einen Vampir im Haushalt gab, den man nicht einfach umbringen konnte.
      Als Thomas ihn ins Bett gebracht und sichergestellt hatte, dass er nicht zu viel Sonne abbekommen hatte, kam er wieder herunter, wo Esther sich gerade dem Haushalt widmete und Darcy vor den knallgelben Vorhängen stand. Sie drehte den Kopf, als sie Thomas hörte und deutete darauf.
      "Sind sie neu?"
      "Ja."
      "Warum? Sie sind so... schrill. Sie passen ja gar nicht zum Rest."
      "Mir gefallen sie."
      "Seit wann interessierst du dich denn für Inneneinrichtung?"
      "Gar nicht."
      "Aber für die Vorhänge."
      "Sie waren ein Geschenk."
      "Von Vincent?"
      "Ja."
      "... Vincent schenkt dir Vorhänge?"
      "Ja."
      Darcy starrte ihn einen Moment an, dann schüttelte sie ungläubig den Kopf. Es war wohl nicht das verrückteste, was sie in letzter Zeit gehört hatte.
      "Wo ist Beth überhaupt? Hast du ihr freigegeben?"
      "... Beth ist tot."
      "Was?"
      Da drehte sie sich ganz zu ihm um, schockiert.
      "Tot?"
      Eigentlich wollte Thomas ihr gar nicht so viel erzählen, aber jetzt ließ es sich wohl auch nicht aufhalten.
      "... Ich frage Esther, ob sie uns einen Tee macht."

      Stephen kam an diesem Tag nicht und so weckte Thomas Vincent wie üblich auf und kam mit ihm zum Abendessen herunter, wo Darcy sich ebenso schon eingefunden hatte, am anderen Ende des Tisches. Sie war recht wortkarg, starrte Vincent aber immer mal wieder an. Es war unangenehm, nachdem auch Thomas kein Mensch dafür war, eine Konversation zu starten. Es blieb an Vincent hängen, die Stimmung zu heben.
      Irgendwann ließ Darcy ihr Besteck recht geräuschvoll fallen und traktierte den armen Mann mit ihrem Blick.
      "Es ist sicher unglaublich taktlos, Sie so direkt zu fragen, aber haben Sie nicht Zähne, Vincent? Ich meine, richtige Zähne? Ich dachte nicht... naja, Sie sehen so normal aus. Sie essen ja auch und alles. Ich dachte einfach nicht... ich denke, Vampire sind immer so unzivilisiert. Wie Tiere, nur intelligenter."
      Thomas fasste sich an die Stirn.
    • Die Kutsche war unbequem und dann wurde er auch noch aus seinem Schlaf gerissen, kaum dass sie angekommen waren. Normalerweise steckte Vincent sowas einfach weg, aber nicht heute. Heute ging ihm all das unsagbar auf die Nerven und seine Stimmung war im Keller, als Thomas ihn am Abend weckte. Er wollte nichts weiter, als sich in die Decke einwickeln und es sich nachher vielleicht mit einem Buch vor dem Kamin gemütlich machen. Aber nein, er musste zum Abendessen antanzen und sich ganz brav wie ein dressierter Hund benehmen.
      Vincent schluckte seine angefressene Laune herunter und setzte stattdessen ein charmantes Lächeln auf, als er Darcy im Esszimmer begegnete. Die Maße des Raumes gestatteten es ihm nicht, vollständig auf Abstand zu bleiben, also beeilte er sich damit, an Darcy vorbei zu gehen. Die angespannte Stimmung, die den Raum füllte, war allerdings alles andere als hilfreich, auch wenn Vincent versuchte, sie mit nichtssagendem Smalltalk ein wenig zu entspannen. Und dann kamen die Fragen. Die Fragen kamen immer irgendwann.
      Seufzend legte Vincent sein Besteckt beiseite. Er schob seinen Stuhl so, dass er Darcy ein bisschen leichter ansehen konnte, überschlug die Beine und faltete seine Hände auf seinen Oberschenkeln.
      "Wie Tiere, nur intelligenter," zitierte er sie. "Eine passende Beschreibung für jede Gasse in dieser Stadt. Für jede Vorstandssitzung eines Unternehmens. Für jedes Büro eines Politikers. Menschen können sich genauso wie Raubtiere verhalten, wie es ein Löwe kann. Ich kann Ihnen meine Fangzähne gern präsentieren, wenn es das ist, was sie wollen, aber das macht mich nicht mehr und auch nicht weniger zum Tier, als Sie es sind. Und ich denke, ich haben Ihnen mehr als einmal gezeigt, dass ich alles andere als unzivilisiert bin."
      Vincent griff sich einen Apfel aus der Obstschale, die eigentlich eher zur Deko hier herumstand. Ein Teil von ihm wollte seine kleine Drohung wahr machen und Darcy tatsächlich zeigen, wie das Monster in seinem Inneren aussah. Dann hätte sie allen Grund, schreiend davonzulaufen und ihn endlich in Ruhe zu lassen. Doch Vincent wusste, dass dieser Teil nicht er selbst war, sondern zu eben jenem Monster gehörte. Also biss er ganz harmlos in den Apfel, um sein Zahnfleisch zu beruhigen, mehr nicht.
      "Ja, ich trinke Blut," sagte er, als er leergekaut hatte. "Aber ich genieße auch ein gutes Steak, einen guten Wein, ich trinke Tee, und hier und da gönne ich mir ein Stück Schokolade. Ich atme, ich habe einen Herzschlag, ich schlafe, ich blute. Abgesehen von meiner Ernährung unterscheide ich mich nicht von Ihnen, Darcy. Sicher, nicht alle Vampire sind so wie ich, aber nicht alle Menschen sind so wie Sie. Es gibt genug Monster auf dieser Welt, die kein Blut trinken."
      Er zuckte entspannt mit den Schultern und biss erneut in seinen Apfel.
      "Aber das sind nicht die Fragen, die Ihnen am ehesten unter den Nägeln brennen, nicht wahr?"
      Sein Blick traf den ihren, ähnlich wie er damals Thomas angesehen hatte, als dieser sich seiner Neigungen noch nicht bewusst gewesen war.
      "Na los. Fragen Sie. Thomas kann sich ja die Ohren zuhalten, wenn ihm das alles zu peinlich wird."
      Vincent zwinkerte Thomas frech über den Tisch hinweg zu.
    • Wenn Darcy bemerkte, wie wenig Vincent von ihrer Wortwahl angetan war, ließ sie es sich nicht anmerken. Ihr Gesicht war offen, neugierig und zu Thomas' größerem Entsetzen sah sie sogar aus, als würde sie sich ganz auf eine solche Diskussion einlassen wollen.
      "Da haben Sie vollkommen recht, deswegen bin ich ja so überrascht. Ich dachte mir, beim Abendessen würde vielleicht Ihre vampirische - nennt man das so? - Seite mehr hervorkommen, aber Sie sind ja ganz normal. Huch, das sagt man wohl auch nicht so, oder? Das ist so verwirrend."
      Sie hing auch weiterhin regelrecht an Vincents Lippen, während er ihr recht unverblümt eröffnete, was auch Thomas vor einigen Monaten hatte erfahren dürfen. Zugegeben, diesmal war es wohl etwas angenehmer, etwas entspannter. Ohne gebrochene Herzen.
      "Da sind Sie wirklich ganz so wie andere. Wie interessant."
      Aber kaum, als Vincent ihr wohl die Erlaubnis gab, auch noch ganz andere Fragen zu stellen, schien Darcy gleich zu erstrahlen und Thomas bedachte beide mit warnenden Blicken.
      "Nein. Keine Fragen."
      "Erzählen Sie mir doch von Hollow's Eve! Ich möchte alles wissen, Thomas hat so wenig gesagt. Nun, die ganz schmutzigen Sachen können Sie natürlich auslassen, das gehört sich nicht für den Abendtisch. Aber alles andere!"
      Sie kicherte, als Thomas sie anfunkelte.
      "Nein!"
      Drohend deutete er mit seinem Finger auf Vincent und wiederholte sein warnendes Nein.
      "Haben Sie sich geküsst? Wie haben Sie das denn geschafft? Wussten Sie nicht, dass er nur wegen der Jagd auf Sie dort war?"
    • Innerlich rollte Vincent mit den Augen.
      "Ich wusste, dass er ein Jäger ist, kaum habe ich seinen Namen gehört. Daraus habe ich den Rückschluss gezogen, dass er wegen mir dort war - ich bin mir durchaus der Gerüchte bewusst, die sich um meine Person ranken. Ich wusste, wann Sie mich abgelenkt haben, damit er sich in meinem Haus umsehen kann."
      Er zwinkerte Thomas noch einmal zu.
      "Ich wusste allerdings zu keinem Zeitpunkt, wie tief Sie in der Sache mit drinstecken. Ich weiß gar nicht mehr, wie es dazu kam, aber du hast einem meiner älteren Gäste mit seinem Knie geholfen, und kurz danach hatte ich dich allein in einem Raum."
      Vincent schielte kurz zu Thomas rüber und amüsierte sich köstlich darüber, wie der Mann ein wenig rot wurde.
      "Ich bin sehr viel älter als ich aussehe, daher habe ich die ein oder andere Erfahrung mit Leuten gemacht," wandte er sich dann wieder Darcy zu. "Ursprünglich wollte ich mir nur ein Bild von Thomas machen, um zu sehen, ob ich ihn für genau das rekrutieren könnte, was wir letzte Woche getan haben. Aufgrund meiner Erfahrungen konnte ich aber noch etwas anderes an dem gutaussehenden Mann in meinem Frühstückszimmer ausmachen. Also bin ich meiner schelmischen Natur gefolgt und schon bald wurde sich Thomas einiger Aspekte seiner selbst bewusst. Der Rest entwickelte sich einfach."
