In his Thrall [Codren feat. Pumi]

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • Vincent erwachte mit wesentlich mehr Elan, als er von sich selbst erwartete. Nora hatte ihn einmal mehr mit kräftiger Hand wachgerüttelt. Nun stand sie an dem Stuhl, auf den Thomas in der Nacht noch seine Klamotten geworfen hatte und faltete eben jene Kleidungsstücke, auch wenn sie sie gleich zur Wäsche geben würde.
      "Einige Ihrer Gäste sind bereits abgereist," informierte die Bedienstete ihren Arbeitgeber. "Doktor Van Helsing ist allerdings noch hier."
      Sie kannte ihn einfach zu gut.
      Vincent schlenderte rüber zu seinem Schreibtisch, nachdem er in seine Morgenrobe geschlüpft war, und setzte eine kurze Nachricht auf.

      Thomas!
      Bitte verzeih, dass ich gestern einfach eingeschlafen bin.
      Der Ball allein war schon erschöpfend. Dass wir dann noch
      die Zeit aus den Augen verloren haben, hat da nicht geholfen.
      Ich hoffe doch sehr, dass wir das einmal wiederholen können.
      Ich persönlich habe unseren Austausch sehr genossen.
      Ich denke, ich werde meinen Weg demnächst nach Cambridge
      finden. Ich habe da schon seit einer Weile etwas zu erledigen,
      das ich nur vor mir herschiebe. Vielleicht kann man sich ja zu
      einem Abendessen zusammenfinden?
      -Vincent


      Er faltete die Notiz ordentlich und übergab sie Nora mit einem zuckersüßen Lächeln. Im Gegenzug erntete er den Blick einer tadelnden Freundin.
      "Sie sollten wirklich nicht mit einem Jäger verkehren, Vincent," sprach sie ihre Sorge aus.
      "Ich weiß. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich bin eben ein Gewohnheitstier."
      Nora seufzte und nahm ihm die Notiz ab.
      "Dafür musst du dein eigenes Bad einlassen," kommentierte sie, schnappte sich die Klamotten und machte sich auf den Weg, alles zu erledigen.
      Vincent sah ihr lächelnd hinterher, bevor er in sein angrenzendes Badezimmer schlenderte, wo er sich ein warmes Bad einließ. Er würde sich heute nicht gegenüber seiner Gäste blicken lassen, das tat er nie am Tag nach dem Ball. Er hatte schon das Gerücht gehört, er selbst sei einer der Geister des Hauses. Eine der schmeichelhafteren Vermutungen, fand er.
      Das warme Wasser war ein wahrer Segen für seine erschöpften Glieder. Ein Teil von ihm trauerte dem an ihm haftenden Geruch von Zimt nach, aber hauptsächlich war er froh, den Schweiß und all die anderen Körperflüssigkeiten von seiner Haut zu waschen.
      Kaum hatte er den Kopf nach hinten an den Wannenrand gelehnt, übermannte ihn schon wieder der Schlaf. Und er hatte nicht vor, sich weiter gegen seine eigene Biologie zu wehren. Er würde den ganzen Tag verschlafen und dann die die Ruhe genießen, die in sein Heim zurückgekehrt war.

      Nora drückte die zerknüllten Klamotten ihres Arbeitgebers Esther in die Hand, die ihr unterwegs begegnete. Die junge Angestellte kam gerade mit einem Korsett und einem paar teurer Schuhe aus dem Studierzimmer des Hausherren.
      "Das gehört Ms. Brooks," informierte Nora das Mädchen. "Leg es einfach auf ihr Bett. Und dann bringst du das hier rüber zum Waschen."
      Esther nickte pflichtbewusst und machte sich sogleich an die Arbeit. Nora selbst setzte ihren Weg fort nach unten, um Doktor Van Helsing zu finden.
      Der Mann unterhielt sich gerade noch ein bisschen mit einer Gruppe, die bereit zur Abreise war. Nora wartete außer Sicht, wie es sich gehörte, bis sich das Gespräch auflöste. Sie musste sich ein Schmunzeln verkneifen als es hieß, man wollte ihren Arbeitgeber zu einem Brunch einladen. Dass die Menschen jedes Jahr aufs Neue versuchten, Vincent zu ihren gesellschaftlichen Veranstaltungen einzuladen, als ob eine Feier im Jahr sein gesamtes Verhalten auf einmal ändern würde.
      "Doktor Van Helsing?" trat Nora dann auf den Mann zu, sobald sich die Gruppe endlich trennte. "Lord Harker ist gerade unpässlich, aber er wollte Ihnen noch etwas mitteilen, bevor Sie gehen."
      Sie überreichte die gefaltete Notiz, dann wandte sie sich an Ms. Brook und teilte ihr unverfänglich mit, dass ihre Besitztümer ihren Weg zurück in ihr Schlafzimmer gefunden hatten. Auch wenn Nora wusste, was ihr Arbeitgeber so trieb, formulierte sie es doch so, dass nicht einmal Thomas wissen würde, dass Vincent seine Freundin in seinem Arbeitszimmer teilweise entkleidet hatte.
      "Kann ich den Herrschaften sonst noch irgendwie dienlich sein?"
    • Die Gruppe löste sich bald nach weiteren Freundschaftsbezeugungen auf, allerdings nicht ohne Darcys Zustimmung, dass sie beide zu jedem einzelnen Treffen kommen würden. Thomas blieb nur noch übrig zu ergänzen, falls er dafür Zeit finden würde, denn schließlich war er als Arzt ein viel gefragter Mann. Dem schloss sich der Anwalt mit einem herzlichen Lachen an, klagte fröhlich über die Arbeit, die ihn Zuhause erwarte und bezeugte der Runde, dass er sicherlich auch kein freier Mann sei. Sie gaben sich untereinander die Hände und dann zog die Gruppe auch schon ab.
      Als sich die Bedienstete ihm näherte, ließ Thomas noch einmal den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach der bekannten Gestalt. Es trübte ihn ein wenig, ihn nicht dort zu finden, wo er ihn erhofft hatte.
      "Ja, bitte?"
      Er nahm die Notiz entgegen, überflog sie, musste sie noch einmal lesen, bekämpfte seine Miene darin, ihn zu verraten. Vincent war unpässlich, aber er wollte ihn in Cambridge treffen? Der Mann, der sein Anwesen nie verließ, sich ihm jetzt nicht zeigte, schlug ein Abendessen vor? Sein Herz schlug sogleich höher, es war geradezu absehbar, aber sein Kopf stemmte sich dagegen. Das war gefährlich, so gefährlich und töricht, er konnte ihn nicht einfach in sein Zuhause einführen, wo ihn jeder kannte, wo sie jeder zusammen sehen würde. Er konnte einfach nicht.
      "Würden Sie ihm wohl etwas ausrichten?"
      Er musterte die Frau einen Moment lang, wog im Kopf ab, wie er am besten formulieren sollte, dass er seine Einladung ausschlug.
      "Sagen Sie ihm…"
      Er zögerte.
      "Sagen Sie ihm er… nun, er soll mir eine Nachricht zukommen lassen, wenn er in der Stadt ist. Wenn er nicht weiß, wo ich wohne, kann er meine Praxis kontaktieren, es gibt nur einen van Helsing in der Stadt - einen lebenden."
      Er faltete den Zettel ordentlich in der Mitte und ließ ihn in seine Hosentasche gleiten. Soviel dazu absagen zu wollen.

