In his Thrall [Codren feat. Pumi]

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    • Vincent lächelte, auch wenn seine Maske vollständig verbarg.
      "Schließt das eine etwas das andere aus?" stellte er die Gegenfrage.
      Er musterte Thomas eingehend. Der Mann hielt sich wacker, aber selbst mit der Maske war es für Vincent ein leichtes, die Nervosität zu erkennen, die den Mann umgab wie eine Dunstwolke. Wie überaus anziehend diese Unsicherheit doch war.
      "Ich sagte es heute Nachmittag und ich wiederholte mich eben noch einmal: Ich bin hier, um mich zu amüsieren und zu vergnügen."
      Mit dem letzten Wort trat er einen Schritt näher an den Van Helsing Erben heran, bis sich ihre Schultern berührten. Von außen waren sie nur zwei Gentlemen, die miteinander tuschelten wie jeder andere in diesem Raum auch. Wenn jemand anderes sie denn wahrnehmen könnte.
      "Sehen Sie, dort," meinte Vincent dann und nickte in Richtung Tanzfläche.
      Der aufmerksame Zuschauer konnte dort nun ein Pärchen erkennen, die sich im Takt der Musik bewegten in auffallenden Kleidern und Masken, die ein halbes Jahrhundert zu alt für die Veranstaltung wirkten. Geister, die von der Musik und dem Treiben im Ballsaal angelockt worden waren und den dünnen Schleier zwischen den Welten in dieser Nacht ausnutzten.
      "Ich sagte es ja: Harker Heights hat viele Geister."
      Am Rande der Tanzfläche stand plötzlich ein Mann in einem Frack aus dem letzten Jahrhundert. Die ersten von vielen, die sich heute Nacht in diesem Haus tummeln würden. Vincent konnte nur hoffen, dass es dabei blieb und nicht noch mehr geschah, auch wenn sich ein Teil von ihm wünschte, dass das Gegenteil eintrat und er endlich hinter sich bringen konnte, was schon so lange auf ihn wartete.
      "Ich muss gestehen," wandte er das Gespräch wieder auf etwas anderes, "dass ich mich nicht davon abhalten konnte, Sie unter meinen Gästen aufzuspüren. Der Ball hat gerade erst begonnen und doch kann ich Sie nicht einfach allein hier stehen lassen. Das alljährliche Menü kam mir überraschend schal vor..."
      Er sah rüber zu der kleinen Gruppe junger Leute, die sich vor seinem Tanz noch um ihn geschart hatten. Sicherlich würden sie auch jetzt noch begaffen, hätte er nicht dafür gesorgt, dass sie ihn für den Augenblick vergaßen.
    • "Nein. Tut es wohl nicht."
      Thomas konnte förmlich das Lächeln hören, das an den Mundwinkeln des Lords zog, und so gerne er sich davon abgehalten hätte, so wenig konnte er verhindern, dass ihm der Kuss in den Sinn kam, die festen Lippen an seiner Haut, die freche Stimme, die mit ihren Worten seinen Verstand wie einen Acker umpflückte. Er versteifte sich unmerklich, als Harker wieder an ihn herantrat, das dritte Mal an zwei Tagen, das dritte Mal in Thomas' ganzem Leben, dass er von der Nähe eines Mannes um den Verstand gebracht wurde. Er nahm einen tiefen Atemzug, bewahrte sich seiner Haltung und rief sich ins Bewusstsein, dass sie beide eine Maske trugen, dass ihre Lippen von zwei unüberwindbaren Hindernissen getrennt waren, die sie davon abhielten, etwas dummes zu tun. Aber Harker war ihm so nah, es wäre ihm ein leichtes, seinen Arm wieder um den Mann zu legen und ihn an sich zu pressen wie schon am Nachmittag. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, ihn gänzlich so zu genießen, wie Harker ihn genossen hatte, und dieses Verlangen drängte sich ihm beinahe rüpelhaft auf.
      Er blinzelte mehrmals, zwang seinen Gedanken ein Gebet auf und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Worte des anderen Mannes, weg von seinem Körper und der unerträglichen Anziehung seiner mysteriösen Gestalt. Er folgte seiner Andeutung zur Tanzfläche und konnte sogleich erkennen, was ihm Harker zeigen wollte: Eins der tanzenden Pärchen unterschied sich unwesentlich von dem Rest der Gesellschaft mit ihren altmodischen Gewändern und den viel zu sperrigen Masken, die längst nicht so ausfallend waren wie alle anderen. Auch sie bewegten sich zum Takt der Musik, tanzten zwischen den anderen Paaren einher, aber ihre Bewegungen waren zu flüssig, zu perfekt um von menschlichen Körpern geschaffen zu sein; sie drohten, einen in Trance zu versetzen, wenn man ihnen nur lange und ausgiebig genug zusah. Und Thomas hatte nun wirklich ein besseres Ziel für seinen Blick, als ein paar tanzende Geister, auch wenn es ihn durchaus kitzelte, Zeuge von etwas Übernatürlichem zu werden - etwas harmlos Übernatürlichem, wohlgemerkt.
      Er sah wieder Anubis an, dessen Gesicht unter der Maske so dunkel war, dass man glauben konnte, die Augen hätten sich in schwarze Löcher verwandelt. Seine Wortwahl irritierte ihn; aufspüren und das alljährliche Menü? Was war er, ein Wolf, der sich unter einer Horde von Schafen das beste heraussuchte? Der Gedanke irritierte Thomas noch mehr, denn er bemerkte, dass er es als verlockend empfand, einmal zur Abwechslung zur Beute gemacht zu werden.
      Er räusperte sich. An diesem Abend im Jahr, in der Gegenwart von Geistern und einem - ja vielleicht - heiligen Fest, war es doch sicher erlaubt, ein paar sündhafte Gedanken zu haben.
      "Ich verstehe den Sinn Ihrer Worte nicht. Wie haben Sie es geschafft mich "aufzuspüren"? Ich darf behaupten, dass meine Maskierung verschleiernd genug ist, um mich vor Ihnen zu bewahren. Und wie wollen Sie mich nicht allein hier stehen lassen? Haben Sie etwa vor, sich den ganzen Abend mit mir zu unterhalten? Das dürfte Ihren anderen hundert Gästen keinesfalls recht sein."
      Da fiel ihm auf: Wo waren eigentlich die anderen Gäste? Sicher, überall um sie herum, aber normalerweise war Harker doch stets von einer Traube an Menschen umgeben, die ihn entweder kennenlernen, sich ihm schier an den Hals werfen oder einfach nur einen Blick auf den mysteriösen Gastgeber erhaschen wollten. Nun waren sie geradezu ungestört, als hätten sämtliche Gäste in der Umgebung die Existenz des anubischen Gastgebers verdrängt.
      Thomas richtete einen sehr langen und prüfenden Blick auf Harker, während er sich diese Besonderheit erst durch den Kopf gehen ließ.
    • "Ich habe schon sehr früh gelernt, Menschen an mehr als nur ihrem Gesicht zu erkennen, Doktor. Und Sie sind überaus leicht zu erkennen. Sie mögen gesellschaftliche Veranstaltungen wie diese nicht, obwohl ich sagen muss, dass sich Ihre Haltung entspannt hat, seit Sie sich hinter dieser Maske verstecken dürfen. Trotzdem war es leicht, Sie zu finden. Ich konnte sogar den genauen Moment beobachten, in dem Sie ihren Rücken strafften und tief durchatmeten, ob der anstehenden Versammlung. Zugegeben, es war ein bisschen schwer zu erkennen von meinem Posten auf der Bühne aus, aber ich konnte mich ja auch nach dem Verhalten Ihrer Freundin umsehen."
      Vincent nahm einen Schluck von seinem Drink und ließ den Blick durch den Saal schweifen. Er betrachtete jeden seiner Geister eingehend, um sicherzustellen, dass sich keiner der etwas aggressiveren unter die Leute mischte. Aber soweit schien alles in Ordnung zu sein. Und niemand seiner lebenden Gäste schien die Geister zu bemerken, die sich schamlos in die Veranstaltung warfen.
      "Haben Sie etwas dagegen, den Abend mit mir zu verbringen, Doktor?" fragte er dann, ein verschlagenes Schmunzeln im Gesicht. "Das klang vor wenigen Stunden noch ganz anders."
      Ungesehen von seinen Gästen - selbst wenn sie sich seiner Macht entziehen und einen Blick in seine Richtung werfen konnten - legte er seine Hand flach an den unteren Rücken des Doktors. Die Berührung war sanft, kaum der Rede wert, aber er spürte sofort den Effekt, den er damit auf den Doktor hatte.
      "Diese Masken dienen nicht dazu, Ihre Identität vor den anderen Gästen zu verbergen, Doktor. Es geht darum, den Geistern hier die Möglichkeit zu geben, unentdeckt zu bleiben, während sie sich an ein Leben erinnern, das ihnen vor langer Zeit an diesem Ort genommen wurde. Und darum, die Gäste vor dem unwiderstehlichen Drang, ihnen hinter den Schleier zu folgen, zu schützen. Sie haben es doch eben auch gespürt; wie allein der Anblick dieser Geister anziehend ist."
      Vincent rückte noch ein Stück näher, dehnte die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen.
      "Warum glauben Sie wohl, verbiete ich es, die Masken abzunehmen, bevor man sich nicht in der Stille und dem Schutz der Quartiere befindet?" hauchte er, kaum hörbar über die Musik.