      Wieder zuckte Vincent ganz harmlos mit den Schultern. Er selbst war auch nicht zu erpicht darauf, jedes noch so kleine Details seines Privatlebens mit jemandem zu teilen, den er nicht gut genug kannte - und auch ganz ehrlich nicht gut genug kennenlernen wollte. Sicher, zu Beginn hatte er Thomas noch angeboten, zu teilen, aber jetzt... er wusste nicht genau, was es war, aber Darcy wirkte sehr viel weniger sympathisch als noch vor einem Monat.
      "Sie nehmen das alles überraschend leicht auf, Darcy," stellte Vincent dann fest. "Sowohl meine, als auch Thomas' Natur. Das soll keine Beleidung sein, aber ich hätte sie als weniger liberal eingeschätzt."
      Vielleicht hatte Vincent mit seiner Annahme über Stephen ja doch richtig gelegen und er hatte diese Seite seiner selbst mit seiner Schwester geteilt - oder sie hatte etwas geahnt.
    • Darcy ließ sich Vincents Erzählung mit größter Belustigung gefallen, während Thomas versuchte, nicht an dem Rauschen seines Blutes unterzugehen und sich stattdessen demonstrativ seinem Abendessen widmete. Dafür schirmte er dann das Gesicht mit der Hand ab, als Vincent gefährlich nahe an das tatsächliche Ereignis herankam. Aber der Mann war wohl zu taktvoll für ein derartiges Thema beim Abendessen, sehr zu Thomas' Glück und Darcys Unwissen. Die Frau strahlte einfach nur und vergnügte sich an einer lebhaften Fantasie.
      "Wie romantisch! Ich kann es mir fast vorstellen - nein, eigentlich kann ich es mir gar nicht vorstellen. Aber das macht es nur umso interessanter!"
      Sie kicherte wieder, wohl guter Laune, was letzten Endes dafür sorgte, dass sie Vincents Kommentar mit einem lockeren Handwink abtat.
      "Ich denke nicht, dass es richtig ist, was Sie tun. Es wird Sie in die Hölle bringen; aber bei allem Respekt, Vincent, da kommen Sie sowieso bei Ihrer Abstammung hin und Thomas, du auch. Du gehst kaum in die Kirche, du beichtest nicht, aber dabei verfolgst du einen Beruf, der Lebewesen das Leben nimmt. Ich habe dich sogar nie beten gesehen - und du fluchst ganz schön viel im Namen Gottes."
      Thomas brummte nur. Das war ihm wenigstens ein lieberes Thema als das andere.
      "Außerdem denke ich, dass Sie mich unterschätzen - ihr beide. Wir waren etwa zwei Jahre zusammen und während manche Frauen schon nach einem halben Jahr einen Antrag bekommen, musste ich darum kämpfen, dass du es überhaupt in Betracht ziehst, Thomas. Dabei warst zwar du derjenige, der mir den Hof gemacht hat, aber Stephen hat dem gleich zugestimmt; immerhin ist sein bester Freund und ein angesehener Arzt eine bessere Wahl als Schwager als irgendein dahergelaufener Möchtegern-Kaufmann. Und ich bin zudem noch unverheiratet und in einem vorzeigbaren Alter, das wirft kein gutes Licht auf den Direktor von Titanium Industries."
      Ganz diplomatisch faltete sie die Hände auf dem Tisch.
      "Sie sehen also, ich habe mir in den ganzen Jahren viel Gedanken dazu gemacht, wo das Problem liegt, ob ich es bin, ob es Thomas' Beruf ist, ob es an Cambridge liegt oder an der Praxis. Wir haben keine sehr erfüllende Beziehung gelebt, wenn ich ganz ehrlich bin. Du bist grauenhaft im Bett, Thomas."
      "... Danke."
      "Nun also zu erfahren, dass nicht ich das Problem bin und sogar nicht einmal der Beruf oder gar Stephen, ist irgendwie erfüllend. Es ist nicht meine Schuld. Sie haben meinen Freund verführt und Thomas hat mich fast ein halbes Jahr lang betrogen und das auch noch mit einem Mann. Da könnte ich auch mit den schönsten Kleidern und dem feinsten Benehmen nicht mithalten. Ich bin fast erleichtert, dass es vorbei ist."
      Es entstand eine unangenehme Stille, in der Thomas sich dazu durchrang, Darcy wieder anzusehen.
      "Darcy, es tut mir -"
      "Oh, lass es gut sein, Thomas. Es ist vorbei. Tu was du willst, auch wenn ich dir nicht empfehlen könnte, deine neue Beziehung herauszuposaunen, wenn du auch weiterhin Patienten haben möchtest. Wenn ich ehrlich bin, werde ich es auch ein bisschen vermissen hierherzukommen, denn es war stets ein Ausweg von Stephen. Ich arbeite zwar gerne für ihn, denn wirklich, welche Frau darf das heutzutage schon so frei wie ich, aber Stephen ist manchmal so ein Ekelpaket. Ich möchte nicht ständig in einem grauen Büro sitzen und Unterschriften verteilen und in Bücher schreiben. Ich möchte Leute kennenlernen und gute Musik hören und spannende Theater sehen! Ich möchte auf Partys gehen und so lange feiern, wie es mir meine Jugend erlaubt. Thomas musste ich zwar immer mitschleifen, aber immerhin konnte ich gehen. Hollow's Eve hat so einen Spaß gemacht! Wirklich ein gelungenes Fest, Vincent. Aber deswegen möchte ich nicht an einen Mann gebunden sein, der mich nicht liebt und ich möchte auch nicht für einen Mann arbeiten, der mich für das Image seiner Firma ausstellt. Aber so weit haben Sie beide sicher auch nicht gedacht, nicht wahr? Typisch Mann, ich denke, da macht das sexuelle Verhalten auch keinen Unterschied."
      Vincent präsentierte sie ein fast strahlendes Lächeln.
      "Ist Ihnen das liberal genug, Vincent?"
    • Vincent brach in schallendes Gelächter aus.
      "Thomas," kicherte er, "In einer Ehe mit dieser Dame wärst du hoffnungslos untergegangen."
      Er brauchte noch einen Moment, um sich wieder völlig zu fangen. Verschwunden war die seltsame Abneigung, die Vincent noch vor einem Moment für Darcy empfunden hatte. Den Drang, sie näher kennenzulernen, hatte er aber trotzdem nicht.
      "Darcy, Sie sind eine wundervolle Frau. Die Welt braucht mehr von ihrer Sorte. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, zur Zeitung zu gehen? Als Journalistin könnten sie Kritiken über Theaterproduktionen und Opern schreiben - dann bezahlt man sie auch noch dafür, ins Theater zu gehen und sich einen netten Abend zu machen. Ihre Meinung vertreten können Sie ja ganz offensichtlich. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Kontakte zukommen lassen, die Ihnen bei einem Karrierewechsel sicherlich helfen können."
      Vincent stand auf und schlenderte zu dem kleinen Arrangement mit den Drinks hinüber, um sich einen einzuschenken. Mit seinem Drink in der Hand wandte er sich dann wieder den anderen beiden zu.
      "Sie hat übrigens vollkommen Recht, Thomas. Du hast sie betrogen. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich Teil dessen war, was Ihnen Schmerzen bereitet hat, Darcy. Ich habe mein eigenes Glück über das Ihre gestellt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Das tut mir aufrichtig leid. Ich würde es gern wiedergutmachen, wenn Sie mir das gestatten. Das und die fürchterliche Woche, die Sie hatten."
    • Es war ja ganz klar, dass Vincent seinen Spaß daran haben würde. Der Mann amüsierte sich ganz köstlich, während Darcy lächelte und Thomas lieber wieder sein Essen begutachtete. Nein, natürlich hatte er nie soweit gedacht, dass es Darcy nicht gefallen könnte, bei Stephen zu arbeiten. Oder sich ständig darum bemühen zu müssen, dass Thomas ihr Aufmerksamkeit schenkte.
      Dafür blitzten Darcys Augen auf.
      "In den Journalismus? Ja, das wäre vielleicht etwas. Aber Stephen wird mir das nie erlauben, dann muss er ja riskieren, dass ich mich ganz frevelhaft durch die Gesellschaft von Manchester schlafen könnte wir irgendeine Dirne. Er sieht mich viel eher an einem sicheren Schreibtisch, gleich den Gang runter zu seinem eigenen Büro. So ist Stephen nunmal."
      Diesmal schien auch die letzte Anspannung verschwunden, denn als Vincent aufstand um sich einen Drink zu genehmigen, zuckte Darcy nicht einmal. Es war viel eher wieder wie ein recht unbefangenes Zusammenkommen. Wenn es sowas unter den drei überhaupt einmal gegeben hatte.
      Thomas schaute derweil nur betreten drein. Er wusste sehr wohl, was er verbrochen hatte. Er hatte auch nie gedacht, dass es nicht seine Schuld gewesen sei.
      "Ich nehme Ihre Entschuldigung an, aber auch nur, weil Sie uns allen womöglich eine Tragödie erspart haben. Stellen Sie sich nur vor, wir hätten Kinder gezeugt und großgezogen. Wie langweilig das geworden wäre! Ich bemitleide die Frau, die einmal deinen Samen austragen muss, Thomas. Das wäre nichts für mich. Nichts für ungut."