      "Also geben wir einfach auf?", fragte Darcy, als sie später in ihren Zimmern waren um zu packen.
      "Wir sagen einfach, er ist es nicht? Gehen wieder?"
      "Er ist es auch nicht."
      "Wie kannst du dir da so sicher sein - du, der immer predigt, dass man alle Möglichkeiten gänzlich ausschließen soll, bevor man zu einer Entscheidung kommt. Du hast ihm noch nicht einmal ein paar Fallen gestellt, wir haben so viel Silber mitgenommen!"
      Er war sich sicher, denn ein Vampir hätte kaum Sex mit ihm gehabt, geschweige denn ihn lebend davonkommen lassen.
      "Ich weiß es einfach, vertrau mir."
      Darcy blickte böse drein.
      "Es hat alles so gut gepasst, das kann nicht nichts sein!"
      "Nichts als Gerüchte."
      "Aber was für Gerüchte! Jemand, der sich in seinem Haus verschanzt, der nie an die Öffentlichkeit geht, der junge Leute zu sich lockt, der jedes Jahr zur selben Zeit ein Fest veranstaltet - das hört sich geradezu nach einem Bilderbuch-Vampir an!"
      "Denkst du denn, dass er es ist?"
      Da sah er einen Blick über Darcys Gesicht huschen, den sie sichtlich sogleich wieder zu verstauen versuchte. Sie wandte sich ab von ihm, spielte sich beleidigt auf und stopfte ihr Korsett achtlos in ihre Tasche hinein. Sie schwiegen sich eine Weile lang an, die Frage unbeantwortet im Raum hängend. Schließlich sagte sie:
      "Also zurück zu den Anfängen?"
      "Zurück zu den Anfängen", brummte er. Das bedeutete Recherche, Nachforschungen und wieder einen Haufen gesellschaftlichen Kontakt, dem er eigentlich mit der Jagd zu entgehen versucht hatte. Aber wo erfuhr man besser von mordenden Monstern, wenn nicht über Gerüchten von mysteriösen Todesfällen und verschwundenen Personen?

      Die Kutsche holte sie am Nachmittag ab. Vergeblich sah Thomas sich noch einmal nach dem Hausherren um, aber seine Unpässlichkeit schien wohl wirklich den ganzen Tag zu dauern. Er fragte sich, ob er nur sehr lange schlief, oder schlichtweg keine Lust darauf hatte, sich Thomas' Blick auszusetzen; vielleicht war es eine Mischung aus beidem.
      "Bringst du mich zu Stephen?"
      Thomas half Darcy in die Kutsche hinein.
      "Möchtest du nicht zu mir kommen?"
      Das wäre die einzige Sache gewesen, die ihn halbwegs an Sitte gebunden hätte, wenn Vincent tatsächlich nach Cambridge kam.
      "Nein, ich werde mich ein bisschen mit Verwaltung beschäftigen. Außerdem muss ich Stephen schließlich sagen, dass Lord Harker es doch nicht ist."
      Sie wirkte distanziert, wahrscheinlich noch immer schlecht gelaunt über diesen Reinfall.
      "Sicher. Ich organisiere dir was."
      Und damit ließen sie das Anwesen und die Ereignisse, die dort stattgefunden hatten, hinter sich.
    • "Natürlich, Sir. Ich wünsche eine angenehme Heimreise."
      Nora verneigte sich knapp und eilte dann davon, um sich ihren anderen Verpflichtungen zu widmen. Sie wusste, ihren Arbeitgeber jetzt noch einmal aufzusuchen, wäre sinnlos. Sie würde die Nachricht heute Abend überbringen.

      Vincent erwachte zu einem leeren Haus. Irgendwann zwischendrin war er noch einmal aufgewacht, hatte sich aber nur zurück in sein Bett begeben, um auch den Rest des Tages gebührend verschlafen zu können. Sein Bett, das noch immer nach Zimt roch. Thomas.
      Er stand am Fenster und betrachtete die sternenklare Nacht, genoss die Ruhe. Kein Tuscheln, keine ohrenbetäubenden Herzschläge. Absolute Stille. Es gab nur ihn und die Lebewesen da draußen auf seinem Anwesen. Endlich Frieden.
      Nora betrat das Zimmer ohne zu klopfen. Sie reichte ihm diverse Notizen, alle hinterlassen von seinen scheidenden Gästen, und ein Glas, gefüllt mit seinem Abendessen.
      "Van Helsing?" fragte er, als sich Nora umdrehte.
      "Hat am Nachmittag das Anwesen verlassen. Er bat mich, Ihnen auszurichten, dass Sie ihm schreiben sollen, wenn Sie in Cambridge eintreffen."
      Vincent würgte das Schweineblut in einem kräftigen Schluck herunter. Es belebte seinen ausgelaugten Körper, wenn auch nicht so gut wie Menschenblut es getan hätte.
      "Für wann soll ich diese Reise nach Cambridge organisieren, Sir?" fragte Nora.
      "Wenn ich ihm jetzt sofort hinterher renne, ist das ein bisschen auffällig, findest du nicht? Ich würde sagen... nächste Woche?"
      "Irgendwelche Gäste, die ich ebenfalls einladen soll?"
      "Nein. Aber sag dem alten Bibliothekar Bescheid, dass ich komme. Und ich bringe meine Brieftasche mit."
      Es war mal wieder Zeit, dass Vincent seine private Bibliothek aufstockte. Er hatte schon ein paar Bücher im Sinn, einige würden seine Kontakte suchen müssen. Aber es war ja nicht so, als ob er keine Zeit hätte.
      "Selbstverständlich, Sir."
      Nora ließ ihn allein mit den Notizen. Vincent überflog sie nur kurz. Hauptsächlich waren es Dankesschreiben und nocht mehr Komplimente, die allesamt in Einladungen für irgendwelche anderen Festlichkeiten endeten. Die letzte Nachricht in dem Stapel war sein eigener Brief, adressiert an Nora. Es war die Hinterlassenschaft, die er vor zwei Tagen verfasst hatte. Wie jedes Jahr gab die Frau ihm diesen Brief zurück, da nichts passiert war. Mit einem Schmunzeln warf Vincent alles in das Feuer seines Kamins.

      Eine Woche später...
      Vincent war schon lange nicht mehr in Cambridge gewesen. Viel verändert hatte sich allerdings nicht. Cambridge war eine dieser Städte, die wohl auch in einhundert Jahren noch genauso aussehen würde wie heute. Vincent schätze solche Orte. Sie gaben ihm beinahe ein Gefühl des Nachhausekommens. In seinem Leben hatte er schon viel Veränderung erlebt, da war es schön Orte zu kennen, die sich damit nicht belasteten.
      Seine Kutsche hielt vor dem kleinen Stadthaus, das er immer bezog, wenn er hier war. Einfache Hotels hatten oft nicht die nötige Ausstattung für seinen Lebensstil, daher hatte er es sich angewöhnt, sich Immobilien an den Orten zuzulegen, die er am regelmäßigsten besuchte. Was einmal alle paar Jahre bedeutete.
      An der Tür zu dem Stadthaus warteten bereits die Angestellten, die das Haus hier frei nutzen durften, solange er nicht da war. Auch sie hatte Vincent alle aus weniger guten Haushalten geholt und ihnen ein besseres Leben geboten, ohne die Einschränkungen oder Verurteilungen der Gesellschaft. Trotzdem hatte er Nora mitgebracht - er konnte einfach nicht auf ihre fähigen Hände verzichten.
      "Lord Harker! Willkommen zurück in Cambridge. Wir haben alles für Ihre Anwesenheit vorbereitet. Sie haben bereits Nachricht von Mr. Chapman. Und wir haben die Adresse des Doktors dazu gelegt."
      "Vielen Dank, Dennis. Würdest du bitte Nora helfen?"
      "Selbstverständlich, Sir."
      Der Mitvierziger schickte sich sofort an, die Treppen hinunter zu hasten und Nora mit dem Gepäck zu helfen, während sich Vincent nach drinnen begab. Er fand seinen Weg sofort in den Salon und griff sich die beiden Notizen, die dort auf dem Beistelltisch warteten. Er ignorierte den Brief von seinem Bibliothekar und betrachtete stattdessen die Adresse von Doktor Thomas Van Helsing. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.
      Er nahm beide Schriftstückte und verschwand kurz in seinem Büro im ersten Stock, wo er selbst zu schreiben begann. Wenige Minuten später händigte er Dennis einen kurzen Brief aus mit der Anweisung, ihn an Van Helsing schicken zu lassen.