      "Warum glauben Sie, beobachtet uns niemand, hm?"
      Mit dem Daumen strich er langsam über Thomas' Wirbelsäule.
      "Niemand schenkt uns an diesem Abend Aufmerksamkeit, wenn wir es nicht wollen. Es gibt weitaus interessantere Personen hier - ob meine Gäste das wollen oder nicht."
    • Thomas wurde vollkommen perplex gegenüber dem so ausgeprägten Augenmerk, das Harker - Vincent - Herrgott, wie sollte er den Mann nennen? - auf ihn zu legen schien. Dabei war er sich so sicher gewesen, eine passable Verkleidung aufgezogen zu haben, nicht anders als auch alle anderen Männer hier, er hatte sich ja sogar von Darcy sogleich auf die Tanzfläche ziehen lassen. Und trotzdem hatte Harker ihn herausgefiltert, anhand von Angewohnheiten, derer er sich selbst die meiste Zeit nicht einmal bewusst war? Das musste doch an Magie grenzen, dachte er missgünstig, anders war dieses Talent des Hausherren gar nicht zu begründen. Vielleicht war es ja dieselbe Magie, die ihm auch das Gehirn so träge machte - das würde es doch ganz bestimmt sein.
      "Ich sehe, dass Sie mich innerhalb eines Tages schon besser durchschaut haben, als ich mich selbst."
      Die ungewollte Zweideutigkeit des Satzes ließ Thomas frösteln, der jetzt bereute, sich auf dieses Gespräch eingelassen zu haben. Zu stark war die Verführung, zu gefährlich die Versuchung, um sich gegen einen Mann zu wehren, der es mit Worten und lächerlich einfachen Taten schaffte, etwas in seinem Innersten zu berühren, von dem er selbst nicht einmal Kenntnis genommen hatte - zumindest nicht bewusst. Es war doch wie verhext, ganz eindeutig wollte der Allmächtige, die Geister - wer auch immer seine Finger in diesem Spiel hatte - nicht, dass er sich aus dieser Schlinge wieder befreite, die sich ihm um den Hals gelegt hatte.
      Besonders Harker schien es von allen am wenigsten zu wollen.
      "Natürlich habe ich nichts dagegen", brummte er und schaute tief in sein Glas, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Harkers Andeutung wieder reizte. Dabei konnte er doch sein Gesicht eh nicht sehen! Er kam sich so leichtsinnig an diesem Abend vor.
      Die plötzliche Hand, die sich ihm auf den Rücken schob, trieb Thomas in die Bedrängnis. Er versteifte sich, beäugte seine Umgebung misstrauisch, hielt Ausschau nach neugierigen Augen, die sie beobachteten, tuschelten. Niemand, nicht ein maskiertes Gesicht, schien auch nur annähernd zu bemerken, in was für einer Lage die beiden Männer sich befanden, wenngleich man es noch als gute Freundschaft hätte abtun können. Konnte Thomas es als solche abtun? Ganz bestimmt nicht. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
      Er wandte den Blick wieder auf Anubis. Wie konnte der Mann nur über Geister reden wollen? Wie konnte er überhaupt eine anständige Unterhaltung am Laufen halten? Zugegeben, seine Erklärung schien zumindest stichhaltig.
      "Die Masken haben sie doch erst hergeführt, die Möglichkeit, sich unerkannt unter die Anwesenheit Sterblicher zu mischen. Wie können sie gleichzeitig Ursache und Schutz sein?"
      Harker kam ihm noch ein Stück näher und vertrieb den letzten Gedanken, den Thomas sich mühsam aus der trägen Dunstwolke in seinem Gehirn herausgefischt hatte. Er umfasste sein Glas stärker, aus Angst, dass seine nervöse Hand es jederzeit loslassen könnten.
      Harker tat es schon wieder, er schien genau zu wissen, was für einen Effekt seine gehauchte Stimme auf Thomas haben musste. Er betätigte Schalter in ihm, die Thomas selbst nicht betätigen konnte.
      Sein Daumen strich seine Wirbelsäule entlang und Thomas legte ruckartig die Hand auf den Oberarm des anderen. Eigentlich war der Plan gewesen, ihn von sich weg zu schieben und die Sitte wiederherzustellen, die sich mit dieser einfachen Berührung immer weiter von ihnen entfernte, aber er konnte nicht. Sein Arm gehorchte ihm in dem Moment nicht mehr, als er den anderen von sich aus berührte.
      "Lord Harker, ich", krächzte er und musste sich räuspern, "ich muss doch sehr bitten. Denken Sie an die Manier, wir können doch nicht in diesem Umfeld -"
      Er musste sich selbst unterbrechen, um seine Gedanken nicht in die vollkommen entgegen gesetzte Richtung zu schieben, die er eigentlich anstreben wollte. Wobei - welche Richtung strebte er eigentlich an? Um was musste er Harker bitten?
      Er starrte in die schwarzen Löcher des Gottes, hinter denen sich zweifellos ein Lächeln verbarg, ein Glitzern in den Augen, das Glitzern. Er spürte, wie ihm sein Herz das Blut durch den Körper jagte. Die Hand auf dem Oberarm des Mannes fühlte sich taub an, dafür war er sich um der Gegenwart des anderen nur allzu deutlicher bewusst.
      "Was können wir, Harker? Wo sind die Grenzen gesetzt?", raunte er seinerseits, eine Bitte in vielen Worten verpackt, die sie vor den Ohren verschleierten, nicht aber vor dem Verstand. Er fühlte sich bei dem Hausherren genauso befangen wie beim Anblick der Geister, die ihn in ihre Welt zu locken versuchten. In welche Welt wollte Harker ihn locken?
    • "Alles," antwortete Vincent. "Es gibt keine Grenzen, wenn ich keine haben will."
      Ein Mann trat in sein peripheres Sichtfeld, aber er hätte sich nicht weniger für ihn interessieren können. Denn es war einer der Geister, der sie noch mehr vor den Blicken der anderen Gäste abschirmte.
      "Die Geister kommen so oder so hier her, um zu feiern. Ich biete ihnen lediglich die Möglichkeit, dabei auch etwas zu empfinden. Ich kümmere mich um sie und im Gegenzug helfen sie mir, wenn ich ihre Hilfe brauche," erklärte Vincent leise.
      Er kämpfte bereits jetzt gegen den Drang an, den Doktor in seine Arme zu ziehen und hier und jetzt zu küssen. Stattdessen stellet er seinen Drink weg und legte seine nun freie Hand auf die von Thomas.
      "In Harker Heights kann ich tun uns lassen, was auch immer ich will. Und genau jetzt will ich dich, Thomas."
      Er schlug alle Vorsicht in den Wind, denn er wusste, dass niemand es bemerken würde. Er lehnte sich vor und küsste den Doktor, ganz sanft nur, seine Lippen kaum mehr als ein Hauch auf denen des anderen Mannes.
      "Wenn du nachher nicht zu mir kommst, werde ich dich aufspüren, so wie ich dich eben in der Menge gefunden habe," raunte er dem Mann ins Ohr, bevor er sich wieder aufrichtete und seine Hände im wahrsten Sinne des Wortes von ihm ließ.
      Stattdessen griff er sich seinen Drink, machte einen Schritt zur Seite und beobachtete die Tanzfläche wieder. Der geisterhafte Mann, der sie vor neugierigen Blicken bewahrt hatte, schlenderte davon. Nach und nach warfen Gäste wieder Blicke in Richtung ihres Gastgebers. Schließlich trat ein Pärchen vor - die Frau trug eine reich verzierte Maske in Form eines Schmetterlings, ihr Begleiter verbarg sein Gesicht hinter einer Löwenmaske - und überschüttete Vincent mit Komplimenten zu einem gelungenen Maskenball. Sofort war er wieder in der Rolle des freundlichen Gastgebers. Es dauerte nicht lange und er war umgeben von einer kleinen Gruppe, die seine Hand schütteln und einfach mit ihm reden wollte. Scheinbar vergessen war den Moment, den er mit dem Erben der Van Helsings geteilt hatte.
    • Ein weiteres Raunen des Hausherren, eine weitere Welle der verbotenen Entzückung, die über Thomas hinweg schwappte, eine Berührung, die ihn den Atem anhalten ließ. Er verdrängte bereits alles andere um sie herum, als Harker die Worte aussprach, die einen weiteren Hebel in ihm umlegten, seine Schutzmechanismen fallen ließen. Zu gerne hätte er sich diesem köstlichen Kuss mit all seiner Begierde hingegeben, mehr noch als am Nachmittag, vielmehr noch als in allen seinen bisherigen Küssen. Nur leider war die Berührung zu flüchtig, um seinen Körper vollständig in sich aufzunehmen.
      Harker löste sich wieder von ihm und flüsterte etwas in sein Ohr, was sich wie eine Drohung anhörte - oder nein, wie ein Versprechen, und was Thomas eine Gänsehaut über den Körper jagte. Er nahm einen tiefen Atemzug, bekämpfte seine in Flammen stehenden Nerven, rang mit seiner Fassung. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Ball so schnell hinter sich bringen wollen, wie in diesem einen Moment, um Harker in seinem Schlafgemach aufzusuchen.
      Aber er würde sich gedulden müssen. Die beiden Männer lösten sich wieder und Harker widmete sich bereits der nicht enden wollenden Aufgabe eines Gastgebers, die sich in den letzten Minuten sowieso sehr in den Hintergrund geschoben hatte.