      Thomas machte bereits den Mund auf, um sie darauf hinzuweisen, dass hier nichts dafür sprach, dass er irgendwann mal eine andere Frau haben würde, aber wenn er es sich recht überlegte, war das wahrscheinlich nicht die richtige Antwort. Ihm war klar, dass eine Beziehung mit Vincent keine normale sein könnte. Nichts war im Moment normal.
      "Im Moment können Sie das am besten machen, indem ich euch beide nicht mehr sehen muss. Ich möchte auch gar nichts hören, weder von dir, Thomas, noch von Ihnen. Ich möchte die ganze Sache erst einmal verarbeiten. Ich wurde von einem Vampir entführt, habe einen anderen Vampir kennengelernt, den ich für einen charmanten Lord gehalten habe, habe herausgefunden, dass ich betrogen wurde und eine Beziehung beendet, die eigentlich in diesem Jahr hätte gefestigt werden sollen. Oh und außerdem hat mein Partner mich nie geliebt, weil er schwul ist. Da bin ich gerade nicht besonders kreativ damit, mir etwas zum Wiedergutmachen auszudenken."
      Sie stand auf und ging um die freie Seite des Tisches herum, um weder Vincent, noch Thomas in die Quere zu kommen. An der Tür drehte sie sich zu ihnen wieder um.
      "Aber wenn Sie sich wieder dazu entschließen sollten, eine Feier zu Hollow's Eve zu veranstalten, würde ich mich über eine Einladung freuen, denke ich. Vor lauter Jagd hatte ich letztes Mal gar nicht die Gelegenheit, es richtig zu genießen. Und dabei ist die Jagd noch nicht einmal geglückt. Ein sehr unbefriedigendes Ergebnis - zumindest für mich."
      Sie lächelte, dann machte sie einen Knicks, als wäre das hier eine öffentliche Veranstaltung.
      "Wenn Sie mich nun entschuldigen, ich glaube, ich bevorzuge lieber die Abgeschottenheit des Gästezimmers. Außerdem vielleicht ein angenehmes Bad; ich werde Esther fragen."
      Damit drehte sie sich um und stakste in den Flur hinaus davon. Thomas lauschte auf ihre Schritte, seufzte und fuhr sich über das Gesicht.
      "Ich habe schlimmeres erwartet. Jetzt bin ich sogar fast enttäuscht."
      Er aß noch einen Bissen, beschloss dann aber, genug zu haben.
    • Vincent kippte leerte seinen Drink in einem schnellen Zug. Das Brennen des Alkohols überdeckte das seines Hungers für den Moment.
      "Enttäuscht? Darüber, dass dir die Frau, deren Herz du praktisch gebrochen hast, dir nicht an die Kehle gegangen ist? Du musst wirklich an deinen Prioritäten arbeiten, Thomas."
      Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. Thomas hatte durchaus recht. Darcy war weitaus gesitteter mit der ganzen Situation umgegangen, als er erwartet hatte. Nur konnte Vincent das Gefühl nicht abschütteln, dass es nicht so einfach war. Darcy schien ein Händchen dafür zu haben, sich unterschätzen zu lassen.
      Vincent schüttelte leicht den Kopf. Er war sicher nur paranoid, und diese Gedanken brauchte er jetzt nicht. Er hatte es doch selbst gesagt: nach zweihundert Jahren war Schluss mit den Versteckspielen!
      "In einer Sache hatte sie aber Unrecht," meinte er, einen Blick auf die Tür werfend, bevor er wieder zu Thomas blickte und verschlagen lächelte. "Du bist herausragend im Bett."
    • "Es wäre einfacher, wenn sie mir an die Kehle gegangen wäre. Dann hätten wir uns streiten können, sie hätte mir alles vorwerfen können, was ich falsch gemacht habe und wir hätten uns mit großem Drama getrennt. ... So tut es fast weh."
      Thomas richtete sich das Hemd, während Vincent sich setzte und schenkte ihm dann einen giftigen Blick.
      "Du bist ganz still. Wir machen das hier zu einem strikt christlichen Haushalt, während Darcy da ist. Wir benehmen uns alle ganz züchtig."
      Das warf er spätestens dann wieder über Bord, als sie es sich im Wohnzimmer gemütlich machten und er seinen Freund liebevoll küsste.

      Stephen tauchte am Vormittag des nächsten Tages auf. Er klopfte und wurde gutgläubig von Esther hereingelassen, bevor Thomas schnell genug war, sie davon abzuhalten.
      Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, einige Zeit vor Weihnachten, als Stephen Vincent abgestochen hatte, hatte sich kaum etwas verändert. Der Direktor eines angesehenen Industriezweigs in Manchester war noch immer groß und stattlich und unglaublich griesgrämig, so wie er dort deplatziert in Thomas' Wohnzimmer stand, als der herunterkam. Darcy war noch oben sich für die Reise zurechtmachen und Vincent schlief bereits; Thomas war gerade aus dem Bett gesprungen, hatte sich einen Anzug übergeworfen und sich die Haare einigermaßen gekämmt. Er hatte verschlafen und das war wohl sein Fehler, denn Vincent war einfach zu gemütlich, um ihn alleine im Bett zurückzulassen. Das war schon immer seine Schwäche gewesen.
      Jetzt traktierte Stephen ihn mit einem finsteren Blick.
      "Thomas."
      "Stephen."
      Die beiden Männer blieben auf Abstand zueinander stehen, als könnten sie sich davon vergiften, einander zu nahe zu kommen.
      "Ich gehe mal stark davon aus, dass er tot ist."
      Thomas wusste ganz genau, wen er meinte, gab dem anderen aber nicht das Vergnügen, darauf einzugehen.
      "Darcys Entführer ist tot, ja. Ich habe ihn erledigt, es besteht keine Gefahr mehr."
      "Du weißt ganz genau, wen ich meine."
      "Ja. Vlad ist tot, ein für allemal."
      Stephen kniff die Augen zusammen. Es überraschte Thomas kein bisschen, dass der Mann plötzlich auf ihn zutrat in seiner beeindruckenden Haltung und ihn einzukesseln versuchte. Aber darüber war er schon lange hinweg, er rührte sich nicht vom Fleck.
      "Er hat Darcy entführt", knurrte Stephen, so nahe, dass Thomas seinen Atem spüren konnte. "Er hat sie bei sich festgehalten und diesem Tier ausgesetzt. Es ist mir ganz egal, ob er der verdammte Papst ist, Harker wird dafür büßen, dass er ihr das angetan hat."
      "Lord Harker hat nichts dergleichen getan", grollte Thomas zurück, der ganz sicher nicht zulassen würde, dass hier in solcher Weise über Vincent gesprochen wurde. "Lord Harker hat sie beschützt, mehr als du es getan hast. Darcy hat mir erzählt, dass du nicht einmal da warst, als sie überfallen wurde - Zuhause. Von einem Vampir. Was ist mit deinen Sicherheitsvorkehrungen? Lässt du etwa alles so offen und zugänglich, dass man deine eigene Schwester einfach von ihrem Zuhause abholen kann? Wo ist dein Schutz? Du bist für sie verantwortlich, wenn sie nicht bei mir ist. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, außer, dass du schlichtweg versagt hast?"
      Aus dieser Nähe konnte er deutlich sehen, wie sich Stephens ganzer Körper anspannte. Der Mann musste wohl wissen, dass es alles andere als klug wäre, den Hausherren in seinen eigenen vier Wänden anzugreifen, aber der innere Kampf schien wohl groß zu sein. Groß genug, dass er etwas spuckte, als er wieder sprach.
      "Sicher, es ist meine Schuld - deswegen warst du ja auch gleich an Ort und Stelle, um sie zu retten, stimmt's? Hast es sogar im Vorhinein gespürt und bist extra den ganzen Weg hinaus nach Harker Heights gefahren, um sie rechtzeitig dort abzufangen. Hast dir auch ordentlich Zeit damit gelassen, Darcy zu befreien. Genug Zeit, dass ich fast schon denken könnte, dass du aus einem ganz anderen Grund dort warst. Heißt der Grund vielleicht Harker? Du hast ja auch viel Zeit mit ihm verbracht, schwuchtelt ihr euch gegenseitig an, dort draußen? Wo euch niemand stören kann?"
      Thomas spürte seinen Kopf rot werden. Stephen sah seinen Kopf rot werden.
      "Untersteh dich sowas zu sagen! Es war verschissenes Glück, dass ich da gewesen bin! Ansonsten hättest du Darcy vielleicht das nächste Mal unter der Erde gesehen; bedeutet dir deine Schwester so wenig?! Musst du deswegen unbedingt versuchen -"
      "Jungs!"
      Darcy war auf der Treppe aufgetaucht und kam jetzt die letzten Stufen hinab, während Stephen einen Schritt zurücktrat und sich auf garstige, funkelnde Blick beschränkte, die Thomas mit der gleichen Intensität erwiderte.
      "Was ist denn hier los?"
      "Dein toller Freund hält es wohl für besser, seine Schwuchtel zu beschützen als seine Freundin."
      "Stephen, was redest du denn! Ohne Thomas wäre ich gar nicht hier und ohne Herrn Harker überhaupt auch nicht. Das ist nicht seine Schuld."
      "Ist er hier? Hast du ihn mitgebracht, damit ich ihn ein zweites Mal abstechen kann? Dieses Mal werde ich richtig zielen, direkt aufs Herz."
      "Stephen -"
      "Wenn du auch nur einmal darüber nachdenkst, werde ich dich als menschliche Falle für den nächsten Vampir benutzen! Dann werde ich dich aufschlitzen und bluten lassen, bis sich der nächstbeste davon anlocken lässt! Hoffentlich ist es ein Mann, damit er seine sehr männlichen Lippen um deinen Hals schließen und dich aussaugen kann! Das hättest du wohl gerne, oder? Dass sich ein Mann an dir bedient? Würde dein fragiles Ego das überhaupt ertragen? Sicher würdest du vorher an einem Herzinfarkt sterben, bevor es zum Höhepunkt kommen kann!"