      Mein lieber Thomas,

      wie von dir gewünscht sage ich dir hiermit Bescheid, dass ich meinen Weg nach Cambridge
      gefunden habe. Ich bin so frei und gebe dir die Adresse meines Stadthauses. Allerdings muss
      ich darauf bestehen, dass du sowohl meine Unterbringung, als auch meine Anwesenheit
      selbst für dich behältst. Die Menschen glauben, ich verlasse mein Grundstück so gut wie nie
      und ich würde es bevorzugen, wenn das auch so bleibt. Du hast gesehen, wie sehr sich alle
      um meine Person bemühen und ich muss ehrlich sagen: Das ist ermüdend. Ich habe dir ja
      gesagt, dass ich kein großer Freund von vielen Menschen bin.
      Wenn es deine Zeit zulässt, sollten wir uns auf ein Abendessen treffen. Ich bestimme an dieser
      Stelle, dass du der Experte in der Stadt bist und überlasse daher die Wahl der Örtlichkeit
      deinen fähigen Händen.

      Mit besten Grüßen,
      Vincent
    • Eine Woche später erhielt Thomas einen Brief, der ihn aus der wiederhergestellten Bahn seines Lebens warf.
      Er kannte die Handschrift nur vage, erkannte aber sehr wohl den Inhalt und die dazugehörige Person, die ihn verfasst hatte. Nicht zuletzt erkannte er auch die Anspielung der letzten, so unschuldig verfassten Zeilen.
      Er hatte viel darüber nachgedacht, was auf Harker Heights passiert war, wie es überhaupt dazu hätte kommen können, was es für ihn bedeutete, für seinen Ruf, für Darcy. Er hatte viel nachgedacht und hatte letzten Endes darauf gehofft, dass der Mann sich zuletzt gar nicht melden würde, dass er in seinem Anwesen verblieb und dem Ruf des zurückgezogenen Einsiedlers gerecht wurde. Ein Ruf, der ja wohl ganz anscheinend nicht der Realität entsprach.
      Aber doch saß er an diesem Morgen an seinem Tisch, hatte seine Post unter sich ausgebreitet und starrte drei Mal so lange auf dieses eine Schreiben wie auf alle anderen. Mit einem Mal war die Panik wieder zurückgekehrt, die er vor einer Woche im Studierzimmer von Harkers Anwesen gespürt hatte.
      Er konnte noch absagen. Er konnte ihm sagen, dass er sich nicht gut fühle, dass er zu viel Arbeit hatte, dass er nach Manchester gehen würde. Er konnte vorgeben, den Brief gar nicht erhalten zu haben.
      … Oder er konnte auf ein einziges Essen mit ihm gehen. Ein einziges Essen nur, ohne jede Verbindlichkeit, nur um herauszufinden, ob seine Gefühle eine einmalige Sache gewesen waren. Er konnte sich absichern, dass er sein Leben wieder unter Kontrolle bekommen würde, mit nur diesem einen Abendessen. Das war es ja schließlich auch, nur ein Essen. Sie würden sich unterhalten, die Lokalitäten genießen, ungezwungen den Abend miteinander verbringen. Etwas anderes tat er doch mit anderen Freunden auch nicht.
      Er griff, für seinen Geschmack, ein wenig zu hastig nach einem leeren Blatt Papier und setzte seine Feder zur Antwort an. Seine Hand bewegte sich eigenmächtig.

      Vincent,


      willkommen in Cambridge. Ich hatte nicht gedacht, dass es dich so schnell hierher verschlagen würde. Dann will ich dich auch nicht länger hier halten, als nötig ist.


      Ich schicke eine Kutsche vorbei, Freitagabend, sieben Uhr. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.


      Ich freue mich auf eine angenehme Unterhaltung.


      Grüße,
      Thomas

      Er musste sich darum bemühen, in einer leserlichen Handschrift zu schreiben, eine Krankheit, die jedem Arzt aufzuerliegen schien. Abgesehen davon war er recht zufrieden damit: Keine Anspielungen, keine Ausdrücke, in die man hätte reininterpretieren können, lediglich zwei Freunde, die sich auf ein Essen trafen. Und dass er den Freitag gewählt hatte, nachdem am Samstag seine Praxis geschlossen hatte, war auch nur dem reinen Zufall zu verdanken.