      In Harker Heights kann ich tun uns lassen, was auch immer ich will. Und genau jetzt will ich dich, Thomas.
      Er wandte sich von dem Mann ab, der unter der Ansammlung der ganzen Gäste schon wieder wie ausgewechselt wirkte, drehte sich zu dem Tisch um, leerte sein Glas und füllte sich neu nach. Er spürte sein Herz noch immer rasen, sein Verstand war so weich wie Watte, seine Sinne so schwach, als wäre er schon betrunken. Seine ganze Seele fühlte sich unheimlich empfindlich an.

      Eine Gestalt näherte sich ihm von der Seite, als er sein Glas wieder hochnahm. Voller Hoffnung sah er auf, erblickte aber nur eine Frau neben sich, eine Dame in einem weit auslaufendem, zugegebenermaßen hübschen Kleid mit unglaublich aufwendigen, goldenen Verzierungen, die bei dem Stoff beinahe unmöglich wirkten. Ihre Haare waren hellblond und lang, ihre Haut unglaublich blass, das Gesicht hinter einer schiefernen Maske versteckt, die ein wenig an eine Totenmaske erinnerte. Sie hatte blutrote, volle Lippen, die sich zu einem hübschen Lächeln kräuselten. Ihre Augen konnte er hinter der Maske nicht sehen.
      "Darf ich um einen Tanz bitten, der Herr?"
      Ihre Lippen bewegten sich, als sie sprach, aber ihre Stimme schien eher in den tiefsten Winkeln von Thomas' Gehirn hervorzukriechen. Sie war ganz samtig und weich, einer lockeren Frühlingsbrise gleichend, die den Duft von aufblühenden Blumen mit sich brachte.
      Einem plötzlichen Instinkt folgend, schob er die Hand in seine Hosentasche, erinnerte sich aber zeitgleich, dass er sein Kruzifix im Frühstückssaal verloren haben musste. Sein Blick wanderte weiter zu Harker, der sich gerade von einem Tier-Pärchen Komplimente geben ließ.
      Die Frau streckte ihm die Hand entgegen, der Handrücken nach oben. Sie trug feine, samtene Handschuhe, die ihre Haut darunter nur erahnen ließ. Aus einem ihm unerklärlichen Grund, reizte ihn der Anblick.
      "Von mir aus."
      Er ergriff die Hand, die keinerlei Gewicht zu haben schien, und führte sie auf die Tanzfläche zu.

      Die Tänzer hatten sich mittlerweile gemehrt, wobei immer schlechter zu erkennen war, wer von ihnen menschlich und wer geistlich war. Thomas hielt für den Bruchteil einer Sekunde Ausschau nach dem knallroten Kleid, als die goldene Dame sich schon vor ihn stellte und Haltung annahm. Sie schien tatsächlich nichts zu wiegen, bemerkte er, allerdings lenkte ihn das Strahlen ihrer goldenen Verzierungen und das Lächeln ihrer blutroten Lippen davon ab, um weiter darüber nachzudenken. Sie setzten sich in dem mittelschnellen Tempo in Bewegung.
      Die Frau tanzte gut, besser als Darcy und besser als jede andere Frau, mit der Thomas je getanzt hatte, obwohl er keine Ahnung hatte, woher er diese Schlussfolgerung nahm. Ihre Bewegungen hatten etwas einvernehmliches an sich, wie eine Beschwörung, der er sich nicht entziehen konnte, und egal, welchen Schritt er unternahm, konnte sie sich stets darauf anpassen. Wenn sie sich drehte und die Musterungen ihres Saumes durch die Luft wirbelten, ergriff ihn für kurze Zeit ein Schwindel, bei dem er dann froh war, wenn sie wieder bei ihm war und ihn mit ihrem gewichtlosen Körper stützte. Für diesen Augenblick, ja für diesen Tanz, fühlte er sich sogar glücklich, genoss den Augenblick. Ihre blutroten Lippen fingen langsam an, sich in sein Gedächtnis einzuprägen.
    • Vincent hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß bei einer Jagd gehabt. Das kleine Spiel, das er mit Thomas spielte, hatte allerdings einen Nachteil. Er hatte ganz vergessen, dass allein der Gedanke an eine Jagd schon hungrig machen konnte und an einem Abend wie dem heutigen waren nicht nur die Geister näher an der Welt der Lebenden, auch das Monster in seinem Inneren leichter zu reizen.
      Als er hier umringt von Gästen stand, war er sich seines Hungers nur zu bewusst. Seine Kehle brannte, seine Augen fixierten jeden freien Nacken und jedes freie Handgelenk, das in sein Blickfeld trat. Er musste sich aktiv auf die Gespräche konzentrieren, um sich nicht von den vielen Herzschlägen um sich herum ablenken zu lassen. Das Biest wollte fressen.
      Ein kalter Lufthauch riss ihn aus seinen Gedanken. Instinktiv drehte er sich um in der Erwartung, einen Geist zu sehen, der sich gerade materialisierte, doch Nein. Er wusste nicht, wer dafür verantwortlich war, aber ein freundlicher Geist hatte seine Aufmerksamkeit auf die Tanzfläche lenken wollen. Und es geschafft.
      Vincent beobachtete die Tänzer, bis der Blick auf Thomas frei wurde. Der Mann tanzte mit einer Person, die Vincent nur allzu vertraut war. Sie liebte es, ihn zu ärgern, aber heute Nacht brachte dieser spezielle Geist das Fass zum Überlaufen. Sie erdreistete sich, mit dem Van Helsing zu tanzen? Wenn Vincent könnte, würde er sofort für einen Exorzismus sorgen, um sie loszuwerden.
      Stattdessen entschuldigte er sich von der Gruppe, die ihn gerade umschwärmte und hielt auf die Tanzfläche zu. Bei der nächsten Drehung nahm er Thomas seine Tanzpartnerin geschickt ab und bedeutete ihm mit einem Blick, die Tanzfläche zu verlassen.
      "Verona," begrüßet Vincent den Geist knapp.
      "Vincent. Schön, dich zu sehen," flötete sie, ein geradezu unschuldiges Lächeln auf den Lippen.
      "Was machst du hier?" fragte er.
      "Das, was du angeordnet hast. Ich amüsiere mich."
      Er wirbelte die schöne Frau im Takt der Musik herum und zog sie wieder an sich. Sie hatte gerade genug Materie, um diesen Tanz zu ermöglichen.
      "Wusstest du, dass du einen Van Helsing im Haus hast?" fragte Verona unschuldig.
      "Ja, das wusste ich."
      Genauso wie Vincent wusste, dass Verona diese Antwort bereits kannte. Sie war einer der wenigen Geister, die sich frei im gesamten Haus bewegen konnten. Sie war weder an einen Ort, noch an eine Zeit, noch an ein Objekt gebunden. Was sie nur noch nerviger machte.
      "Dass du überhaupt schlafen konntest letzte Nacht. Die waren ja dann doch ganz schön laut," raunte Verona dicht an seinem Ohr. "Es hat mich schon ein bisschen gewundert, dass du sie im Haupthaus hast schlafen lassen."
      "Welche Wahl hatte ich denn?"
      "Du hättest mitmachen können. Diese Darcy ist doch ganz hübsch. Und dass du dem Van Helsing verfallen bist ist ja wohl offensichtlich. Irgendwann musst du mir mal erklären, warum du so eine Schwäche für diese Blutlinie hast. Hat es etwas zu tun mit deinem -"
      "Ad infestatiónes diabólicæ fraudis repelléndas secúri aggrédimur. Sicut déficit fumus, deficiant."
      Verona verzog das Gesicht, erst angewidert, dann wütend, schließlich schlich sich Schmerz in ihre verschwindenden Züge. Es war keine permanente Lösung, aber für eine kleine Weile sollte nun Ruhe herrschen. Selbst in einer Nacht wie der heutigen kostete es einen Geist viel Energie, eine Form aufzubauen. Erst recht, wenn diese Form mit der Welt der Lebenden interagieren sollte.
      Mit einem Seufzen machte sich Vincent auf die Suche nach dem guten Doktor. Immer wieder ballte er die Hände zu Fäusten, nur um sie wieder zu öffnen. Das Kribbeln in seinem Nacken machte ihn wahnsinnig, dabei hatte er noch gar nicht auf seine Kräfte zurückgegriffen. All Hallows' Eve war eine gefährliche Nacht.
      "Thomas!"
      Lächelnd kam er auf den Doktor zu, sobald er ihn in der Menge gefunden hatte.
      "Ich muss mich für Verona entschuldigen. Sie ist... oftmals neugieriger, als sie sein sollte und sie liebt es, mir auf die Nerven zu gehen. In den letzten neun Jahren scheint das ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein."
      Vincent musste seine Hände beschäftigen, also griff er sich ein Glas und füllte es erst mit Eiswürfeln, dann mit einem Drink, auch wenn er normalerweise pur trank.
    • Die goldene Frau weckte einen Gefallen in Thomas, den er vorher bei einer Frau nicht für möglich gehalten hätte. Es glich zwar noch längst nicht dem Gefühl, das Harker in ihm hervorzurufen wusste, aber es war doch nahe an etwas dran, was Thomas als Liebe hätte beschreiben können. Oder Verliebtheit? In jedem Fall übte sie mit ihrem Tanz einen äußerst prägenden Effekt auf ihn aus.