      "Thomas!"
      "Was glaubst du eigentlich -"
      "Darcy geht es gut, ihr wurde kein einziges Haar gekrümmt! Hier ist sie und hier werde ich sie heil deinen unfähigen Händen überlassen! Und jetzt raus mit dir, ich kann mich nämlich nicht erinnern, dich hier willkommen geheißen zu haben!"
      Stephen musterte ihn mit absoluter, unverhohlener Verachtung und ballte die Hände zu Fäusten. Thomas hätte sich für einen Schlag gewappnet, er hätte ihn auch wegstecken können. Stephen mochte stärker als er sein, aber letzten Endes war es Thomas, der mehr Erfahrung und eine deutlich längere Ausbildung hatte. Er hätte keine Probleme damit, Stephen in die Schranken zu weisen.
      Aber der Schlag kam nicht. Stephen funkelte ihn nur an, dann drehte er sich steif weg und rempelte sich an ihm vorbei.
      "Darcy, komm."
      Darcy kam, ohne vorher bei Thomas noch einmal stehenzubleiben. Nur bei der Tür drehte sie sich noch knapp zu ihm um.
      "Tschüss, Thomas. Richte Grüße aus."
      "Darcy!"
      "Himmel Stephen, ich komme ja!"
      "Tschüss, Darcy."
      Sie lächelte ein bisschen, dann ging sie nach draußen und schlug die Tür hinter sich zu. Sie ließ Thomas alleine zurück, der einen Augenblick später zu den hohen Fenstern ging und dabei zusah, wie die ausladende, Titanium Industries Kutsche langsam anfuhr und dann von seiner Einfahrt heraus rollte. Als sie gerade die Straße runter verschwand, tauchte Esther auf, eingeschüchtert und nervös und machte Anstalten, sich dafür zu entschuldigen, Stephen einfach hereingebeten zu haben. Thomas winkte aber ab, schließlich konnte sie es nicht besser wissen. Sie war ja auch gar nicht seine Haushälterin.
      Damit war es wohl vorüber, endgültig. Er würde die Brooks vermutlich - hoffentlich - nie wieder in seinem Leben zu Gesicht bekommen.
      Ein paar Minuten verharrte er noch im Wohnzimmer, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich nicht wiederkommen würden, und ging dann zurück ins Schlafzimmer hoch. Er legte sich zu Vincent, zog den Mann an sich und küsste seinen Hinterkopf, bevor er sich an ihn schmiegte.

      "Stephen war schon am Vormittag da, sie sind beide weg. Er war ziemlich wütend, ich mache mir sogar fast Sorgen um Darcy. Ich hoffe, sie hat ihn irgendwie im Griff."
      Er hatte Vincent wie jeden Abend geweckt und saß jetzt bei ihm auf der Bettkante. Den Anzug war er wieder losgeworden und trug nur noch ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine legere Hose. Er rieb sich den Nasenrücken.
      "Das war sogar recht anstrengend. Wir waren mal Freunde und jetzt sind wir so schnell... gar nichts mehr, es fühlt sich so komisch an. Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir noch einen Tag hier bleiben? Wir können morgen Abend wieder zu dir gehen."
    • Vincent streckte sich ausgiebig und blieb dann einfach liegen, alle Viere weit von sich gestreckt. Er wusste nicht, wie er sich fühlte. Sein Körper schmerzte, aber nur so weit, wie nach einer Nacht gefüllt mit Alkohol. Sein Kopf hämmerte, aber das könnte auch von all den Herzschlägen kommen, die durch dieses Haus dröhnten. Allen voran der von Thomas, der gleich neben ihm saß.
      Vincent streckte seine Hand aus und verschränkte seine Finger mit denen des Mannes.
      "Wir können so lange bleiben, wie du willst. Ich habe hier auch noch die ein oder andere Sache zu erledigen. Und ich denke, mein Hausstand hat auch nichts dagegen, mal wieder stressfrei durch eine tatsächliche Stadt laufen zu können."
      Er zog Thomas zu sich, in seine Arme. Er könnte ihm jetzt hohle Lebensweisheiten auftischen, aber Vincent wusste, dass das nur wenig bringen würde. Also sagte er nichts und hielt Thomas einfach nur fest, solange wie der Mann ihn brauchte. Denn er war noch da. Und er würde nirgendwo hingehen.
    • Thomas ließ sich willentlich in Vincents Arme ziehen und kuschelte sich erleichtert an den Mann. Es kam vielleicht von Stephens Zusammenstoß, dass er seinen Freund jetzt mit anhänglichen Küssen überdeckte und seine Nähe gänzlich in sich aufnahm. Vielleicht war es auch noch das Blut in ihm oder es war die Tatsache, dass er sich nirgends so sicher und geborgen fühlte wie an Vincents Seite. Er genoss seine Nähe und konnte zum ersten Mal darüber erleichtert sein, dass es wahrlich vorbei war. Jetzt gab es keine Darcy mehr, die sie irgendwie behelligt hätte, jetzt gab es nur noch Vincent und ihn. Niemand stand mehr zwischen ihnen.

      In der Nacht blieb er lange genug auf, um seinen Keller wieder ein bisschen auf Vordermann zu bringen, während Vincent seinen eigenen Beschäftigungen nachging. Thomas hatte ihm ein Paar Handschuhe gegeben, damit er im Haus Türklinken bedienen konnte und nicht ausversehen an das viele Silber geriet, das hier überall an der Oberfläche lauerte. Irgendwann war er müde genug, um sich ins Bett zurückzuziehen, wo sie ihrem Ritual nachgingen, dass er in Vincents Armen einschlief. Es war so wie immer, aber doch besser. Er war zufrieden und glücklich.

      Als er dieses Mal zu spät aufwachte, gab es keine Unterbrechungen und keinen Stress, der ihn erwartet hätte. Esther wartete mit einem verspäteten Frühstück, oder eher Brunch auf ihn, und wollte dann in die Stadt fahren, um netterweise Thomas' Vorräte wieder aufzufüllen. Er wollte sie schon ziehen lassen, bevor er es sich anders überlegte und die Gelegenheit nutzte, um in seiner Praxis vorbeizuschauen. Er hatte schon seit Weihnachten nicht mehr geöffnet und die ganze Sache vollkommen vernachlässigt. Er wollte jetzt nicht arbeiten, dafür müsste er erstmal ankündigen lassen, dass er wieder geöffnet hätte, aber er wollte nach dem Rechten sehen. Noch hatte er genug Geld, um sowohl Geschäftsraum als auch seine Angestellte weiterhin zu bezahlen, aber er hatte auch kein Einkommen zur Zeit, wenn man von der Aushilfe beim einzigen Arzt nahe Harker Heights mal absehen wollte. Er musste planen, er musste sein Leben wieder ein bisschen in den Griff kriegen. Vincents Enthüllung zu Silvester hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen, aber mittlerweile war alles geregelt - selbst Vlad war tot und Darcy endgültig fort. Er hatte keine Ausrede mehr, um sich weiterhin drücken zu können.
      Also stellte er sicher, dass alle Vorhänge für Vincent geschlossen waren, deckte ihn nochmal ordentlich zu und fuhr dann mit Esther in die Stadt, wo sie sich für ihre verschiedenen Aufgaben trennten. Er schloss seine Praxis auf, erledigte Papierkram und beschloss dann, dass das schon genug sein würde. Sie fuhren einige Zeit später wieder zurück, er schloss die Haustür auf - und zog zischend die Hand zurück, als er die Klinke berührte. Sie war glühend heiß.
      "Was...?"
      Esther stand hinter ihm und neigte nur fragend den Kopf, während Thomas die Stirn runzelte und die Klinke zu greifen versuchte. Sie war wirklich unerträglich heiß. Er umfasste sie rasch, drückte sie herab, stieß die Tür auf und
      Ein Schwall gleißende Wärme erfasste ihn, gepaart mit einem ohrenbetäubenden Krachen und dem Zerspringen von Fensterscheiben. Der plötzliche Druck, der aus der geöffneten Tür barst, war genug, um sowohl ihn, als auch Esther hinter sich zu Boden zu werfen, als sowohl Rauch, als auch Feuerzungen an der Decke nach draußen züngelten. Binnen eines Augenblicks wurde die zuvor so unscheinbare Gegend von einem Licht erhellt, das den Lärm der Zerstörung mit sich brachte. Aus Tür und Fenstern des gesamten Erdgeschosses brach eine Feuerbrunst hervor, die sich jetzt an der Außenfassade des Hauses nach oben fressen wollte. Es knisterte in einer Lautstärke, die Thomas in den Ohren pochte.
      Schneller als Esther, die dem Schrecken gänzlich unterlegen war, rappelte er sich auf, wich von der Feuer speienden Tür zurück und packte die Frau, um sie ebenfalls wegzuziehen. Er wusste nicht, ob das ganze Gebäude nicht noch einmal explodieren würde.
      "Alles in Ordnung?!"
      Sein eigener Kopf pochte und seinen Ohren klingelten, aber das Adrenalin hielt den meisten Schaden im Hintergrund. Esther war dafür ganz bleich, in Schockstarre und nickte nur.