      Er erwartete Vincent am Freitagabend in einem kleinen Lokal mit dem Namen "Die Goldene Krone", einem Restaurant am Stadtrand, das durch seine ruhige Lage gerne für Geschäftsessen genutzt wurde. Es war ein gehobeneres Etablissement mit Stammkunden wie Anwälten und Steuerberatern, allerdings gab es keinen Dresscode und man konnte rauchen. Wenigstens war das Gesteck aus echtem Silber.
      Thomas saß bereits am Tisch, in einen dunklen Anzug gekleidet, mit dem er so aussah, als wolle er sich unter dem Rest der Gäste tarnen. Er war zwar vor Vincent angekommen, verzichtete allerdings darauf, den anderen Mann beim Eingang zu empfangen.
      Er erkannte Vincent sofort, als er hereinkam. Zu seiner eigenen Scham rutschte sein Blick sogleich an dem anderen Mann herab, überflog seinen Körper und richtete sich dann erst wieder auf dessen Augen, die ihn durch das Lokal bereits anvisiert hatten. Er rückte in seinem Stuhl zurecht, strich sich die Falten seines Anzugs glatt und setzte sein Doktoren-Lächeln auf, in dem er wenigstens genug Übung beherrschte, um es gänzlich zu meistern.
      "Vincent. Sind Sie - bist du gut angekommen? Ich hoffe, dir macht es nichts aus, dass man noch ein Stück rausfahren muss, um hierher zu kommen; das Zentrum erschien mir unpassend, da pöbeln die Leute gerne, wenn es spät wird."
      Er wies ihm mit einer Geste den anderen Stuhl zu, konnte sich nicht davon abbringen, jede einzelne Bewegung des anderen in sich aufsaugen zu wollen. Die Gedanken kamen bei seinem Anblick schon wieder, drängten sich in sein Bewusstsein, als wollten sie sich dort einnisten.
      "Das Essen geht auf mich, ich bestehe darauf. Bestell dir, was auch immer dein Herz begehrt. Wann bist du in Cambridge angekommen?"
    • Vincent verbrachte seine Woche entspannt. Hier und da traf er sich mit ein paar alten Bekannten und suchte sich neue Stücke für seine Bibliothek in Harker Heights. Er verbrachte auch viel Zeit in der Universitätsbibliothek, in die sie ihn reinließen, als gehöre ihm die ganze Universität. Nicht zuletzt wegen seines Charmes, aber hauptsächlich lag dieser warme Empfang doch daran, dass er regelmäßig große Summen spendete.
      Am Freitagabend dann wagte sich Vincent an einen Ort, den er noch nicht kannte, um sich mit Thomas zu treffen. Dank der Tatsache, dass es bereits November war, war sieben Uhr keine Uhrzeit, die er nicht bequem einhalten konnte.
      Im Restaurant erklärte er, er sei hier, um sich mit einem gewissen Van Helsing zu treffen, doch noch bevor man ihn zum richtigen Tisch geleiten konnte, hob er die Hand. Er hatte Thomas schon erspäht und suchte sich seinen Weg nun allein.
      "Zwei Tage und du kennst mich schon so gut? Ich muss wirklich leicht zu durchschauen sein," scherzte Vincent, öffnete den Knopf an seinem Jackett und setzte sich, die Beine entspannt überschlagen.
      "Montag Abend. Später Abend, das Wetter auf der Reise hier her war ein bisschen launisch. Und du! Sagst, du willst mich nicht länger hier behalten als nötig und dann vertröstest du mich auf das Ende der Woche?"
      Vincent schmunzelte, seine Worte nichts weiter als eine kleine Stichelei.
      "Was das Essen angeht werde ich es genauso halten, wie mit der Wahl des Lokals hier: Ich vertraue deinem Urteil. Ich war schon ewig nicht mehr auswärts essen, muss ich gestehen. Aber genug über mich. Wie ist es dir so ergangen in der letzten Woche? Viel zu tun, nehme ich an?"
      Vincent spürte die verstärkte Anwesenheit von Silber im Raum. Wahrscheinlich das Besteck. Solange er nicht damit in Kontakt kam, war alles in Ordnung, aber beim eigentlichen Essen würde er aufpassen müssen. Mit den Kopfschmerzen konnte er umgehen, aber sollte ihm schlecht werden... das könnte ein ernsthaftes Problem darstellen.
    • "Ich stelle meine Arbeit über alles andere", erläuterte Thomas knapp, auch wenn Vincents Bemerkung gar nicht ernst gemeint gewesen war. Allerdings fiel ihm just in diesem Moment auf, dass er nichtmal die Wahrheit sprach - gut erkennbar an der Tatsache, dass er sich auf dem Fest auch lieber einer anderen Sache gewidmet hatte statt seiner Arbeit. Aber das wusste Vincent ja nicht.
      Der Anblick des anderen Mannes in seiner so entspannten Haltung störte ihn. Es störte ihn, dass er ihn so viel mehr begehrte als jemals einen anderen Mann zuvor und es störte ihn, dass er und Vincent das wussten. Es störte ihn, dass es ihm so schwierig war den Schein aufrecht zu halten, als hätte der andere etwas an sich, das dafür sorgte, dass seine so vorsichtig erbauten Schutzmaßnahmen Risse bekamen. Es störte ihn, dass er es nicht schaffte, sein Verlangen gänzlich zu unterdrücken.
      Er räusperte sich.
      "Oh, viel zu tun, ganz sicher. Die Arbeit nimmt nicht ab, wenn ich Urlaub habe, sie schiebt sich nur auf und wartet darauf, dass ich wiederkomme. Ich lebe quasi dafür."
      Das tat er wirklich, wobei er weniger die Arbeit als Arzt meinte. Allerdings war die andere Arbeit etwas, worin er Vincent erst einweihen würde, wenn er sich sicher sein konnte, dass der andere ihn auch ernst nehmen würde.
      Der Kellner kam, strahlte sie beide an, leierte ihnen die Empfehlung des Tages herunter. Thomas ließ ihn ausreden, bevor er ihnen eine Flasche Wein kommen ließ, selbstgebrannter Hauswein, und den Hauptgang auch gleich bestellte: Ein zartes Filet in Sahnesauce, serviert mit Kartoffeln. Der Kellner sprach ein Lob aus, ehe er davonstolzierte und Thomas' Blick sofort wieder auf Vincent übersprang. Normalerweise hätte er diesem Mann womöglich nachgesehen, jetzt hatte er keinen Grund dazu.
      "Darf ich dich fragen, weshalb du niemanden wissen lassen möchtest, dass du das Haus verlässt? Es ist mir nicht ganz verständlich. Du schürst doch nur die Gerüchte, die man sich über dich erzählt; viele behaupten ja sogar, dein Verhalten sei… verdächtig, um es gelinde auszudrücken."
      Er vermied, den eigentlichen Verdacht beim Namen zu nennen. Zum Schluss würde er noch erklären müssen, dass er ihn anfänglich für einen Vampir gehalten hatte.
    • Der Kellner war durchaus ansehnlich, aber Vincent ignorierte ihn geflissentlich. Er hatte nur Augen für sein Gegenüber.
      "Verdächtig?" grinste er. "Wessen mache ich mich denn verdächtig, wenn ich nicht an den gekünstelten Gesellschaften teilnehme, bei denen es bloß um Schwanzvergleiche für die Herren und Bullenschau für die Damen geht? Ich sagte es dir bereits: Ich schätze meine Privatsphäre. Ich reise gern - auch wenn die weite Welt der Überzeugung ist, dass ich mich das ganze Jahr lang in meinem Haus verkrieche. Ich bin der Meinung, dass ich meinen Teil schon beitrage, indem ich für diese ganzen Gerüchte sorge, über die sich dann die feinen Gesellschaften das Maul zerreißen können."
      Kaum war er nicht mehr in besagter feiner Gesellschaft, schon kam sein herbes Vokabular zum Vorschein, das er in den letzten Jahrzehnten gut geschult hatte. Vincent konnte mit den Regeln der Sitte so gekonnt umgehen, dass er selbst mit solchen derben Aussagen durchkommen konnte, wenn er denn nur wollte. Aber gegenüber Thomas hielt er es nicht für nötig, sich diese Mühe zu machen. Er hatte die privatesten Teile dieses Mannes gesehen und ihm einige der privatesten Teile von sich selbst gezeigt, was waren da schon ein paar wohlformulierte Meinungen?
      "Ich meinte meine Frage übrigens ernst: wessen werde ich verdächtigt? Du kriegst mehr Gerüchte mit als ich."
    • Kaum, als Vincent in seinen Redefluss startete, legte er auch schon völlig die gestelzte Redeform ab, die sonst so gebräuchlich war. Thomas konnte nicht herum seine Überraschung zum Ausdruck zu bringen und die Augenbrauen hochzuziehen. Er kannte den Mann nicht, ein einziges Fest war wohl kaum genug um jemanden wirklich zu kennen, aber das hätte er nicht erwartet. Auf ihn wirkte Vincent wie jeder andere Gentleman, wenn auch vielleicht ein wenig auf seine ganz eigene Art und Weise. Wie er aber jetzt redete, grenzte schon fast an Unsittlichkeit.
      "Das ist eine äußerst… spezielle Sicht auf die Dinge", murmelte er und beschäftigt sich für einen Moment damit, seine Hose glatt zu streichen. Es bereitete ihm Unbehagen, in aller Öffentlichkeit eine solche Wortwahl zu hören.
      Erst bei seiner Frage sah er wieder auf, zögerte für einen Augenblick, ehe er sprach.
      "Hauptsächlich machst du dich zu einem Mysterium, eine Rarität, wenn man es so will. Aber deine Angewohnheiten sind schon äußerst verdachtserregend für Vampirismus. Kennst du dich damit aus?"
      Er beobachtete Vincents Reaktion etwas aufmerksamer, um abzuwägen, was er von diesem Thema hielt.
    • Vincent tat sich schwer damit, ein schallendes Lachen zu unterdrücken, was in einem schrecklichen Grunzen endete, das wiederum zu einem kleinen Hustenanfall führte, weil sich Vincent verschluckte. Er musste sich ein paarmal auf die Brust hauen, um wieder richtig Luft zu bekommen.
      "Alles, was ich über Vampire weiß, habe ich aus La Morte Amoreuse von Théophile Gautier. Keine Lektüre, mit der ich in den hochwohlgeborenen Kreisen hausieren gehen würde, wenn du mich fragst. Ich kann es dir gern einmal ausleihen, wenn du möchtest - allerdings würde ich dir empfehlen, es von Darcy fernzuhalten, die kommt sonst noch auf interessante Ideen, von denen wir beide wissen, dass sie nicht dein Fall sind."
      Vincent zwinkerte dem Mann zu, dann kehrte sein charmantes Lächeln zurück, als der Kellner mit der Weinflasche wieder an ihren Tisch herantrat. Glücklicherweise verschwand der Mann gleich wieder.
      "Ich bin also ein 'Vampir', ja? Klär mich auf. Was bedeutet das? Fresse ich Babys? Verführe ich junge, gut aussehende und gut betuchte Junggesellinnen bis sie sich dem Teufel verschwören?"
      Jetzt war er wirklich gespannt, was Thomas zu sagen hatte. Was hatte man dem neusten Van Helsing über sein Erbe erzählt? Was wusste er? Vincent überlegte sogar, ob er das als Einstieg für ein völlig anderes Gespräch nutzen konnte. Aber vorerst wollte er nur zuhören, während er an seinem Wein nippte.
    • Vincents Ausfall, was sich wie ein unterdrückter Anfall anhörte, hatte eine nüchterne Wirkung auf Thomas. Seine Arbeit - seine richtige Arbeit - stieß kaum jemals auf offene Ohren, geschweige denn auf Verständnis oder aufrichtiges Interesse. Es gab schon einen Grund, weshalb er bevorzugte, das Thema in der Regel totzuschweigen, und Vincents Reaktion war genau dieser Grund.
      "Die Erzählungen der Literatur entsprechen wohl kaum der Realität", brummte er und bereute schon, das Thema überhaupt auf den Tisch gebracht zu haben. "Sie sind zu überspitzt, um des Dramas Willen. Ich lese sie schon gar nicht mehr."
      Er wandte den Blick von Vincent ab, mochte es nicht, dass er andere scheinlichst seinen Spaß daran zu finden schien. Es war ein wesentlich ernsteres Thema, als Thomas es sich hätte anmerken lassen wollen.
      "Du ernährst dich von Blut, bist ein Nachttier, meidest die Sonne. Deine Sinne sind ausgeprägt, deine körperlichen Fähigkeiten übermenschlich, du folgst dem natürlichen Jagdtrieb eines Raubtieres. Gewisse Dinge... reizen deinen Jagdinstinkt, wie bei einem Wolf oder einem Bären. Blutgeruch, um ein ganz makaberes Beispiel zu nennen."