      Als sie sich dann allerdings ein weiteres Mal um ihn drehte und der Saum ihres Kleides seinen Schwindel schürte, schob sich eine ihm nun bekannte Gestalt in sein Blickfeld, schob ihre Hand von Thomas' Handfläche - er spürte die geschmeidigen Finger des neuen Tänzers deutlich an seiner Haut, als hätten sie ihm einen Schlag verpasst - und lenkte die Frau zu sich. Ein Kopfnicken bedeutete ihm, dass er wohl jetzt übernehmen würde und Thomas war fast schon enttäuscht darüber, die Frau abgeben zu müssen. Wieso ließ er ihn nicht weitertanzen, es war doch nichts anderes als mit Darcy. Er legte die Stirn in Falten, was man unter der Maske sowieso nicht sehen konnte, und bahnte sich zwischen den Pärchen einen Weg nach draußen. In der Menge der Zuschauer angekommen, drehte er sich dann wieder um und beobachtete die beiden.

      Harkers Bewegungen hatten auch etwas hypnotisierendes, so wie die der vielen Geister, aber dieser Effekt beschränkte sich wohl allein auf Thomas. Er konnte die Augen nicht von seinen irrsinnig langen Beinen abwenden, von den geschmeidigen, aber festen Bewegungen seiner Hüfte und von der stillen Anmut des Tanzes, den er meisterlich ans Licht brachte. Thomas war darum froh, als das Paar schließlich davontanzte, denn es verunsicherte ihn, wie lange er sonst noch regungslos da gestanden und Harker zugesehen hätte. Was war nur mit ihm passiert, dass er sich binnen eines Tages so gänzlich verändert hatte? Gestern Abend hatte er noch Sex mit Darcy gehabt, an diesem Abend dachte er darüber nach, einem Mann seinen schwarzen Anzug von den Schultern zu streifen. Er hatte doch schon davor noch nie über solche Dinge nachgedacht, wieso konnte er dann jetzt seine Gedanken nicht mehr im Zaum halten?
      Er ging zurück zu den Tischen, bediente sich an einem Drink, kippte sich die Hälfte sogleich hinab. Langsam, ganz langsam wurde ihm von dem schnellen Trinken schon schwummrig, aber das war nichts, was er nicht unter Kontrolle bringen konnte. Er trank sogar einen Schluck mehr, wie um seine sündhaften Gedanken zu ertränken, und sah dann auf, als er seinen Namen hörte. Harker kam geradewegs auf ihn zu.
      Er wirkte ein wenig anders, irgendwie angespannt. War er wütend? Gereizt? Genervt? Müde? Es war schwierig zu deuten, unter der Maske und nach der kurzen Zeit, die er ihn erst kannte. Seine Stimmung schien sich aber schlagartig zu ändern, als er näher kam.
      "In den letzten neun Jahren? Ist sie etwa auch jedes Jahr auf diesem Fest eingeladen?"
      Er interessierte sich für Verona, konnte diese Neugier aber nicht vor das Interesse für Harker schieben.
      "Mir war sie sympathisch, denke ich. Ich hätte noch weiter mit ihr getanzt, wenn Sie nicht unterbrochen hätten."
      Eigentlich war er nicht der Typ dafür, der gerne nachtragend war, aber für Harker wollte er eine kleine Stichelei nicht unterdrücken. Er schien ja selbst alles so locker und entspannt zu sehen, als wäre Thomas nur ein weiteres Spielzeug, das ihm das Fest versüßte. Wahrscheinlich war er auch genau das, aber dann konnte er auch einmal mit dem anderen spielen.
      "Haben Sie eigentlich Ms. Brooks gesehen? Ich fürchte, ich habe sie ein wenig aus den Augen verloren, dabei sollte ich wohl mit ihr tanzen, wenn mir eine andere Frau schon nicht vergönnt ist."
    • Mit dem Ringfinger tippte er unentwegt gegen das kühle Glas in seiner Hand.
      "Seien Sie versichert: Verona ist alles andere als sympathisch, wenn man sie erst einmal richtig kennenlernt. Sie haben da gerade mit einem Geist getanzt."
      Er nippte an seinem Glas und musterte die Tanzfläche, auch wenn er eigentlich wusste, dass sie nicht schon wieder hier sein konnte. Wie viel sollte er Thomas verraten? Er war ein Van Helsing, er würde sich zu verteidigen wissen, sollte Verona wieder auftauchen. Und sie würde wieder auftauchen, sich an Thomas zu schaffen machen, um ihm, Vincent, wehzutun.
      "Sie sollten sich Ihrer selbst sicherer sein, Thomas. Verona ist der Geist eines Vampires. Glauben Sie mir oder nicht, das ist mir egal, aber Sie können unmöglich leugnen, wie einfach sie Sie in ihren Bann gezogen hat. Ich würde sie ausladen, wenn ich könnte."
      Vincent leerte seinen Drink in einem Zug und ließ einen der Eiswürfel in seinen Mund gleiten. Dann sah er sich erneut um, diesmal auf der Suche nach Thomas' Begleitung., während er den Eiswürfel auf seiner Zunge schmelzen ließ.
      "Dort," sagte er schließlich und deute in die Richtung, in der er die Frau erspäht hatte.
      Bevor Thomas gehen konnte, packte er den Doktor am Arm. Wieder nutzte er seine Fähigkeiten, um alle neugierigen Augen von ihnen abzuwenden.
      "Seien Sie vorsichtig, Thomas. Verona sucht sich gern jemanden unter meinen Gästen, den sie... bedrängen kann. Ich fürchte, in diesem Jahr ist ihre Wahl auf Sie gefallen. Wenn Sie sie sehen: ignorieren Sie sie. Sie ist ein Geist und kann nicht viel unternehmen, wenn Sie sie einfach nicht beachten. Aber sie hat ihre Mittel und Wege."
      Er machte einen Schritt auf den Doktor zu, ignorierte dessen persönlichen Raum einmal mehr an diesem Abend.
      "Ich sähe es nur äußerst ungern, kämen Sie zu Schaden," raunte er.
      Dann ließ er von dem Mann ab, bevor er sich zu 'unsittlichen' Taten hinreißen ließ. Stattdessen wandte er sich wieder den Getränken zu und schenkte sich erneut ein. Noch immer kribbelte sein Nacken, auch wenn das Gefühl langsam nachließ.
      "Noch eine Stunde bis Mitternacht, Doktor. Wenn Sie tanzen wollen, dann jetzt," verabschiedete er den Mann, ohne sich ihm noch einmal zuzuwenden.
    • Etwas stimmte mit Harker wirklich nicht, doch was es genau war, konnte Thomas nicht mit Gewissheit sagen. Allerdings schien sein Gegenüber es schwieriger zu haben, seine sonst so gelassene Fassung aufrecht zu erhalten.
      Die Information darüber, dass er mit einem Geist getanzt habe, traf ihn dann doch etwas unvorbereitet. Natürlich, jetzt im Nachhinein fiel es ihm auf, im Nachhinein war es so klar, dass es fast schon lächerlich offensichtlich war. Thomas musste sich deutlich zusammenreißen, um seiner Irritation keinen Ausdruck zu verleihen. Dass ihm nach all den Jahren tatsächlich ein Geist vorbeilaufen konnte, den er nicht als solchen erkannte, grenzte schon fast an Frechheit. Und dann war es auch noch ein verstorbener Vampir! Vielleicht sogar von einem von Thomas eigenen Urvätern zur Strecke gebracht. Darüber hätte er fast schon wieder lachen können.
      "Es weilen wirklich ungewöhnliche Gäste unter Ihrem Haus, Lord."
      Das erinnerte ihn wieder an das Kruzifix, er würde es holen müssen, jetzt sogar noch dringlicher, nachdem ihn einer der Geister so leicht verführen konnte. Er kannte zwar keinen besonderen Exorzismus, aber das Kreuz war auch so ein recht effektiver Schutz gegen Geister - und mit der Silberkette selbstverständlich auch gegen Vampire. Es war eine wahrhaftige Sünde, es nicht bei sich zu tragen.
      Aber erst würde er Darcy aufsuchen. Auch wenn sie noch nicht verheiratet waren, würde er es sich niemals zu Schulden kommen lassen, die Frau alleine in einem Gewühl von Menschen zurückzulassen.
      Harker wies ihm die Richtung - er hatte das rote Kleid wohl früher entdeckt als Thomas - und hielt ihn dann noch einmal zurück, um letzte Worte an ihn zu richten. Diesesmal war diese Auseinandersetzung in keinster Weise von einem intimen Unterton geprägt.
      "Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, Harker - Lord Harker, aber ich versichere Ihnen, dass ich der letzte Mann wäre, um den Sie sich sorgen müssten."
      Damit hätten sie eigentlich schon auseinander gehen müssen, aber stattdessen kam Anubis wieder näher, so nah, dass Thomas sich auf ein neues versteifte. Er hörte die raunenden Worte des Hausherren, dessen gesenkte Stimme - so war er sich jetzt sicher - ihm stets eine Gänsehaut verschaffte, und dann gingen sie endlich auseinander. Thomas glättete sich aus reiner Angewohnheit seinen Anzug und räusperte er sich.
      "Ich wünsche ein angenehmes Fest."
      Seine Schritte führten ihn geradewegs auf Darcy zu.