      "Nicht näher gehen! Wir gehen zur Kutsche zurück, wir müssen -"
      Vincent. Der Gedanke kam mit einer so plötzlichen Wucht, dass Thomas, der sich von keiner Gefahr aus der Ruhe bringen ließ, am ganzen Körper erstarrte. Vincent war da drin. Vincent schlief in seinem Schlafzimmer!
      Abrupt wirbelte er herum um zu sehen, dass die Flammen sich schon an den Holzgestellen der Fassade festgefressen hatten und nur noch weiter wuchsen. Sie hatten schon beinahe das erste Obergeschoss erreicht und das nur außen. Er hatte keine Ahnung, wie es drinnen aussah.
      Hektisch drehte er sich wieder zu Esther um.
      "Setzen Sie sich in die Kutsche! Wenn es noch einmal explodiert, dann fahren Sie! Verständigen Sie die Feuerwehr und fahren Sie zu Vincent, damit Simon uns abholt! Vincent darf nicht so lange draußen sein! Verstanden?"
      Sie nickte nur flüchtig, aber das war Thomas genug, um die Frau stehenzulassen und zurück zum Haus zu rennen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er erst versuchte, durch die Tür zu gelangen oder alternativ durch die Fenster, wo aber überall das Feuer nach draußen schlug. Die Hitze war auf nahem gewaltig. Thomas suchte nach einem Weg, dann rannte er um das Haus herum in den Garten, wo das Fenster zum Schlafzimmer lag. Allerdings war es im ersten Stock in unerreichbarer Höhe.
      Von dort unten war nichts zu sehen, aber das musste nichts heißen, nachdem die Vorhänge zugezogen waren. Hektisch suchte Thomas nach einem Weg nach oben, bevor er die Hände in einem Trichter an den Mund legte.
      "VINCENT!"
      Sein Ruf war nicht wirklich lauter als das allgegenwärtige Knistern des Feuers. Er versuchte es noch einmal, aber wie zu erwarten rührte sich nichts.
      "Scheiße!"
      Noch einmal suchte er die ganze Hauswand ab, bis sein Blick auf das Rohr an der Seite fiel, der einzige wirkliche Weg nach oben. Thomas könnte es versuchen und sich dabei das Bein brechen, er könnte Vincent auch verbrennen lassen.
      Hastig lief er zu dem Rohr, rüttelte vorsichtshalber daran und versuchte sich dann, mithilfe des Steins und dem Rohr nach oben zu hangeln. Selbst unter den Handschuhen war das Rohr eiskalt und Thomas war auch kein sehr begabter Kletterer, sein Training bestand viel eher aus körperlicher Kampfkunst. Mehrere Male glitt er aus, krallte sich in den Stahl, der gefährlich knarzte und versuchte, die hohen Fensterrahmen zu nutzen, um sich weiterzuziehen. Mehrere Male knackte und splitterte es irgendwo auf der anderen Seite, wenn die Flammen ein neues Opfer gefunden hatten. Seine Angst um Vincent stieg mit jeder weiteren Sekunde, die er noch nicht das Fenster erreicht hatte. Er kletterte mit einer unerschütterlichen Zielstrebigkeit, bis er am Fensterrahmen hing und gegen die Scheibe schlug. Normalerweise war ein so hartes Fensterglas ein Segen, um sich vor ungewünschten Eindringlingen zu bewahren, aber nicht jetzt. Er donnerte ziellos mit der Faust dagegen, zog seinen Dolch hervor und rammte den Griff mehrere Male gegen die Scheibe, bis sie zu reißen begann. Als das Glas endlich splitterte, wischte er eilig die Scherben beiseite und zog sich durch den Fensterrahmen hinein.
      Die Zimmertür war noch immer geschlossen und allem Anschein nach unversehrt, aber durch die Spalten und das Schlüsselloch war bereits der Rauch herein geströmt und verdunkelte das ganze Zimmer. Es war so unerträglich heiß, dass Thomas gleich ins Schwitzen geriet. Er nahm einen Atemzug und hustete von dem vielen Rauch, der ihm sofort in die Lunge strömte.
      "Vincent?!"
      Mit dem geöffneten Fenster zog der Rauch jetzt ab, aber nur sehr langsam. Es gab keinen richtigen Luftzug und Thomas würde den Teufel tun und die Tür öffnen.
      "Vincent!"
      Halb blind und hustend stolperte er in seinem Schlafzimmer zu seinem Bett, um dort Vincents Gestalt zu erfühlen. Grob packte er ihn bei den Schultern und schüttelte ihn durch.
      "Vincent, wach auf! Wir müssen nach draußen!"
    • Einer der Erzfeinde eines Vampirs war Feuer. Sicher, Feuer konnte jedes Lebewesen vernichten, aber Vampire hatten ausgeprägte, animalische Instinkte - und Tiere hatten eine instinktive Angst vor Feuer.
      Als Thomas also den Mann in seinem Bett wachrüttelte, war es nicht unbedingt Vincent, der da die Augen aufschlug. Der Geruch von Rauch brannte ihm in der Nase, löste sofort den Reflex zur Flucht aus. Vincents Augen lichteten sich sofort, er fletschte die spitzen Zähne, und drückte sich mit einem Fauchen gegen die Wand hinter sich. Er wusste genau woher das Feuer - die Gefahr - kam und wollte sich automatisch von dieser Quelle entfernen. Hektisch sah er sich nach einem Ausweg um - den Mann an seiner Seite nahm er kaum wahr. Das Fenster bot ihm einen Ausweg. Doch draußen schien die Sonne. Vincents Blick huschte zwischen der qualmenden Tür und dem zersplitterten Fenster hin und her, das Monster wägte ein Übel mit dem anderen ab.
      In dem Augenblick, in dem sich das Monster für eine Fluchtmöglichkeit entschloss, schaffte es Vincent irgendwie, eine bewusste Entscheidung zu treffen: er packte Thomas am Arm, zerrte ihn mit sich und sprang mit dem Mann in seinen Armen einfach aus dem Fenster. Er ignorierte die Glasscherben, die ihm dabei die Haut einschnitten. Er ignorierte die Welle des Schmerzes, die der Aufprall draußen auf dem Boden durch seinen Körper schickte. Doch das Monster übernahm nur einen Augenblick später bereits wieder und so ließ er von Thomas ab, kaum berührten sie den Rasen, und koch in den Schatten eines Baumes, weg von dem Feuer, weg von dem Sonnenlicht. Etwas Grundlegendes in Vincent wollte sich in eine dunkle Höhle verkriechen und seine Wunden lecken. Der gleiche Teil wollte bereits jetzt etwas töten, etwas zerfleischen. Wer auch immer sich erdreistet hatte, sein Territorium derartig zu attackieren, würde einen qualvollen Tod sterben, um dafür zu bezahlen! Oder wer auch immer gerade am nächsten war...
    • Mit einem Mal zuckte Vincent und war dann weg von Thomas' Griff. In dem Halbdunkel des Rauchs konnte er gerade noch ausmachen, wie der Mann von ihm wegwich und sich dann schutzsuchend an die Wand presste.
      Er wusste nicht, ob es wirklich Vincent war. Er weckte ihn mitten am Tag in einem Raum voller Rauch, während Vincent ausgehungert und müde war. Das hier war vermutlich so wenig Vincent wie Vlad ein respektabler Mann gewesen war.
      Aber Thomas hatte jetzt keine Zeit dafür. Und wenn er den Mann - den Vampir - von seinem Hals zerren müsste, weil er ihn nach draußen schleifte, er würde es tun. Es gab gar keine andere Wahl.
      "Vincent, reiß dich zusammen, wir müssen nach draußen! Nur kurz, wir werden gleich zur Kutsche gehen und -"
      Er zuckte, als der Vampir plötzlich mit einer Schnelligkeit nach vorne schoss, die sämtliche Alarmglocken in ihn gleichzeitig zum Schallen brachte. Instinktiv packte er Vincents Hals, um die Zähne des Vampirs von sich zu halten, aber das schien gar nicht sein Ziel zu sein. Stattdessen ergriff er ihn, drückte ihn zum Fenster, wogegen Thomas wenig auszurichten hatte, und sprang mit ihm nach draußen.
      In der letzten Sekunde veränderte er seinen Griff doch, um sich stattdessen in Vincents Schulter zu krallen und entsetzt an ihm festzuhalten, als sie für einen Moment durch die Luft segelten. Das konnte nicht gut ausgehen. Er sah bereits die Knochenbrüche, den Genickbruch, alles, was sie beide noch umgebracht hätte, aber gleichzeitig konnte er auch nichts dagegen tun. Der Vampir hielt ihn gepackt und ließ ihn nicht los.
      Sie schlugen gemeinsam im Rasen auf, Vincent unter ihm, Thomas abgefedert von dem Mann, der ihn gleich von sich stieß und davon schoss. Zumindest schien er sich nichts lebensgefährliches gebrochen zu haben, aber das konnte auch das Adrenalin sein. Zumindest hatten sie es nach draußen geschafft.
      "Vincent!"
      Thomas beeilte sich, sich wieder auf die Beine zu rappeln und zu dem im Schatten zusammengekauerten Mann zu laufen. Er trug kaum etwas, hatte sich logischerweise nichts übergezogen bei dem abrupten Aufbruch und saß jetzt auf dem eisigen Boden, die widernatürlich hellen Augen zusammengekniffen, die Lippen von gefährlich scharfen, ausgeprägten Zähnen geteilt. Thomas wollte bei dem Anblick nichts sehnlicher, als zurück ins schützende Tageslicht zu weichen, wo der Vampir schwach und unaufmerksam werden würde. Stattdessen schälte er sich aus seinem Mantel und ging vorsichtig vor Vincent in die Hocke.