      Er nippte von seinem Wein, machte ein finsteres Gesicht.
      "Wenn dich das nicht interessiert, müssen wir nicht darüber reden, Vincent. Ich habe nicht vor, dich einem Thema auszusetzen, das dir ganz anscheinend lächerlich vorkommt. Am Ende des Tages sind es ja alles nur Gerüchte über dich, wie man wohl zweifellos erkennen kann."
      Er lehnte sich ein Stück zurück, hoffte fast, dass das Essen schon auftauchen würde. So hatte er sich sein Wiedersehen mit Vincent nicht vorgestellt.
    • Wer auch immer Thomas ausgebildet hatte, hatte ordentliche Arbeit geleistet. Thomas war tatsächlich recht gut informiert.
      "Du missverstehst meine Reaktion, Thomas. Ich habe durchaus Interesse an diesem Thema. Ich sagte doch, dass ich dem aktuellen Trend erlegen bin und mich mit dem Okkulten beschäftige. Hommel, ich habe dir gesagt und gezeigt, dass es in meinem Haus wahrhaftig spukt. Glaubst du da wirklich, dass ich derartige Aussagen nicht mit wenigstens ein wenig Ernst betrachte? Ich finde es ehrlich gesagt faszinieren, dass du genug über das Thema weißt, um bestimmt Fakt von Fiktion unterscheiden zu können. Wirklich beurteilen kann ich das zwar nicht - wie gesagt, ich habe ein Buch darüber gelesen - aber du wirkst, als wüsstest du, wovon du da sprichst. Alles, was ich tun kann ist, dir zu sagen, dass ich mich nicht von menschlichem Blut ernähre. Und ja, ich bin ein Nachtschwärmer, ich gebe es ja zu."
      Lächelnd zuckte Vincent mit den Schultern. Dass dieses Gespräch jetzt schon eine solche Gradwanderung war...
      "Bitte, erzähl mir mehr. Ich will wissen, was dich so interessiert. Und..." ein etwas verschlagenerer Ausdruck huschte über sein Gesicht. "Ich höre dir gern zu. Voller Eigennutz also, wenn du weiter erzählst."
      Er verbarg sein Gesicht hinter seinem Weinglas und als er sich wieder zurücklehnte, war er wieder ganz der charmante Gentleman.
    • Thomas wusste nicht, was er genau davon halten sollte, dass Vincent eine solche Erklärung von sich gab. Vielleicht interessierte er sich ja wirklich dafür, vielleicht sagte er aber auch nur das, wovon er wusste, dass Thomas es hören wollte; oder vielleicht hielt er ihn insgeheim zum Narren. Es war unmöglich aus diesen hellen Augen etwas herauslesen zu können und Thomas wünschte, dass er ihn besser kennen würde, um seinen Blick richtig deuten zu können.
      "Du musst mich nicht für naiv genug halten, um mir etwas vorzuspielen. In deinem Geisterhaus lebt ein ganz eigener Vampir, Verona, die sich schon eine ganze Weile dort eingenistet hatte, nach deiner Aussage. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du nicht ein Wort mit ihr über ihre Art gewechselt hast."
      Er bediente sich an seinem Wein.
      "Wenn du dich wirklich dafür interessierst, erzähle ich dir was, aber halte mich nicht zum Narren."
      Er ließ sich von Vincents feinem Lächeln ein Stück erwärmen, konnte gar nichts dagegen tun, dass es sein Herz berührte. Er strich sich über sein Hemd.
      "Vampire und Menschen sind sich gar nicht so unähnlich, wie Bücher und Theater es vorschreiben wollen. Tatsächlich ist die Grenze zwischen beiden sogar recht dünn, wenn man einmal von den offensichtlichen anatomischen Unterschieden absehen möchte. Beide sind instinktgetriebene Lebewesen, die dieselben täglichen Grundbedürfnisse zu erfüllen haben und zusätzlich die Bedürfnisse besitzen, die mit einem intelligenten, selbstverwaltendem Verstand einhergehen. Gesellschaft wie das hier ist ein Bedürfnis davon, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es sowas ausgeprägtes bei Vampiren auch gibt. Bestimmt in irgendeiner abgeschwächten Form. Blut ist das einzige, das ihrem Körper Mineralstoffe zuführt, denn alles andere stößt er ab. Sonnenlicht verursacht auf unerklärliche Weise Verbrennungen, wobei ich die Theorie besitze, dass das etwas mit der Bluteinnahme zu tun hat. Der Körper entwickelt sich einfach anders durch die begrenzten Mineralien, da sterben die Zellen bei Sonnenlicht schneller ab, als sie sich neu generieren können. Das ist aber nur eine Theorie - ich bin nur Arzt und kein Wissenschaftler."
      Er sah auf, als der Kellner - so schnell wie üblich - mit dem Essen wiederkam. Mittlerweile hatte er Vincent seinen Ausfall schon fast wieder verziehen.
      "Es ist schwierig das eine vom anderen zu unterscheiden, aber nicht unmöglich. Wenn du es ganz sicher wissen willst, dann bring ihn ins Sonnenlicht. Nur hört sich das allein schon einfacher an, als es in Wahrheit ist."
      Er griff zum Besteck, um sich über das Fleisch herzumachen.
    • Bei dem Gedanken an Verona huschte eine gewisse Traurigkeit über Vincents Gesicht.
      "Ich muss gestehen, von dieser Kreatur halte ich mich weitestgehend fern. Und wenn sie auftaucht, verscheuche ich sie meistens sofort. Sie ist keine gute Gesprächspartnerin."
      Er musste sich nicht einmal verstellen, als er die Erinnerungen an Verona und wie sie zu seiner Mitbewohnerin geworden war, wieder beiseite drängte. Viel lieber lauschte er Thomas' Erzählungen über das, was er über Vampire zu wissen glaubte.
      Er fand direkt kleinere Details, die nicht mit seiner Realität übereinstimmten. Er musste sogar den Drang niederkämpfen, den Van Helsing Erben zu korrigieren. Sollte er ruhig an seinen Theorien festhalten. Je ineffizienter diese Jäger waren, desto besser.
      "Das kann ich mir gut vorstellen. Man zerrt ja nicht einfach jemanden in den eigenen Garten oder dergleichen."
      Vincent betrachtete sein Abendessen, während er nach dem Wasserglas griff. Er wollte den Geschmack, den der vorzüglich ausgewählte Wein in seinem Mund hinterlassen hatte, erst wegspülen, bevor er sich dem gut aussehenden Essen zuwandte. und den Problemen, die das Silberbesteck mit sich bringen würde.
      Mit einem perfekten Pokerface griff er sich das Besteck und probierte, genau wie Thomas, das Fleisch zuerst.
      "Mh! Thomas! Würde ich dich schon länger kennen, würde ich dir jetzt übel nehmen, dass du mich nicht früher mit hier her genommen hast. ich werde dem Koch meine Komplimente ausrichten lassen!"
      Seine Fingerspitzen kribbelten bereits, kaum hatte er das Besteck angefasst. Ein paar Minuten, dann würde er die ersten wirklichen Symptome zu spüren bekommen.
      "Aber zurück zum Thema: Woher weißt du eigentlich so viel über Vampire? Hast du etwa auch den Geist einer solchen Kreatur in deinem Haus? Ich nehme mal nicht an, dass du einer bist. Ich meine, du warst mit mir in meinem Frühstückssaal, als ich die Vorhänge geöffnet habe. Und wir sitzen hier gerade gemeinsam beim Essen."
      Die Balance zwischen echtem Interesse und falscher Unwissenheit zu finden, war ein kleines Kunststück. Vincent überlegte dreimal, welche Worte er hier benutzte. Wesentlich anstrengender, als er erwartet hatte.
    • Vincents unverfrorene Begeisterung über das Essen schaffte es doch letztendlich, Thomas wieder ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Er sah zu dem anderen auf, während er kaute, und nutzte den Moment, in dem Vincent auf seinen eigenen Teller hinabstarrte, um dessen Gesichtszüge zu mustern.
      "Schön, dass es dir schmeckt. Ich kenne einen Anwalt, der mich alle paar Wochen hierher verschleppt - oder wohl eher kennt Darcy eine Freundin einer Frau eines Bruders eines Anwalts. Diese Frau könnte mit ihren Bekanntschaften ein ganzes Netzwerk aufziehen."
      Wieso hatte er ihn eigentlich nicht zu sich nachhause eingeladen? Wie dumm das gewesen war! Hier in der Öffentlichkeit konnte er ja nicht mehr von sich geben, als einen flüchtigen Blick. Dabei genoss er die Gesellschaft des anderen wirklich sehr, mehr noch als das Gespräch.
      "Wenn ich einen Geist in meinem Haus habe, hat er sich noch nicht so offen gezeigt wie Verona. Und ein Vampir bin ich auch nicht, dafür würde mir dieses Besteck zu sehr weh tun."
      Er hob die Gabel ein wenig an, wie um zu demonstrieren.
      "Nein, sagen wir, es ist ein auf beruflicher Basis begründetes Hobby. Ich bin ein religiöser Mann, musst du wissen - abergläubisch sogar, wie manche lästern würden - und daher ist mir auch alles wichtig, was von der Kehrseite von Gottes Schöpfungen kommt. Wir können nicht nur stets die guten Seiten betrachten."
      Er griff wieder zu seinem Weinglas zurück, beobachtete Vincent für einen Moment. Er könnte sich noch dran gewöhnen, den anderen bei sich sitzen zu haben.
      "Es gibt allerdings auch eine gute Sache dabei: Die Zahl der Vampire in der Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken. Man möchte meinen, dass die Jäger eine gute Arbeit leisten."
      Er lächelte des Selbstlobs wegen ein wenig in sich hinein.
    • "Nichts gegen Darcy, ich bin mir sicher, sie ist eine wundervolle Frau. Aber mit so vielen Kontakten ist ihr Talent als Buchhaltering völlig verschwendet. Sie sollte eine Zeitschrift gründen. Klatschpresse. Damit würde sie sich ein goldenes Näschen verdienen."
      Es war schon ein bisschen seltsam, so mit jemand anderem zusammenzusitzen und einfach nur zu reden. Normalerweise, wenn Vincent andere Menschen traf, ging es hauptsächlich um das Geschäft. Hier und da gab es natürlich ein bisschen Smalltalk, aber er traf sich nur selten mit jemandem zu einem ernstgemeinten Abendessen. Er konnte nicht behaupten, dass er das hier nicht genoss. Wäre da nur nicht...
      "Warte... Das hier ist Silberbesteck, oder? Oh nein."
      Vincent legte das Besteck schnell beiseite und betrachtete seine Hände, als hätte er nicht gewusst, aus welchem Metall die Teile geformt worden waren.
      "Immer, wenn ich Silber anfasse, bekomme ich diesen Hautausschlag. Entschuldige, das ist kein Thema für ein Essen. Aber sieh nur."
      Er hielt Thomas seine Hände hin, die tatsächlich leicht gerötet waren.
      "Ich bin nicht in der Materie drin, ich habe keine Ahnung, warum das so ist*. Ich gehe mir lieber mal die Hände waschen."
      Er winkte einen Kellner heran und fragte nach einer Möglichkeit zum waschen. Da das Restaurant ein sehr nobles war, hatten sie dankenderweise richtige Toiletten. Vincent verschwand für einen Augenblick von ihrem gemeinsamen Esstisch.
      Sich die Hände zu waschen würde nur wenig helfen. Zwar könnte man seine Reaktion auf Silber als Allergie bezeichnen, aber es war wesentlich einfacher eine solche zu behandeln. Die einzige Behandlung gegen seine Schwäche für Silber war Blut. Die Lösung für all seine Probleme. Hier an welches zu kommen, war unmöglich. Er würde also warten müssen, bis er wieder in seinem Stadthaus einkehrte. Es sollte gehen, solange er nicht noch mehr mit dem Silber in Kontakt kam.
      Als er sich wieder zu Thomas an den Tisch setzte, war er ein absolutes Unschuldslamm. Er wurde ein bisschen kreativ: Er wickelte seine Serviette um die Gabel und sein Einstecktuch um das Messer.
      "Lach mich bitte nicht aus. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe nur wenig Lust, mich morgen den ganzen Tag zu kratzen, bis ich blute. Kann man da nicht irgendetwas unternehmen? Du, so als Arzt, hast da doch bestimmt eine Ahnung?"