      Die restliche Stunde verbrachte er damit zu trinken, tatsächlich noch einmal mit Darcy zu tanzen - sie hatte ihn so lange angebettelt, bis er eingewilligt hatte - und oberflächlichen Plausch mit den Männern zu führen, die Darcys wiederum neue Freundinnen begleiteten. Thomas nutzte die Gelegenheit sogleich, um herauszufinden, ob andere Männer auch einen solchen Effekt auf ihn hatten wie Harker, aber das Ergebnis dieser Untersuchung hielt sich deutlich in Grenzen. Irgendetwas war einfach nicht dasselbe, dass es zu ähnlichen Gefühlen kommen konnte - er wusste nur nicht was.
      Als es Mitternacht schlug, hatte er sich gerade ein neues Glas nachgeschenkt, stand mit Blick auf die Tanzfläche und beteiligte sich halbherzig an einem Gespräch über Politik mit drei anderen Männern. Er fühlte sich nun ein wenig beschwipst, hatte sich dazu entschieden, für die restliche Zeit des Festes nur noch zu trinken und nicht mehr zu tanzen, und spielte den Wachhund für Darcy, die sich einen Tänzer nach dem anderen angelte und scheins für den Rest der Nacht weitertanzen würde. Den Vorfall mit dem Geist hatte er schon wieder fast vergessen und das Kruzifix hatte er genauso wenig im Gedächtnis behalten.
    • Kurz bevor es Mitternacht schlug, hielten die Musikanten auf ihrer kleinen Bühne inne und die Menge teilte sich wie von allein für den Gastgeber. Vincent hatte sich mittlerweile wieder erholt von dem kleinen Tänzchen, das er mit Verona hingelegt hatte. Das Kribbeln in seinem Nacken war verschwunden und mit ihm auch der ungewöhnliche Bewegungsdrang, der ihn nach so etwas stets heimzusuchen schien.
      Mit langen Schritten schlenderte er durch die Menge auf die Bühne zu. Ein kleiner Satz und er thronte wie zu Beginn des Balls über seinen Gästen.
      "Ladies, Gentlemen," alle Augen ruhten auf ihn, als er sein Glas in die Höhe reckte. "Die Nacht der Geister neigt sich ihrem Ende zu, der Schleier zwischen den Welten schließt sich wieder. Lasset uns ein letztes Mal auf diese Nacht anstoßen. Auf das Leben, das für uns weitergeht! Mögen die Geister die Welt für ein weiteres Jahr verlassen."
      Mit dem Rest der Menge stieß er an und nippte an seinem Glas, doch damit war seine kleine Rede noch nicht vorbei, beschloss er spontan.
      "Auf dass die Geister Lady Norwich in ihren Reihen empfangen und sie nächstes Jahr wieder an diesem Ball teilnehmen kann."
      Er stieß ein zweites Mal an. Ein paar seiner Gäste prosteten sofort zu, ein paar zögerten noch, daran erinnert, welche Tragödie sich gestern noch hier ereignet hatte. Niemand von ihnen wusste, dass Lady Norwich nächstes Jahr tatsächlich wieder einkehren würde, sofern sie die Kraft dafür fand. Harker Heights hatte dieses Jahr einen weiteren Geist bekommen.
      Vincent sprang von der Bühne und die Musikanten nahmen ihr Spiel wieder auf. Ihre Musik war nun langsam und deutete auf das Ende der Festlichkeiten hin. Nach und nach verschwand auch die Gäste - zuerst lösten sich die Geister auf, aber schließlich verließen auch Pärchen und kleinere Grüppchen den Saal. Niemand hier war es gewohnt, allzu lang wach zu bleiben, so sehr ein Leben in Saus und Braus auch darauf hindeuten würde.
      Vincent selbst verzog sich als einer der Ersten. Für seine Gäste mochte die Nacht der Geister vorüber sein, doch der Schleier würde sich noch nicht schließen, wie er es verkündet hatte. Die nächsten drei Stunden war dieses metaphysische Ding speerangelweit offen. Und er wusste genau, was seine Gäste nun anstellen würden. Nur ein Teil von ihnen würde sich zu Bett begeben, aber die Mehrheit hatte andere Gedanken. Sei es wegen den Echos der Geister hier, dem Reiz der Nacht und des Hauses zusammen oder gar die Überreste von dem, was Vincent seinen Gästen zu Beginn des Balls auf übernatürliche Weise mitgeteilt hatte. Auch er war nicht immun gegen die Macht des Hauses in einer solchen Nacht.
      Auf seinem Weg nach draußen warf er Thomas einen vielsagenden Blick zu, ob dieser ihn nun sehen konnte oder nicht, war ihm egal. Er beeilte sich zwar nicht auf dem Weg durch sein Anwesen, aber er trödelte auch nicht. Er hatte die halbe Nacht in einem Pool aus Menschen verbracht, die den Kampf gegen ihre eigene Begierde Stück für Stück verloren hatten. Er brauchte einfach etwas Abstand. Außerdem war gespannt auf das, was der gute Doktor heute Nacht noch vorhatte, falls er denn überhaupt Pläne hatte.
      Vincent ließ die Tür zu seinem Studierzimmer offen stehen und widmete sich dem Kamin, entfachte ein Feuer darin, um die Kälte und die Dunkelheit zu vertreiben. Im Flur allein hatte er die Anwesenheit von gleich vier Geistern empfunden. Geistern, die sich damit zufriedengaben, aus den Schatten heraus zu beobachten.
      Vincent betrachtete die kleinen Flämmchen, die an den Holzscheiten leckten, noch zu klein, um ihnen etwas anhaben zu können. Er beobachtete, wie sie langsam, ganz langsam anwuchsen und das Holz zu verschlingen begannen.
    • Mit einem abschließenden, dramatischen Auftritt neigte sich das Fest ganz offiziell dem Ende zu. Der Gastgeber erschien ein letztes Mal vor den Augen aller, sorgte für den letzten Gesprächsstoff, dann verschwand er von der Bühne und mit ihm begann sich die Versammlung allmählich aufzulösen. Letzte Tänze wurden beendet, die letzten Gläser wurden ausgetrunken, letzte Grüße wurden überreicht, die Menge trubelte auf den Ausgang zu. Es herrschte eine ausgesprochen lockere Stimmung, es wurde noch immer gelacht und heiter miteinander geplauscht, nur alles in einer abnehmenden Lautstärke. Langsam wurde man des Tanzens müde - nicht aber anderer Dinge.
      Thomas empfing Darcy mit ausgestrecktem Arm. Sie strahlte über das ganze Gesicht, sichtlich glücklich über den gelungenen Abend, und schmiegte sich an seine Seite, während er sich mit ihr einen Weg zu den hohen Flügeln bahnte. Manchmal kicherte sie auf dem Weg und krallte sich dann in sein Hemd, als wolle sie sich gewaltsam an ihm festhalten. Sie war wohl auch nicht mehr sehr nüchtern, genauso wenig wie Thomas, dessen Gang nicht mehr ganz so zielstrebig war wie noch am Anfang des Abends.
      Bei der Tür, bei der sich ein kleiner Stau gebildet hatte, erblickte er den schwarzen Anubis - seine Augen waren schon darauf geschult, sich nach dem Mann umzusehen - und vermuteten den Blick, den er ihm unter seiner Maske hinweg zuwarf. Ein Schauer überkam ihn und er beeilte sich, Darcy auf den Ausgang zuzuschieben.
      Auf halbem Weg ertönte eine Stimme hinter ihm.
      "Möchten Sie schon gehen, van Helsing?"
      Er drehte sich nach der Frau um, die ihn so direkt von hinten angesprochen hatte, sah aber nur vereinzelte Gäste, die nicht einmal nahe genug standen, um ihn so ansprechen zu können. Er runzelte die Stirn, wandte sich wieder nach vorne und schob Darcy weiter an.
      "Sie sind doch sicher hier wegen Vincent, oder nicht? Möchten Sie ein paar Geheimnisse über ihn erfahren?"
      Da drehte Thomas sich doch wieder ruckartig um und suchte mit seinem verschwommenen Blick nach der Frau, die diese Unterhaltung mit ihm führte.
      "Was?"
      "Was?", fragte Darcy an seiner Seite und hob den Kopf zu ihm an.
      "... Hast du was gehört?"
      "Nein. Bist du etwa betrunken, Thomas?"
      Sie kicherte und Thomas drehte sich ein weiteres Mal nach vorne, als ihn eine kühle Brise an den Wangen strich, die Andeutung eines Luftzugs, kaum stark genug um tatsächlicher Wind zu sein, aber auch nicht zu leicht, um nicht von ihm bemerkt zu werden. Er konnte sie quasi schon hören, bevor sie zu ihm sprach.
      "Komm zu mir. Ich werde dich in die Geheimnisse dieses Hauses und alle seiner Bewohner einweihen."
      Die Stimme wie eine Frühlingsbrise, das Versprechen wie ein hauchzarter Kuss, eine Kombination, die in Thomas eine Gänsehaut auslöste. Als er es mit Darcy endlich aus der Tür geschafft hatte, wusste er gar nicht mehr, weshalb er es eigentlich so eilig hatte.
      "Geh' schonmal vor, ich muss noch etwas nachsehen."
      "Ach? Was könnte das denn sein?"
      Sie lehnte sich schwer gegen ihn und reckte sich, um ihn zu küssen. Er wich ihr aus.
      "Ich bin gleich da, gib' mir nur fünf Minuten."
      Die Enttäuschung stand ihr auf die ganze Maske geschrieben.
      "Beeil' dich, Thomas."
      "Ja, ja."