      "Alles gut, es ist alles in Ordnung. Ich weiß, es ist viel zu früh für dich. Zieh dir den Mantel an und dann werden wir zu dir fahren. Du musst nicht viel länger hier draußen bleiben, nur ein kleines Stück bis wir -"
      "Thomas."
      Als er die Stimme hörte, verstummte er und drehte den Kopf.
      Stephen stand am einzigen Ausgang des Gartens. Er war in den selben langen Mantel von gestern gehüllt und trug dasselbe griesgrämige, mürrische Gesicht zur Schau, während er die beiden Männer fixierte. In seiner rechten Hand lag eine silberne Pistole, die er auf sie beide gerichtet hielt.
      Thomas erstarrte. Er vergaß um Vincent, dem er seinen Mantel übergeworfen hatte und wo er jetzt nur hoffen konnte, dass der Vampir sich unter dem Stoff halbwegs verstecken könnte. Seine Aufmerksamkeit war allein auf die Mündung gerichtet, die auf sie beide zielte.
      "Weg von ihm", grollte Stephen, seine Stimme dunkel von einem Ärger, der vermutlich seit gestern, viel eher aber schon seit Weihnachten in ihm gärte. Er stand einige Meter entfernt von ihnen, zu weit, um ihn erreichen zu können, aber Thomas konnte trotzdem sehen, dass die Waffe bereits entsichert war. Sein Finger lag schon am Abzug.
      Langsam richtete er sich auf und drehte sich Stephen zu. Das beinhaltete, dass er Vincent seinen Rücken zukehrte, aber der Jäger hatte sowieso längst eine viel größere Bedrohung ins Auge gefasst.
      "Du hast das Feuer gelegt."
      "Geh weg von ihm."
      "Du wolltest ihn umbringen. Wolltest du mich auch umbringen? Oder hast du extra gewartet, bis ich weg bin?"
      Stephens Miene verriet nicht mehr als seine grundlose Verachtung für den anderen Mann oder vielleicht auch die Situation. Seine Waffenhand war ganz ruhig, die Mündung unablässig auf sie gerichtet.
      "Du bist auch kein Vampir, er ist es. Sieh ihn dir an, wie er sich vor der Sonne zu verstecken versucht. Wie erbärmlich. Sowas sollte nicht am Leben sein."
      "Da sind wir verschiedener Meinung."
      "Dann bist du ein verdammter Narr."
      Fiebrig dachte Thomas nach. Er trug keine Schusswaffe mit sich, das war ihm stets zu laut für eine Jagd. Stephen war derjenige, der sich um solche Dinge keine Gedanken machte. Stephen hatte auch genug Geld und Einfluss, um sich aus dem Gefängnis wieder herauszukaufen.
      Er hatte genug Geld, um den Mord an gleich zwei Personen einfach vertuschen zu lassen. Das wäre nicht sein Problem.
      Er konnte ihn auch nicht erreichen. Wenn er auch nur einen Millimeter zur Seite rückte, um die Sicht auf Vincent freizugeben, würde der andere schießen, dessen war er sich sicher. Deswegen blieb er wie angewurzelt genau dort stehen und versuchte, eine Lösung zu finden.
      "Ich werde nicht zulassen, dass du ihn umbringst."
      "Dann werde ich dich eben zuerst erschießen müssen. Das ist immernoch besser, als ein Monster frei herumlaufen zu lassen. Ist es das, was du willst? Gemeinsam sterben wie zwei verliebte Schwuchteln?"
      Thomas' Gesicht verfinsterte sich. Er versuchte es sich nicht anzumerken, dass seine Hand zu dem Dolch unter seinem Gürtel kroch.
      "Du würdest zweifachen Mord begehen, an Vincent und an mir. Denkst du, Darcy wird es schätzen, dass du deinen Schwager umgebracht hast?"
      "Ein Scheiß bist du. Sie hat mir erzählt, dass ihr Schluss gemacht habt. Dein Verlust, aber deswegen wird sie dich auch in hundert Jahren nicht vermissen. Und ihn sowieso nicht."
      "Er ist kein schlechter Mensch. Er tut gute Dinge für die Leute -"
      "Er ist ein gottverdammter Vampir, mehr gibt es dazu nicht zu sagen! Er ist ein Scheusal und gehört ordentlich aufgespießt, wie man es vor hundert Jahren noch mit seinesgleichen getan hätte. Was ich ihm hier biete, ist ein Gnadenstoß, den er noch nicht einmal spüren wird."
      Thomas' Hand schloss sich um den Griff seines Dolches.
      "Geh mir also aus dem Weg Thomas, oder ich werde dir genauso eine Kugel in den Kopf jagen wie ihm. Genug dafür hab ich."
    • Das Sonnenlicht brannte in seinen Augen, blendete ihn. Der Geruch von Feuer und Rauch hing so schwer in der Luft, dass er nichts anderes wahrnehmen konnte. Er wickelte den Stoff, der von irgendwo herkam, eng um sich, bedeckte so viel seines nackten Oberkörpers damit, wie er nur konnte. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, von dem er wusste, dass es ihm helfen würde. Zwei Herzschläge, nicht besonders weit von ihm entfernt. Wenn er sich nur einen davon nahm, könnte er den Schmerz stillen. Es würde ihm wieder gut gehen.
      Vincent hob den Blick, konnte aber nur zwei Schemen ausmachen. Die wenigen Augenblicke Sonnenlicht hatten seinem ausgehungerten Körper bereits genug Schaden zugefügt, dass er nicht mehr klar sehen konnte in dem hellen Licht. Er roch Thomas, aber dieser Geruch kam von dem Mantel, de rum seine Schultern lag. Es war ihm nicht möglich zu sagen, wer von den beiden Personen Thomas war. Aber dann hörte er die Stimmen.
      "Du wolltest ihn umbringen."
      "Sowas sollte nicht am Leben sein."
      "Er ist ein Scheusal und gehört ordentlich aufgespießt."
      Ein Grollen erhob sich tief in Vincents Brust, als das Monster denjenigen identifizierte, der sein Territorium und sein Leben bedroht hatte. Und mit dem Grollen erhob sich auf Vincent. Im nächsten Augenblick flatterte der Mantel im Schatten des Baumes zu Boden, während Vincent direkt vor Stephen auftauchte, eine Hand schraubstockartig um das Handgelenk geschlossen, in der der Mann die Waffe hielt, die andere packte Stephen an der Kehle. Vincent machte keinen Hehl aus seinem Hass für den Mann, als er ihm seine Fangzähne präsentierte, bereit, zuzubeißen. Die Sonne brannte auf seinem Rücken, seine Haut verfärbte sich bereits rot. Aber das vollkommen egal, denn gleich hätte er alles, was er brauchte, um der sengenden Hitze zu widerstehen.
    • Ein Grollen war alles, was beide Männer an Vorwarnung bekamen, dann raschelte es plötzlich hinter Thomas und ein Luftzug ließ seine antrainierten Instinkte anspringen. Er riss seinen Dolch heraus und hätte ihn in der gleichen Bewegung auch fast geworfen - auf Vincent geworfen, der mit einem Mal vor Stephen auftauchte und das Handgelenk packte. Viel konnte Thomas nicht erkennen, aber es war genug, um augenblicklich auf die Männer zuzulaufen. Er musste Vincent helfen. Stephen war ihm egal.
      Von hinten konnte er nur sehen, wie der Vampir nach vorne zuckte und Stephen ihm dafür das Knie in den Unterleib rammte. Vincents Rücken färbte sich in einer besorgniserregenden Geschwindigkeit Rot von dem Tageslicht, aber er ließ sich weder davon, noch von Stephens Bein abbringen. Beide Männer taumelten, als Stephen einen Griff anzuwenden versuchte, der ihn aus dem Klammergriff hätte befreien können. Sie fielen zu Boden und ein Schuss erschütterte die Luft.
      Thomas war zur Stelle, erkannte die Pistole unter Vincents Leib und entriss sie dem Jäger, der dafür mit dem anderen Arm dem Vampir den Ellbogen gegen den Kopf rammte. Ob Vincent ihn bereits gebissen hatte wusste er nicht, genauso wenig wie er sehen konnte, ob der Schuss ihn getroffen hatte, aber er konnte doch gut sehen, dass er nicht in Form war. Das Sonnenlicht war zu viel für ihn, er hatte nicht genug Blut und wenn das so weitergehen würde...
      "Auseinander! AUSEINANDER HABE ICH GESAGT!"
      Stephen stieß Vincent mit einem Tritt in den Bauch gänzlich von sich, machte Anstalten aufzustehen und verharrte dann, als Thomas ihm umgehend seine eigene Pistole an den Kopf drückte. Der Mann keuchte stark, rührte sich aber nicht mehr. Thomas hielt ihn dort, während er sich zu Vincent umsah.
      "Vincent?"
    • Der erste Tritt war ihm vollkommen egal. Stattdessen verstärkte er seinen Griff. Seine Beute wehrte sich aber weiter und schon bald lagen sie auf dem Boden. Er passte seinen Griff an, wollte seine Beute nicht entkommen lassen, da erschütterte ein Knall, lauter als alles andere, seine Welt. Kurz danach traf ihn etwas am Kopf, gefolgt von einem Tritt, der ihn sonst wohin beförderte.
      Vincent schüttelte wild den Kopf, versuchte, das Klingeln in seinen Ohren loszuwerden, doch es half nichts. Das Sonnenlicht beraubte ihn seiner Augen, der Rauch des brennenden Hauses seiner Nase, und nun hatte er auch noch seine Ohren verloren. Das Monster tobte. Doch es wusste, wann es sich geschlagen geben musste. Die Beute wehrte sich zu sehr, er brauchte mehr Zeit. Heute Nacht... heute Nacht würde er fressen.