      *Allergien wurden als solches erst im 20. Jahrhundert entdeckt/erkannt. Heuschnupfen macht allerdings seit ca. 1859 die Runde
    • Thomas sah alarmiert auf. Er hätte nicht zwei Mal über die zweideutige Reaktion auf Silber nachgedacht, aber die Rede von einem Hautausschlag weckte den Arzt in ihm - besonders, wenn es um einen Menschen ging, der ihm in gewisser Weise nahe stand.
      "Tatsächlich?"
      Er besah sich Vincents Hände kritisch, musterte die Verfärbung auf der Haut, suchte nach ihm bekannten Symptomen. Zumindest schien die Haut keine Blasen zu bilden und auffällig rote Punkte gab es auch nicht, nur eine sichtbare Reaktion auf das Besteck.
      "Das ist wirklich ungewöhnlich. Bitte, geh nur."
      Er sah Vincent nach, bis er verschwunden war, und blickte dann auf den Tisch zurück. Das Silberbesteck zog seine Aufmerksamkeit fast magisch an.
      Er hatte noch nie einen Fall erlebt, dass auf Silber so stark reagiert wurde - auf Metalle schon, aber Silber allein war äußerst ungewöhnlich. Vielleicht war Vincent ja zur Hälfte ein Vampir, das wäre eine wirklich komische Zusammensetzung. Dann wäre diese Reaktion aber zumindest einfach erklärbar.
      Aber damit konnte er es nicht begründen. Wie unhöflich, im Zusammenhang mit Vincent überhaupt noch über solche Dinge nachzudenken! Es war doch klar, dass Vincent kein richtiges Silberbesteck Zuhause besaß, wenn er so darauf reagierte, und es war auch klar, dass er seine Gänge dunkel hielt, wenn er ein Nachtschwärmer war, so wie er gesagt hatte. Jetzt wieder damit anzufangen war in etwa so, als würde Thomas ihn der Lügen bezichtigen und das würde er einem Freund niemals antun. Es gab sicher eine einfache und plausible Erklärung dafür, die er nur finden musste.
      Als Vincent zurückkam und sich wieder setzte, hatte Thomas noch immer seine ernste Miene aufgesetzt.
      "Ich würde mich niemals über eine Kondition lustig machen, Vincent, egal wie selten sie sein mag. Zeigst du mir deine Hände nochmal?"
      Er streckte seine Hand fordernd aus und ließ Vincent seinen Handrücken darin platzieren, ehe er einen weiteren prüfenden Blick auf seine Handfläche warf.
      "Es fängt also an zu jucken, wenn du zu lange Silber in der Hand hälst? Gibt es auch andere Symptome - Übelkeit, zum Beispiel? Oder schmerzt es?"
      Er ließ seine Hand wieder los, betrachtete das in die Tücher gewickelte Besteck.
      "Ich würde es mit einer Salbe versuchen, davon habe ich genug Zuhause. Außerdem wäre es wohl angemessen, wenn du Handschuhe trägst, damit du die Haut nicht unnötig reizt. Aber genug davon! Sag mir nur, wenn es zu unerträglich für dich wird, dann können wir gleich gehen. Wenn ich das nur gewusst hätte, hätte ich ein anderes Lokal ausgesucht."
    • Da präsentierte Vincent dem Mann die Symptome für einen Vampir, der Silber angefasst hatte, im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Silbertablett und alles, woran Thomas denken konnte, war sein ärztlicher Rat. Das konnte doch nicht nur Unwissenheit sein. Innerlich musste Vincent breit grinsen: Er hatte den guten Doktor gehörig um seinen Finger gewickelt.
      "Ich bitte dich, wir müssen deswegen doch nicht verschwinden und uns ein gutes Essen entgehen lassen. Dann sind meine Hände eben ein bisschen rot jucken ein wenig. Das sind übrigens meine einzigen Symptome und sie treten auf, sobald ich Silber anfasse. Je länger ich es berühre, desto schlimmer wird es und desto länger halten die Symptome an. Ich schlage vor, wir genießen das Essen, unterhalten uns noch ein bisschen, und dann gehen wir zu dir, damit du dich um meine Hände kümmern kannst."
      Vincent zog seine Hand zwar zurück, stellte dabei aber sicher, dass er sanft über die von Thomas strich. Süßer, naiver Thomas. Zum Anbeißen.
      Vincent widmete sich wieder seinem Essen, unbekümmert über den seltsamen Anblick, den er bieten musste. Seine generelle Anonymität kam ihm gerade sehr gelegen. Und das Essen war wirklich köstlich.
      Als der Kellner zum Abräumen kam, bat er den jungen Mann darum, dem Koch seine Grüße und sein Kompliment zu übermitteln. Der Kellner strahlte von einem Ohr zum anderen, als wäre er der Koch.
      "Bleiben wir noch auf einen Nachtisch oder willst du mich gleich entführen, Herr Doktor?" fragte er, als der Kellner sich von dannen machte, um seinen Auftrag auszuführen.
      Vincents Aufmerksamkeit lag darauf, sein Einstecktuch wieder ordentlich zu falten und dorthin zurück zu packen, wo es hingehörte.
    • Thomas lehnte sich wieder zurück, ließ noch einmal den Blick über Vincents Hände schweifen, über das Silberbesteck in seiner Serviette. In diesem Moment war es ihm sogar regelrecht unangenehm, über seine Arbeit nachzudenken, als würde sie ihn überall hin verfolgen. Vincent war kein Vampir, er hatte einfach nur eine äußerst seltene Krankheit. Thomas würde sich nicht weiter mit diesem skurrilen Gedanken befassen. Seine Hand prickelte noch immer von der zarten, aber überaus deutlich spürbaren Berührung.
      Als sie ihr Essen beendet hatten, hatte Thomas endlich seine lästerlichen Gedanken in den Hintergrund gedrängt und musterte Vincent wieder mit seiner beflügelten Neugier. Der Mann war durch und durch ein Gentleman, es war gar nicht vorzustellen, dass er vorhin noch eine solche schroffe Wortwahl genutzt hatte. Er war sogar so perfekt, dass seine unschuldige Wortwahl ein Feuer in Thomas entfachte, das er sofort wieder auslöschte.
      "Ich werde dich gleich entführen, ich setze dich doch nicht länger diesem Besteck aus. Außerdem habe ich auch [b]Zuhause einen Nachtisch, wenn du unbedingt darauf bestehen solltest.[/b]"
      Er bemerkte seine eigene Formulierung zu spät, als sie schon seinen Mund verlassen hatte, und räusperte sich schnell.
      "Ich meine tatsächliche Süßspeisen, nicht... Grins nicht so! Du weißt doch genau, wie ich das meine."
      Er winkte den Kellner erneut heran, bezahlte großzügig, wies dann Vincent an, vorzugehen. Zum Schluss hätte er sich noch seinem verschlagenen Blick ausgesetzt und so konnte wenigstens er derjenige sein, der Vincents Rückseite für einen kurzen Moment musterte.