      Sie löste sich von ihm, lächelte ihn beschwingt an und machte sich dann auf den Weg die Treppen hinauf. Thomas, seiner plötzlichen Eingebung folgend, die seine anderen Gedanken zu ersetzen schien, strebte auf die Kellertreppe zu.

      Darcy kam bis zur Tür des Schlafzimmers, als ihr das Licht erst auffiel, das aus dem Studierzimmer drang. Sie blieb stehen, die Hand bereits auf der Klinke, und starrte für einen Moment, ehe sie den Saum ihres Kleides packte und damit auf leisen Sohlen bis zu dem anderen Zimmer schlich. Das einladende, warme Licht eines Feuers drang in den Gang hinaus und in Darcys betrunkenem, schwammigem Gehirn schien ihr das eine deutlich bessere Option als die Finsternis des Zimmers, das auf sie wartete. Sie richtete sich ein wenig ihre Frisur, zupfte an den Falten ihres Kleides herum und trat dann durch die geöffnete Tür ins Zimmer.
      "Lord Harker", gluckste sie, warf einen Blick durch das Zimmer, fixierte zuletzt den Hausherren, der am Kamin stand. Sie schloss die Tür hinter sich; erst schien es ein versehen zu werden, nachdem sie sich daran festhielt, aber dann drückte sie sie willentlich hinter sich zu. Das Lächeln auf ihren angemalten Lippen wurde zu keiner Zeit schwächer.
      "Haben Sie etwa vor, den Abend allein ausklingen zu lassen? Das sollte doch ein Verbrechen sein - auch noch in Ihrem eigenen Haus! Vielleicht kann ich Ihnen ja etwas Gesellschaft leisten, natürlich nur, bis mein lieber Tommy wiederkommt."
      Sie schlenderte bereits auf ihn zu, eine Mischung aus damenhafter Eleganz, Trunkenheit und vom Tanzen erschöpften Beinen.
      "Außer natürlich, Sie hatten vor, die Nacht alleine zu verbringen, das könnte ich nun wirklich nicht verantworten, Mr. Harker. Das wäre wirklich ganz unschicklich. Darf ich Sie Vincent nennen, Vincent?"
      Sie kam weiter, unaufhaltsam auf ihn zu, mädchenhaft kichernd.
    • Schritte, dann ein vertrauter Duft. Aber es war nicht Thomas, der sich da seinen Weg zum ihm suchte. Seine Freundin trug lediglich einen Hauch von Zimt mit sich, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie bis vor kurzem noch mit dem Doktor in Kontakt gewesen war. Von dem jetzt jede weitere Spur fehlte.
      Vincent seufzte innerlich, dann setzte er ein freundliches Lächeln auf und erhob sich aus der Hocke vor dem Feuer und wandte sich zu der Frau um. Sie war angetrunken, aber wer glaubte, dass der Alkohol ihre Handlungen bestimmet, lag falsch. Da lag ein gewisses Maß an Kalkulation in diesen Augen, als sie die Tür hinter sich schloss.
      "Sie dürfen mich gern Vincent nennen, Ms. Brooks. Ehrlich gesagt bevorzuge ich das sogar. Lord Harker klingt so... gestelzt."
      Er ging zu ihr hinüber und führte sie zu einem der beiden Sofas, damit sie sich setzen konnte. Er half ihr sogar aus den Schuhen.
      "Ich hatte eigentlich nicht vor, den Rest der Nacht allein zu verbringen, aber mir scheint es, als ob mich meine Verabredung ähnlich sitzen gelassen hat, wie Thomas Sie allein vorgeschickt hat. Lassen Sie uns gemeinsam allein sein."
      Er ging hinüber zu einer kleinen Bar, die er hier oben hatte, und schenkte der Dame einen weiteren Drink ein. Sich selbst auch und mit den beiden Gläsern bewaffnet kehrte er zu den Sofas zurück. Er reichte der Dame eines der Gläser, dann ließ er sich ihr gegenüber auf dem anderen Sofa nieder und überschlug die Beine. Mit einem Seufzen zog er sich die Maske des Totengottes vom Gesicht. Seine Haare waren ganz durcheinander und er brauchte einen Augenblick, um sie mit seiner freien Hand zu richten.
      "Sie haben heute ja ordentlich das Tanzbein geschwungen," sagte er und toastete Ms. Brooks zu. "Vielleicht solle ich nächstes Jahr einen Tanzwettbewerb veranstalten, sollten Sie wieder eingeladen werden. Sie haben bestimmt dafür gesorgt, dass einige der Herren heute Nacht sehr gut schlafen werden. Und morgen beschweren sie sich dann alle über den Muskelkater. Aber sagen Sie: Wissen Sie, wo der gute Doktor steckt? Nicht, dass er sich hier im Haus noch verläuft, das passiert erschreckend leicht. Ich selbst verlaufe mich ja manchmal in all diesen dunklen Gängen."
    • Darcy ließ sich äußerst entzückt von ihrem Gastgeber zu den Sofas führen, kicherte ein weiteres Mal, als er sich die Mühe machte, ihr beim Entbinden ihrer Schuhe zu helfen. Wenn bisher noch die Andeutung eines unsittlichen Gedankens in ihren Augen getanzt hatte, entflammte jetzt ein regelrechtes Verlangen. Auf seine Anmerkung hin hob sie die Hand vor den in Überraschung geöffneten Mund.
      "Aber, Vincent! Sie sitzen gelassen? Was für eine furchtbare Tat, ja, ein Verbrechen sogar! Sie sollten sich nicht mit solch unmanierlichen Frauen abgeben Vincent, ganz sicher nicht!"
      Sie rückte sich auf ihrem Platz ein wenig zurecht, wie um zu sagen: Sehen Sie, ich würde so etwas niemals machen, ich bin ja hier. Dann verfolgte ihn ihr Blick bis zu seiner kleinen Bar, ruhte ununterbrochen auf den verschiedensten Körperteilen während er ihnen einschenkte, und richtete sich dann wieder - fast widerwillig - auf sein Gesicht. Sie nahm das Glas entgegen, unermüdlich lächelnd, und lehnte sich damit zurück. Die anfängliche Enttäuschung darüber, dass er sich nicht zu ihr setzte, überspielte sie damit, indem sie ein Stück nach vorne rutschte und sich dann weit nach hinten lehnte, die Brust weit herausgestreckt, den Kopf ein wenig zur Seite gelehnt, wie in einer Pose; dann erst tat sie es ihm nach und entfernte ihre Maske. Darcy Brooks wusste sehr gut, wie sie ihren Körper zur Schau stellen konnte.
      Auf seine Bemerkung hin lachte sie ganz ungezwungen.
      "Sie schmeicheln mir, Vincent! Dabei sind Sie doch selbst ein ganz fabelhafter Tänzer - oh, Sie sollten ganz bestimmt einen Tanzwettbewerb eröffnen und wir würden uns dann den Sieg mit Leichtigkeit holen, finden Sie nicht auch?"
      Sie schien die Gelegenheit erfassen zu wollen, um sich neu in ihrer Position auszurichten, als Vincents Bemerkung über Thomas etwas in ihr dämpfte. Sie blieb stattdessen unbewegt sitzen und lächelte.
      "Thomas? Oh ich habe nicht den blassesten Schimmer. Im Foyer haben wir uns getrennt und dann ist er weiß-der-Herr wohin gegangen. Ich habe ihn noch nicht einmal richtig verstanden; wenn Sie mich fragen, redet er mit Geistern."
      Sie kicherte eine Sekunde darüber, den Blick stetig auf Vincent gerichtet, entweder auf sein Gesicht oder auf seine Brust.
      "Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir können ihm ja sagen… nun, wir können ihm ja sagen ich hätte mich verlaufen, oder? Und Sie waren zur rechten Zeit da, um mich davor zu bewahren, die Nacht alleine in Ihren finsteren Gängen zu verbringen."
      Da stand sie doch auf, überbrückte die kurze Distanz zur anderen Couch und setzte sich zierlich auf die Kante, den Körper seitlich zu Vincent ausgerichtet. Sie ergriff seine Hand, eine zielgerichtete Geste, und bettete sie in ihren eigenen.
      "Womöglich kann ich Ihnen, für ihre Rettung, einen Wunsch erfüllen? Ich würde es ganz ohne zu überlegen tun, ja Sie müssten ihn noch nicht einmal mit Worten formulieren."

      Thomas stieg die steinernen Treppen hinab in den Keller, aus dem er leise, ferne Musik hören konnte, ähnlich wie die Kammermusik im Ballsaal. Die Neugier hatte ihn gepackt, die Neugier über die süße Frauenstimme, die zu ihm gesprochen hatte, und über das Angebot, das sie ihm gemacht hatte. Irgendwo in seinen hintersten Gedanken hatte er das Gefühl, dass er irgendwas anderes, unglaublich wichtiges verpasste, aber der Gedanke war so flüchtig, als würden ihn alle anderen Gedanken jederzeit in den Hintergrund drängen. Also stieg er weiter die Stufen hinab, auf die Musik zu und bald auch auf das dämmrige Licht, das von der geöffneten Kellertür nach oben schien. Er kam unten an, öffnete sie ein Stück weiter und trat ein.