      Vincent kroch zurück in den Schatten, zerrte den Mantel über sich, als er zufällig mit der Hand dagegen stieß. Am Fuße des Baumes rollte er sich zusammen. Er war so müde... Er schüttelte den Kopf, um wach zu bleiben. Die Gefahr war noch nicht vorüber, er musste wachbleiben. Nur weil er nicht richtig sehen konnte, hieß das nicht, dass er sich nicht wehren konnte. Er würde warten, bis die Gefahr vorüber war, dann würde er sich ein sicheres Versteck suchen, bis die Sonne unterging. Und dann würde er jagen.
    • Vincent kroch gleich von Stephen davon, was wohl ein gutes Zeichen war, denn viel besorgniserregender wäre es gewesen, wenn er einfach dort liegengeblieben wäre. So schien er sich zurück in die Schatten verkriechen zu wollen, die auch nicht unbedingt Schatten waren. Es war aber besser als gar nichts.
      Stephen rührte sich unter Thomas' Waffe, wollte vielleicht zu seiner nächsten greifen oder Vincent noch erwischen, aber Thomas verstärkte den Druck des Stahls auf ihn, wandte sich ihm vollständig auf ihn zu und trat mit dem Stiefel gegen seine Brust. Stephen fiel nach hinten auf den Rücken, aber bevor er sich wieder aufgesetzt hätte, nagelte Thomas ihn mit einem Fuß auf der Brust fest. Die Waffe zeigte noch immer auf Stephens Kopf und da schien es ihm wohl eine bessere Idee, sich nicht noch einmal gegen Thomas zu stemmen.
      "Hände nach oben, wo ich sie sehen kann."
      Der Mann gehorchte, auch wenn es einen Moment dauerte, auch wenn es äußerst widerwillig geschah. Er hob die Hände, bis sie seitlich neben seinem Kopf lagen und starrte Thomas dann mit giftigem Blick an. Der beugte sich ein Stück zu ihm hinab und brachte dabei auch die Pistole näher an seine Stirn.
      "Ich werde dir etwas sagen und zwar nur ein einziges Mal, Stephen Brooks. Also hör genau zu, denn ich beabsichtige nicht, jemals wieder auch nur ein Wort an dich zu richten."
      Seine Stimme war leise und gefährlich, als er seinen ehemalig besten Freund mit feurigem Blick niederstarrte. Stephen war anzusehen, dass ihm die Situation ganz und gar nicht gefiel, aber er war wohl auch schlau um zu begreifen, dass ihm hier keine Wahl mehr gelassen wurde.
      "Ich werde nicht zulassen, dass du Vincent - oder irgendjemandem aus seinem Haushalt, wenn wir schon dabei sind - etwas antun wirst. Und das ist schon lange keine leere Drohung mehr. Ich meine damit, dass ich dich umbringen werde, wenn du Vincents Revier auch nur zu nahe kommst."
      Er beugte sich noch tiefer zu ihm hinab.
      "Denn ich bin Jäger und ich jage, was auch immer eine Gefahr für die Menschheit darstellt. Das ist nicht der Mann, den du gerade in seinem Bett versucht hast zu verbrennen. Das bist du, der ein Feuer in einem fremden Haus gelegt hat, ohne überhaupt zu wissen, ob noch mehr Leute außer mir und ihm da sind und der einen Mann dafür abgestochen hat, dass er - was? Weil du denkst, er mordet Leute, auch wenn ich dir gesagt habe, dass er es nicht tut? Weil du ihn für schwul hältst? Wie klein muss dein Ego sein, wenn du dich davon verletzt fühlst, Stephen? Dass du denkst, dich gegen einen Mann wehren zu müssen, der immer nett zu dir gewesen ist, egal, was für ein Arschloch du zu ihm warst? Ich werde das nicht dulden, Stephen. Entweder, ich werde dich erschießen, wenn du ihm zu nahe kommst, oder ich werde meine Jagd auf dich eröffnen. Ich werde höchstpersönlich nach Manchester kommen und dich wie einen verifizierten Vampir behandeln. Ich werde keine Fragen stellen und keine Nachforschungen betreiben, ich werde dir dort auflauern, wo du dich sicher fühlst, und ich werde dich erstechen. Wie hast du gerade gesagt, "ordentlich aufspießen"? Das werde ich mit dir tun, Stephen. Denke nicht, dass ich Scherze mache. Ich habe in meinem Leben 156 Vampire gerissen, mehr als dreimal so viel wie du. Ein Mensch mehr, der ein Monster ist, macht mir nichts aus. Ich werde nicht mit der Wimper zucken."
      Stephen starrte ihn so gehässig an, wie man es in seiner Körperlage wohl gerade tun konnte. Wäre er ein Tier, hätte er ihn angeknurrt, aber sonst rührte er sich unter der Pistole nicht.
      "Ich hätte allen Grund, es schon jetzt zu tun, Stephen. Du hast Vincent schon zweimal versucht umzubringen und langsam wird es Zeit, dass ich diesen Gefallen erwidere. Aber weißt du, warum ich es nicht tue? Kannst du dir das denken?"
      Er kniff die Augen zusammen, starrte Stephen nieder.
      "Weil ich diesen "erbärmlichen" Mann dort hinten liebe und weil dein Blut ihm nicht weiterhelfen wird. Das ist der einzige Grund, der dich hier, jetzt am Leben lässt. Ich muss Vincent helfen und so sehr ich es auch möchte, ist das wichtiger als meiner Rache an dir."
      Damit richtete er sich abrupt auf und stieß Stephen noch einmal gegen die Brust, der unterdrückt ächzte. Der Mann schien aber verstanden zu haben, denn er blieb regungslos liegen, während Thomas einen Schritt rückwärts ging, in Vincents Richtung.
      "Wir werden jetzt fahren und du wirst hierbleiben, bis wir weg sind. Dreh dich auf den Bauch."
      Stephen rührte sich nicht. Er starrte nur giftig und da zielte Thomas kurzerhand neben seinen Kopf und drückte ab. Die Kugel knallte in den Rasen neben dem Mann.
      "Auf den Bauch, Brooks!"
      Er zuckte ganzkörperlich zusammen, dann wälzte er sich langsam herum, bis er auf dem Bauch lag.
      "Hände auf den Kopf."
      Widerwillig gehorchte er.
      "Und jetzt wirst du dich nicht rühren, bis wir weg sind. Versuch es erst gar nicht, ich werde es wissen. Ich werde schneller sein, das weißt du ganz genau."
      "Leck mich, Thomas."
      "Hättest du wohl gern."
      Er ging weiter rückwärts auf Vincent zu, aber Stephen rührte sich tatsächlich nicht. Sein Körper war steif und angespannt, aber er regte sich nicht, auch dann nicht, als Thomas Vincent erreicht hatte, sich zu ihm umdrehte und vor ihn kniete. Der Vampir schien gegen das Licht anblinzeln zu wollen, aber es war zu grell und außerdem war er viel zu entblößt ohne sämtlichen Schutz, nur durch das Erbarmen des Mantels. Vorsichtig streckte Thomas die Hand zu ihm aus.
      "Vincent... hörst du mich?"
      Er berührte ihn an der überdeckten Schulter, dann vergrößerte er den Druck etwas, bis Vincent sich sicher sein konnte, dass er da war. Dann rutschte er näher, steckte nach einem Blick auf Stephen die Pistole unter seinen Gürtel und begann damit, die Arme unter Vincents zusammengekauerten Leib zu schieben. Er musste den Vampir gefährlich nahe an seinen Hals lassen, aber er zweifelte nicht daran, ihn im schlimmsten Fall unter Kontrolle zu bekommen. Er war so geschwächt, dass es kaum einen großen Unterschied ausmachen dürfte.
      "Wir haben es gleich geschafft. Ich hebe dich jetzt hoch, okay?"
      Er zog seinen Freund an seine Brust und stand dann mit ihm in den Armen auf. Stephen rührte sich nicht. Thomas ging an ihm vorbei, Vincent fest an sich gepresst, als er in der Einfahrt schon Simon stehen sah. Ungemein erleichtert beschleunigte er seine Schritte, lief zu ihm und der Mann öffnete ihm die verdunkelte Kutschte, in die er Vincent hob. Er kletterte ihm gleich nach.
      "Beeilung!"
      Simon schlug die Tür zu und schwang sich schon auf, während Thomas Vincent an sich zog und ihm beruhigend zuflüsterte.
    • Vincent presste sich an die Wärme, die ihn so plötzlich umgab. Sie war weitaus angenehmer als die Hitze, die aus der einen Richtung kam, und dem Brennen, das sich von oben auf ihn stürzte. Er bekam nicht viel mehr von seiner Außenwelt mit als das. Alles wackelte. Ihm wäre davon beinahe schlecht geworden.
      Und dann war plötzlich alles dunkel. Der Geruch nach Feuer verschwand, die Hitze verschwand, das Wackeln verschwand. Zurück blieb nur die angenehme Wärme und die sanfte Dunkelheit. Vincent gab sich geschlagen, ließ sich von der Wärme und der Dunkelheit einhüllen. Er fühlte sich sicher. Sicher genug, um sich zu entspannen und sich der Bewusstlosigkeit hinzugeben.

      Nora war sofort zur Stelle, kaum dass Simon mit der Kutsche die Einfahrt hochgerast kam. Der Junge war wirklich kein guter Kutscher, aber er gab sich Mühe.
      "Rein mit Ihnen," scheuchte sie.