      Das Anwesen der van Helsing Familie - von der nur noch einer übrig war - war ein alleinstehendes, zweistöckiges Haus mit einem prächtigen, von Hecken eingesäumten Garten und einer kunstvollen, wenn auch kleinen Einfahrt. Das Haus selbst war mit riesigen Fenstern ausgestattet, besaß im ersten Stock einen ausladenden Balkon, der einmal ringsrum ging, und hatte auf der Südseite eine kleine Terrasse, die von einem Baldachin abgeschirmt wurde. Zu dieser späten Jahreszeit waren die Pflanzen schon größtenteils eingeschrumpft, aber die Hecken waren noch immer blickdicht und die gewaltige Eiche, die links der Auffahrt stand, hielt sich auch noch recht tapfer. Allerdings würde das spätestens dann vorbei sein, wenn der erste Schnee fiel.
      Die Kutsche ließ sie vor der Tür aussteigen, wo Thomas die wenigen Stufen nach oben stieg und nach seinem Schlüssel fischte. Als er aufsperrte, warf er Vincent einen Blick zu.
      "Am besten benutzt du keine Türklinken - oder fass lieber gar nichts an, wir wollen nichts riskieren."
      Er schwang die Tür auf, trat beiseite und machte eine einladende Geste.
      "Bitte, nach dir, nur hereinspaziert."
      Das Haus war kleiner als das Anwesen auf Harker Heights, dafür hatte es andere Vorzüge. Die Räume waren allesamt mit mindestens einer Fensterfront ausgestattet, riesige Fenster, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten und damit zu jeder Tageszeit eine Menge Licht hereinließen. Es gab Elektrizität, mindestens eine Lampe in jedem Zimmer, und sogar ein Telefon stand auf einem kleinen Tisch im Eingangsflur. Der Gang führte geradewegs auf die Treppe zu, hatte allerdings zu beiden Seiten hohe Durchgangsbögen, die bereits in andere Räume führten.
      Als sie eintraten, kam ihnen sofort eine von Thomas' drei Bediensteten entgegen: Elizabeth, eine kleine Frau Mitte 60, die ihr ganzes Leben schon im Dienst der van Helsing verbracht hatte. Nachdem sie auch schon da gewesen war, als Thomas zur Welt gekommen war, gehörte sie quasi zur Familie.
      "Ach, du bist es Thomas, ich dachte mir schon, dass ich doch was gehört habe."
      "Um Himmels Willen, Beth, geh doch ins Bett!"
      "Aber doch nicht, wenn Besuch da ist!"
      Sie stellte sich mit einem mütterlichen Lächeln vor Vincent auf und streckte die Arme nach seiner Jacke aus.
      "Darf ich Ihnen behilflich sein, junger Mann?"
      Thomas schürzte die Lippen.
      "Als dein Arzt befehle ich dir, ins Bett zugehen."
      "Ja ja, mach du nur. Möchten die Herren etwas trinken?"
      "Wir haben alles, was wir brauchen, geh schon. Hier entlang, Vincent."
      Er legte Vincent die Hand sachte auf die Schulter, als hätte er Angst ihn zu verbrennen, wenn er zu viel Druck ausübte, und führte ihn in den linken Raum, der sich als hohes Wohnzimmer entpuppte. In der Mitte stand eine lange, den riesigen Fenstern zugewandte Couch, eine Reihe ordentlich eingeräumter Bücherregale säumte die Wände und auf der gegenüberliegenden Seite stand sogar ein kleiner, wenn auch alter Flügel.
      Thomas dirigierte Vincent zu dem Sofa.
      "Möchtest du denn etwas zu trinken? Ansonsten werde ich die Salbe holen gehen. Zeig mir nochmal deine Hände."
    • Vincent hörte definitiv nicht auf zu grinsen. Thomas war manchmal so versteift darauf, die Sitte zu bewahren, dass er gar nicht mitbekam, wie weit er für ein geschultes Gehört daneben lag.
      "Oh, bitte. Entführ mich nur, ich werde auch nicht die Polizei rufen," scherzte er.
      Er folgte Thomas' Aufforderung und verließ gemeinsam mit dem Mann das Restaurant, dessen Namen er sich sofort merkte. Silberbesteck hin oder her, das Essen war vorzüglich gewesen.