      Was oben noch als Ball stattgefunden hatte, war hier nun ein kleineres Fest, das nicht ganz so viel… Materie besaß. Geister schwirrten umher, ruhelos scheins, und umschwirrten sich gegenseitig, besaßen schier kein Gefühl für die Musik, die irgendwo her zu kommen schien. Thomas fühlte sich zwei Jahrhunderte zurückversetzt, eine Zeit womöglich vor seiner eigenen Familie, in der noch unbekannte Gesetze gegenüber menschlichem und unnatürlichem gegolten haben mussten. Er fühlte sich, als wäre er durch ein Tor geschritten.
      In der Mitte dieser merkwürdigen Veranstaltung sah er sie dann, die Frau in Gold, Verona, wie ihm unmittelbar einfiel. Sie wirkte etwas blass, mehr noch als vorhin, und das Gold ihres Kleides schien verblichen zu sein, als habe der Künstler vergessen, wie sehr Gold strahlen musste. Sie wirkte nun auch deutlich mehr wie ein Geist, so wie ihr Körper flackerte, als hätte sie Mühe, ihn gänzlich an Ort und Stelle zu halten. Ihre Miene war allerdings warm und einladend und wischte den Moment der Beunruhigung von Thomas weg. Er griff sich in die Hosentasche, wusste aber gar nicht, was er dort zu finden verhoffte.
      "Thomas", schnurrte die Frau und streckte einladend die Arme nach ihm aus. Ein Schauer durchfuhr ihn.
      "Wie schön, dass du hergefunden hast. Komm her zu mir, lass uns noch einmal tanzen, ich bitte darum."
      Und irgendetwas in seinem geschulten Unterbewusstsein sagte ihm, dass es ein törichter Fehler wäre noch einmal zu tanzen, mit diesem Geist in ihrem eigenen Reich, das lediglich durch die Kellertür zur richtigen Welt zu führen schien, vor der Thomas in dem Moment stand. Irgendetwas sagte ihm, dass er sich augenblicklich daran erinnern sollte, was er den ganzen Abend schon zu vergessem schien.
    • Diese Frau wollte ihn doch allen Ernstes verführen! Na schön, dieses Spiel konnten zwei Leute spielen.
      "Sagen Sie bloß, Sie sind ein Medium und können meine Gedanken lesen," scherzte er und verschränkte seine Finger mit ihren.
      Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln, dass man unter den richtigen Umständen entsprechend interpretieren konnte. Seinen Daumen ließ er sanft über den Handrücken der Dame streichen. Nichts davon könnte ein Außenstehender gegen ihn halten, bedachte man die späte Stunde, die Trunkenheit von Ms. Brooks und die Abwesenheit ihres Partners. Wer wäre Vincent, wenn er nicht wüsste, wie man mit den Regeln der Sittlichkeit seilspringt.
      Er zog die Dame neben sich auf das Sofa, um es ihr bequemer zu machen.
      "Sagen Sie," raunte er und ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, nichts als Interesse in seinem Blick. "Wollen Sie wirklich den Abend in diesem Korsett ausklingen lassen? Ich habe mit sagen lassen, dass diese Kleidungsstücke wahre Folterinstrumente sein sollen. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass es bequem ist, in einer solchen Rüstung herumzusitzen."
      Wie um seine eigenen Worte zu unterstreichen, schlüpfte er aus seinem reich verzierten Jackett. Er faltete es ordentlich und legte es über die Rückenlehne, bevor er sich wieder entspannt zurücklehnte.
      Dass Thomas mit Geistern redete, beunruhigte ihn ein wenig, aber er konnte jetzt nicht einfach aufspringen und dem Mann hinterher eilen. Zumal sein Haus wirklich groß war und wenn er den Mann in nur wenigen Minuten finden konnte, dann würde er sich nur selbst verraten. Vincent konnte nicht sagen, wie viel Ms. Brooks über das Familiengeschäft ihres Freundes wusste. Er konnte ja nicht einmal sagen, wie viel Thomas wusste. Bislang hatte sich dieser nicht wie ein typischer Jäger verhalten, soweit Vincent das beurteilen konnte.
      Also hatte Vincent kaum eine andere Wahl, als dieses Spiel mit dieser hübschen Frau zu spielen, die ihn zwar durchaus ansprach, aber bei weitem nicht das Ziel seiner heutigen Begierde war. Er konnte nur hoffen, dass Thomas auf sich aufzupassen wusste, wie er so stolz proklamiert hatte.
    • Darcy schien es nur mehr zu beglücken, dass der Hausherr nicht sogleich auf ihre Anspielung ansprang. Sie schien wohl auch die Jagd zu genießen, den Nervenkitzel des Vorspiels, der Anspannung, die sich damit verband. Ganz besonders schien sie es aber zu genießen, dass der Mann ein solch charmantes Interesse an ihr zeigte.
      "Sie sind ein Kenner, Vincent. Dann wissen Sie bestimmt auch, dass man dieses Ding weder alleine anziehen, noch ausziehen kann. Sie werden doch sicher ein Gentleman sein und mich daraus befreien, oder?"
      Ihr eigener Blick hellte sich förmlich auf, als Vincent bereits damit anfing, sein eigenes Jackett auszuziehen. Sie wartete mit einer engelsgeduld, bis er sich wieder zurückgelehnt hatte, ehe sie wieder zur Kante vorrutschte, aber dieses Mal, um ihm ihren Rücken zu präsentieren. Die Haare schob sie sich über die Schulter nach vorne.
      "Sie brauchen doch sicherlich keine Anleitung, oder? Seien Sie nur nicht schüchtern, bei solchen Angelegenheiten muss man manchmal nur richtig zupacken."
      Man konnte ihr freches Grinsen geradezu hören.

      Als Thomas sich nicht rührte, kam Verona auf ihn zu.
      Ihre Eleganz vom Abend war dem typisch schwerelosem Auf und Ab jedes Geistes gewichen, mit dem sie jetzt auf Thomas zu waberte. Ihr Kleid war noch immer schön, ihre Haare makellos, die Lippen blutrot, die Haut blass und durchscheinend, aber sie war eben deutlich erkennbar ein Geist. Ihre frühere Verführung mochte sich zwar nicht ausschließlich auf ihren materialisierten Körper berufen zu haben, aber es war doch ein deutlicher Faktor darin gewesen, der jetzt fehlte.
      Thomas wandte sich von ihr ab. In dem einen Moment, in dem ihre Verlockung einen Aussetzer machte, als er seinen Blick abwandte, übergab er seinem Instinkt die Kontrolle, der auf Hochtouren arbeitete. Er drehte sich zur Tür um.
      "Thomas", erklang die hauchende Stimme, die Liebkosung in seinem Gehirn. "Tanz mit mir."
      Er zögerte, griff in seine Hosentasche. Wonach, in Gottes Namen, suchte er? Es musste unfassbar wichtig sein.
      Er drehte sich wieder zu dem Geist um. Sie kam noch immer näher.
      "Ich habe Verpflichtungen", begann er, nicht viel lauter als ein Raunen. Es war ein Leitspruch seiner Taten, seiner Arbeit und sein persönliches Mantra. "Ich habe Verpflichtungen gegenüber den Menschen, ihren Vorfahren und ihrer Nachkommen. Ich tilge von der Erde, was nicht Gottes Plan war zu schaffen, und säubere seine Welt vom Anblick des Teufels. Sein Reich komme, sein Wille geschehe."
      "Oh, Thomas."
      Verona lächelte, vielleicht lachte sie ihn aus.
      "Rede doch keinen Unsinn und komm her. Wir können noch lange weiterfeiern, lange in die Nacht hinein, nur du und ich. Niemand wird davon wissen, nicht deine kleine Freundin, erst recht nicht Vincent. Wir werden einfach nur ein wenig Spaß haben."
      Aber was Verona womöglich für einen billigen - und noch dazu wirkungslosen - Exorzismus hielt, erreichte bei Thomas selbst schon den Effekt seines Mantras. Seine Atmung verlangsamte sich, sein Herzschlag und mit ihm lichtete sich ein wenig der graue Nebel in seinem Kopf, gerade soweit, um seinen trainierten Instinkt durchscheinen zu lassen. Er zwang seinen Körper in den Jagdmodus, um die Kontrolle wieder zu erlangen.
      Erneut drehte er sich zur Tür um, drückte sie auf, trat nach draußen. Er hörte Verona hinter sich, die Enttäuschung in ihrer Stimme, vielleicht auch Zorn? Er führte das Mantra in seinem Kopf weiter, blendete ihre Worte damit aus, zwang sich mechanisch, die Steinstufen zu erklimmen. Hinter sich wandelten Veronas Bitten sich deutlich in Zorn um, in Verzweiflung, in gespielte Trauer. Ihr Zauber, mit dem sie ihn wieder einzufangen versuchte, zerrte an ihm, nagte an ihm, versuchte die Kontrolle wieder über ihn zu erlangen. Jeder Schritt auf den Stufen war eine Herausforderung, die es erst zu meistern galt, bevor er weiter aufstieg. Veronas Stimme wurde nicht leiser, aber sie schien ihm nicht zu folgen.
      Er erreichte das Foyer, strebte die Treppe nach oben an, hielt sich selbst auf und suchte nach dem versteckten Gang, der in den Frühstückssaal führte. Er fand ihn, ging hinein, fand sein Kruzifix und dämmte damit die klagende Stimme in seinem Kopf, bis er sich selbst genug unter Kontrolle hatte, um seine Gedanken zu klären.

      Als er ein paar Minuten später die Tür zum Studierzimmer öffnete, warf ihm Darcy einen absoluten Unschuldsblick zu. Seine Anwesenheit überraschte sie durchaus, erkennbar durch ihr abruptes Herzrasen und dem Panikschweiß, der sich über ihren Handflächen ausbreitete, aber oberflächlich blieb sie vollkommen unbewegt.