      Sie folgte Thomas nach oben ins Vincents Schlafzimmer, wo die Vorhänge bereits fest zugezogen waren. Sie bedeutete Thomas, ihren Arbeitgeber vorsichtig auf dem Bett abzulegen. Dann begann sie damit, sich die Verletzungen des Mannes anzusehen. Sie wusste, was Tageslicht mit Vincent anstellte, aber selbst sie hatte es noch nie so schlimm erlebst. Normalerweise bereitete sich Vincent ausgiebig darauf vor, im Tageslicht zu wandeln, aber das hier... das hier war die schlimmstmögliche Variante. Vincents Haut war knallrot, schälte sich an einigen Stellen ab und an anderen hatte er Brandblasen. An einem Ohr klebte Blut, und auch wenn Nora nicht wusste, woher es stammte, so wusste sie doch, was das bedeutete. Vincents Augen waren auch stark gerötet und sie ging davon aus, dass seine Augäpfel auch nicht besser aussahen.
      "Das wird dauern," schloss Nora kopfschüttelnd, als sie sich wieder erhob und Thomas' Mantel über ihren Unterarm faltete.
      Sie hielt Vincent das Handgelenk an die Stirn und wurde in einer weiteren Annahme bestätigt.
      "Er wird hungrig sein, wenn er aufwacht. Sehr hungrig. Die Verbrennungen durch die Sonne werden ihre Zeit brauchen, um abzuheilen. Sie sind weniger tödlich als eine Silbervergiftung, aber dafür schmerzhafter. dazu die vielen Schnitte... er wird unausstehlich sein."
      Sie seufzte und wandte sich Thomas zu, betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Ihr Blick blieb an seinen Händen hängen.
      "Gehen Sie sich waschen, ich hole etwas für Ihre Schrammen."
      Und damit ließ sie die beiden Männer allein und verschwand sie aus dem Schlafzimmer.

      Nora kümmerte sich um Thomas' Schrammen, bevor sie sich um alles andere kümmerte. Ein Haus war halb niedergebrannt, das erregte Aufmerksamkeit. Sie handhabte sowohl die Fragen der Feuerwehr, als auch die der Polizei im Alleingang. Sie scheuchte Thomas sogar zurück in die Tiefen des Hauses, als der sich erdreistete, helfen zu wollen.
      "Sie können mir am besten helfen, indem sie den sterbenden Schwan spielen. Hinter den Kulissen," hatte sie gesagt.
      Sie vertröstete alle Außenstehenden damit, dass ihr Arbeitgeber und sein guter Freund Doktor Van Helsing sich erst noch von dem Schock erholen mussten, dass sie selbst verletzt worden waren und ein außenstehender Arzt ihnen beiden Bettruhe verordnet habe. Simon holte den besagten Arzt ab und unterhielt den alten Mann über einer Tasse Tee, damit das Alibi auch stimmte. Außerdem kümmerte sich Doktor Hearne um Esther, die tatsächlich ein bisschen unter Schock stand. Am Abend, kurz vor Sonnenuntergang, füllte sie dann ganz pflichtbewusst zwei Gläser mit Schweineblut, stellte sie auf ein Tablett und brachte es nach oben. Nach einem kurzen Klopfen trat sie ein. Das Tablett landete auf dem Nachttisch neben Vincent, der mittlerweile das von ihr erwartete Fieber entwickelt hatte.
      "Er wird sich weigern," informierte sie Thomas. "Die letzten Nächte fiel es ihm schwer, das Schweineblut drin zu behalten. Mit seinen jetzigen Verletzungen wird er es nicht trinken wollen. Es ist nicht das, wonach es seinen Körper verlangt. Aber wenn er nicht trinkt, wird er auch nicht heilen."
      Liebevoll strich sie Vincent eine Strähne aus der verschwitzten Stirn. Dann wandte sie sich um und ließ die beiden Männer einmal mehr allein. Sie hasste es, Vincent so zu sehen. So schwach und gebrochen.

      Wollte diese Hitze denn kein Ende nehmen?! Vincent rollte sich mit einem Ächzen auf die Seite, vergrub das Gesicht in einem weichen Kissen. Sein ganzer Körper schmerzte. Ein Brennen loderte direkt unter seiner Haut, in seinen Augen. Ihm war so unendlich warm! Was war denn nur los?
      Bilder zuckten durch seinen Verstand, als er langsam wacher wurde. Da war Feuer und Rauch, Thomas, Glasscherben, eine Waffe. Stephen.
      Mit einem Knurren öffnete Vincent die Augen, nur um sie gleich mit einem Zischen wieder zu schließen und sich die Hände gegen die Augen zu pressen.
      "Ich werde ihn töten," grollte das Monster.
    • Die ganze Zeit über ließ Thomas seine wertvolle Fracht nicht eine Sekunde aus den Augen, während er sie und sich selbst in Noras erfahrene Obhut übergab. Die Dunkelheit des Wagens hatte Vincent irgendwann eingeschläfert, aber der Mann war eher kraftlos zusammengesackt, als dass er wirklich ordentlich eingeschlafen wäre. Idiotischerweise hatte Thomas nach seinem Puls zu fühlen versucht und sich schließlich damit zufrieden gegeben, nur seine Stirn und seine Wangen zu befühlen. Es gefiel ihm nicht, wie lange Vincent draußen gewesen war, ganz und gar nicht. Menschenblut hin oder her, selbst der gesündeste Vampir der Welt hatte seine Grenzen.
      Nora machte sich derweil daran, sich sowohl um Vincent zu kümmern, als auch um Thomas' unendlich wachsende Sorge. Der Rücken des Vampirs begann sich bereits abzuschälen und die Augen mussten auch mehr abgekriegt haben, als er vertragen konnte. Er hatte sich noch nicht einmal gegen Stephen behaupten können, so schlimm war es dann schon gewesen - und dann erst noch die Fahrt zurück. Thomas war nervös, während er sich Noras Meinung anhörte.
      "Ich habe Brandsalbe in meiner Praxis, Simon kann sie holen gehen. Es ist zwar keine ordnungsgemäße Verbrennung, aber schaden wird es nicht."
      Mehr durfte er dazu nicht beitragen, denn Nora schickte ihn gleich selbst weg. Bevor er aber ging, um sich den Schmutz des Ereignisses vom Körper zu waschen, drehte er sich noch einmal um.
      "Vielleicht hat er sich auch was gebrochen. Wir sind aus dem Fenster gesprungen, im ersten Stock, aber er hat mich abgefangen. Mir ist nichts aufgefallen, aber das muss nichts heißen."
      Dann ging er, eilig, damit er schnell wieder bei Vincent sein konnte.
      Die nächsten Stunden waren ein reines Chaos in Vincents Anwesen. Die Polizei suchte nach Thomas, der sich wiederum von Nora verstecken lassen musste, Simon machte einen Spagat dabei, ein passendes Alibi aufzustellen und die Brandsalbe zu besorgen, Thomas versuchte gleichermaßen für Esther ein paar beschwichtigende Worte zu finden und sich um Vincents Verletzungen zu kümmern. Der Vampir schlief jetzt, so wie es sein sollte, aber seine Haut wurde keinen Deut besser und er blutete auch - vielleicht von der Kugel, vielleicht von etwas anderem. Obwohl sie längst aus dem brennenden Haus und dem Tageslicht heraus waren, war er noch immer ganz heiß am Körper und schwitzte, auch wenn die Decke größtenteils weg blieb. Dafür brauchte Thomas auch nicht Noras Expertise, er konnte selbst sehen, dass Vincent ein Fieber entwickelte. Also ließ er sich seine Arzneien für Fieber zusammentragen und blieb an seiner Seite, um ihm regelmäßig mit einem feuchten Tuch die Stirn zu kühlen. Vor Sonnenuntergang kam Nora dann mit den beiden Gläsern hoch. Überraschend war, dass es ihm seit Vlad wohl schwer gefallen war, Schweineblut zu trinken. Oder eher, seit er Thomas' Blut gekostet hatte.
      "Ich kann ihn sicher irgendwie überreden", murmelte Thomas, auch wenn ihm klar war, dass es nur eine einzige, aber sehr offensichtliche Alternative für Schweineblut gäbe. Aber es schien ihm nicht richtig, Vincent jetzt trinken zu lassen. So geschwächt wie er war, war er kaum Herr seiner Sinne und Thomas musste es daher für sie beide bleiben - das konnte er nicht, wenn er an Blutverlust litt.
      "Danke Ihnen, Nora. Wirklich."
      Die Frau tätschelte Vincent gar liebevoll, dann ging sie wieder nach draußen und ließ beide alleine. Geplagt von Zweifeln und Sorge setzte Thomas sich ans Kopfende des Bettes und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, während er darauf wartete, dass Vincent aufwachen würde. Er tupfte mit dem Tuch seine Stirn nach und strich über seine Wange, als der Mann erste Regungen von sich gab und schließlich mit einer erschreckend bösartigen Stimme grollte. Thomas beugte sich über ihm und strich ihm durch die Haare.
      "Vincent..."
      Auf seine Drohung wollte er gar nicht eingehen. Es würde ihm nicht gefallen, dass Stephen am Leben und dazu noch unbehelligt war. Da musste er ihn damit nicht noch provozieren.
      "Hey... Kannst du mich ansehen? Vincent?"
      Der Vampir drückte sich die Hände auf die Augen, aber dann, nach einigem guten Zureden, blinzelte er zu Thomas hoch. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Pupillen geweitet, die Ränder ganz rot. Thomas sah ihn sich an, so gut es ging, um seine Diagnose zu stellen.
      "Wie fühlst du dich?"