      Der Weg zum Anwesen der Van Helsings war nicht neu für Vincent. Genauso wenig wie der Anblick des Hauses. Doch wie schon das letzte Mal, als er hier gewesen war, kam er nicht umhin, die Architektur zu bewundern. Das Haus schrie förmlich hinaus in die Welt, dass hier Vampirjäger lebten, mit all seinen Fenstern.
      Er lächelte und folgte dem Herrn des Hauses hinein.
      Die alte Beth war wirklich herzallerliebst. Vincent schlüpfte aus seinem Mantel und reichte ihn der alten Dame, ganz wie sie es von ihm verlangte.
      "Vincent Caley," stellte er sich vor, nachdem Thomas das nicht übernahm.
      Sicher, man musste sich dem Personal eigentlich nicht vorstellen, aber es war schwer, Jahrzehnte alte Angewohnheiten einfach abzulegen.
      Viel weiter kam Vincent allerdings nicht, bevor Thomas ihn tatsächlich einfach entführte. In ein hübsches Wohnzimmer, wie er bemerken musste. Der Flügel erregte dabei den Großteil seiner Aufmerksamkeit. Er hätte nicht gedacht, dass das alte Ding noch existierte.
      "Spielst du?" fragte Vincent, der den Wink mit dem Zaunpfahl und dem Sofa vollkommen ignorierte.
      Er reichte Thomas zwar seine Hand, schlenderte aber hinüber zu dem Piano. Er tippte eine Taste mit dem Finger an und lauschte. Das Ding könnte mal wieder gestimmt werden, stellte Vincent fest.
      Dann aber schob er sein Interesse an dem Instrument beiseite und wandte sich wieder Thomas zu.
      "Und, Herr Doktor? Wie lautet Ihre Diagnose?"
    • Thomas ließ seinen Blick selbst über das Klavier streifen, aber nur äußerst flüchtig.
      "Oh nein, dafür habe ich keine Zeit. Mein Großvater hat gespielt und mein Vater auch, als er jung war, aber mir hat er es nicht beigebracht. Zeitverschwendung, wenn du mich fragst."
      Er lauschte unterschwellig nach den davonschlurfenden Schritten von Beth, wusste aber gar nicht, wieso eigentlich. Sollte sie doch wach sein, sie taten schließlich nichts unsittliches.
      Er hob Vincents Hand an und musterte sie. Die Rötung war noch immer nicht verklungen.
      "Ich werde keine voreilige Diagnose stellen, dafür weiß ich zu wenig darüber. Lass uns nur sehen, ob die Salbe hilft."
      Da ließ er ihn los, bedeutete ihm zu warten, verschwand im Nebenzimmer und kam einige Zeit später mit einer mittelgroßen Tube wieder, die schon angebrochen war. Er drückte die weiße Creme auf seine Finger heraus, nahm sich Vincents Hand wieder und massierte sie auf seiner Handfläche ein, besonders auf den Fingerspitzen. Das gleiche wiederholte er mit der anderen Hand, vehement darauf bedacht keinen Augenkontakt zu machen, der seine Gedanken verraten hätte, die bei dieser eigenartigen Behandlung wirre Bahnen einschlugen. Als er geendet hatte, musste er schließlich aufschauen.
      "Spürst du schon was?"