      "Thomas! Da bist du ja!"
      Sie stand auf, tänzelte zu ihm, als wäre nichts geschehen, und schloss ihn in ihre Arme.
      "Ich habe dich schon vermisst, es war so dunkel im Zimmer, so einsam, zum Glück war Lord Harker noch wach!"
      Er starrte Harker an, sah dann zu Darcy hinab. Sein Kopf fühlte sich noch leicht lädiert von Veronas aggressivem Eindringen - und den Resten des Alkohols. Im Moment wusste er mit dieser Situation gar nichts anzufangen.
      "Würdest du uns wohl für einen Moment alleine lassen, Darcy?"
      Sie drehte sich halb zu Harker um, plötzlich Panik in ihren Augen. Sie hatte sich aber schnell wieder im Griff und lächelte wieder zu Thomas hoch.
      "Sicher. Ich warte auf dich, lass dir nicht zu viel Zeit."
      Sie strich ihm mit der Hand über die Wange, schob sich dann an ihm vorbei und schloss die Tür hinter sich.
      Thomas starrte unbewegt auf Harker hinab. Sein Herz schlug bei dessen Anblick wieder höher, nur sein Kopf fühlte sich noch dumpf an.
      "... Meine Frau, bei Ihnen? Was darf ich darunter verstehen?"
    • "Aber selbstverständlich werde ich Ihnen helfen," antwortete Vincent und rückte näher an die Frau heran, sobald sie sich umgedreht hatte.
      Ihm schlug der Duft von Rosen entgegen, als sie ihr Haar nach vorn warf, um ihm freie Sicht auf die Schnüre zu geben, die sie ihren Körper in die steife Form des Korsetts zwangen.
      Mit flinken Fingern löste er Knoten für Knoten und befreite die Dame Stück für Stück von ihrem Gefängnis der Gesellschaft. Dabei ging er sicher, nicht mehr als die Schnüre zu berühren. Eine willkommene Ablenkung zu den Gedanken an Ms. Brooks' schlangen Hals, der sich ihm gerade mehr als nur einladen präsentierte. Vincent hatte sich unter Kontrolle, das hatte er schon seit Jahrzehnten. Aber in einer solchen Nacht und mit einer solchen Versuchung direkt vor ihm, musste selbst er schlucken.
      "Na bitte. Da fällt das Atmen doch gleich viel leichter, oder nicht?" fragte er, als er auch den letzten Knoten gelöst hatte.
      Sofort rutschte er wieder ein wenig von der Frau ab, versuchte dem Rosenduft zu entkommen. Glücklicherweise musste er sich nicht mehr lange mit der Dame beschäftigen, denn da tauchte Thomas schon auf. Der Mann wirkte ein bisschen durch den Wind.
      Während Ms. Brooks und der gute Doktor kurz miteinander redeten, faltete Vincent das auf dem Sofa zurückgelassene Korsett und legte es auf den Kaffeetisch. Dann lehnte er sich zurück, ein charmantes Lächeln auf den Lippen. Er winkte Ms. Brooks, als diese in die Dunkelheit seines Flures verschwand.
      "... Meine Frau, bei Ihnen? Was darf ich darunter verstehen?"
      Vincent lachte leise.
      "Was auch immer Sie wollen, Doktor. Fakt ist, dass Ms. Brooks zu mir kam und beinahe sofort mit Avancen in meine Richtung anfing, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Habe ich aus den Schuhen geholfen? Ja. Habe ich ihr aus dem Korsett geholfen? Ja. Doch ich kann Ihnen versichern, dass ich das nur tat, weil man eine betrunkene Frau weder in hohen Schuhen durch die Gegend wandern lassen, noch ihre Atmung beeinträchtigen sollte, finden Sie nicht?"
      Er stand auf und schlenderte hinüber zu Thomas, bis sie nur noch wenige Zentimeter von einander trennten.
      "Ich habe Ihnen doch bereits mehrfach gesagt, dass mein Interesse allein Ihnen gilt, Doktor. Wir können Ihre Freundin gern dazu holen, wenn das Ihr Wunsch ist, mir es egal."
      Er machte einen weiteren Schritt nach vorn, schob Thomas gegen die Wand wie noch am Nachmittag. Zimt und Rosen kämpfen gegeneinander um seine Aufmerksamkeit. Vincent atmete den Duft des Van Helsings tief ein, um die Erinnerung an Ms. Brooks so schnell wie möglich aus seinem Verstand tilgen zu können.
      "Und jetzt erzähl mir, welche Geister dich in ihren Bann gezogen haben, Thomas," raunte er.
    • Thomas ließ sich für den Moment von den Emotionen iritieren, die in ihm aufwirbelten. Es war die Mischung aus der Bestürzung, dass seine Frau ihm fremd gehen könnte, der Scham, dass er selbst nichts anderes tat und dem Missmut, dass Harker womöglich andeutete, dass er sich nicht richtig um sie kümmerte. Das alles mischte sich mit seiner aufkeimenden Aufregung, als der Lord keine weitere Sekunde verschwendete, um zu ihm zu kommen. Seine Finger zuckten, er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass er den Körper des anderen so anziehend fand.
      "Wir holen niemanden hinzu", erwiderte er, mehr eine Tatsache als eine Frage. Er wollte niemanden um sich haben, der ihn von dem reizenden Mann vor sich abgelenkt hätte.
      Harker drängte ihn erneut an die Wand zurück und Thomas spürte die Erregung in sich aufwallen, als hätte sie nur den ganzen Tag auf diesen einen Moment gewartet. Die kühle Wand hinter ihm bestärkte ihn in dem Gefühl, sich wieder zur Beute zu machen, und das empfand er auf unerklärliche Weise reizend, wobei er nicht glaubte, dass Darcy ein solches Gefühl in ihm hervorzurufen vermochte, geschweige denn ein anderer Mensch.
      Dieses Mal widerstand er der Versuchung nicht und schlang gleich die Arme um die Hüfte des anderen, presste ihn an sich, um den größtmöglichen Körperkontakt herzustellen. Seine raunende Stimme ließ Veronas Verführungsversuch in weite Ferne rücken.
      "Ich glaube", startete er langsam, während sein Gehirn noch ratterte, "einer tut es gerade in diesem Moment."
      Er senkte den Blick auf Harkers Lippen, musste sich für einen Moment dazu überwinden, lehnte sich dann nach vorne und küsste ihn. Das Gefühl war noch gänzlich ungewohnt, aber nicht unangenehm. Es stichelte ihn zu mehr an.
      "Abgesehen davon glaube ich", murmelte er widerwillig zwischendrin, "dass in Ihrem Keller eine Geisterfeier stattfindet."
    • Vincent grinste, als der Doktor endlich ein bisschen Eigeninitiative übernahm. Noch war er zaghaft, zurückhaltend, als wäre er sich nicht sicher, was er hier eigentlich tat. Das allein, stachelte Vincent an, weiterzumachen.
      "Ich versichere dir, Thomas: Ich bin kein Geist und ich habe nicht vor, so bald einer zu werden."
      Er beugte sich wieder vor, fing den Mann in einem weiteren Kuss ein. Vergessen waren die Rosen, das Korsett, die Geister in seinem verdammten Keller.
      Vincent packte den Doktor am Hals, als er sich aus dem Kuss löste. Mir dem Daumen strich er über ihm über die Halsschlagader. Der kräftige, schnelle Herzschlag, den er dort nur zu deutlich spüren konnte, zog ihn auf geradezu magische Art in seinen Bann.
      "Thomas," raunte er, als er seinen Blick von der zarten Haus losriss. "Wie willst du mich haben?"
      Er ließ den Doktor los, trat ein paar Schritte zurück. Er breitete die Arme aus und präsentierte sich selbst. Thomas' Unwissenheit reizte ihn auf eine Art und Weise, wie es Vincent schon lange nicht mehr erlebt hatte. Der gute Doktor war bei weitem nicht sein erster, aber nur sehr selten hatte er die Gelegenheit gehabt, einem anderen Mann zu zeigen, was dieser wirklich wollte. Er wollte erleben, wie Thomas zu sich selbst fand, er wollte ihm alles zeigen, was Thomas sich selbst sein Leben lang versagt hatte, er wollte wollte dafür verantwortlich sein. Er wollte Thomas.
      "Ich weiß, was ich will," fuhr Vincent fort. "Wann immer du dachtest 'Nein, das kann ich nicht tun'... ich will, dass du dich an all diese Male erinnerst. Und ich will, dass du es tust. Mit mir. Keine falsche Zurückhaltung, Thomas. Die Nacht gehört uns. Uns ganz allein."
    • Ein weiterer Kuss folgte, eine weitere Berührung von Harker, die nicht besser hätte sein können, als konnte der Mann riechen, was Thomas noch kennenzulernen versuchte. Er schloss die Augen, gab sich dem neuartigen Gefühl mit jeder Faser seines Körpers hin und fühlte die Erregung in sich brodeln. Er öffnete sie erst wieder, als Harker die nächsten Worte sprach, die zu traumhaft waren, um der Wirklichkeit zu entsprechen. Er musste sich selbst davon überzeugen, dass er nicht träumte.
      Er musterte den Mann einmal ungehemmt von oben bis unten, ließ sich auf jede Stelle ein, die sein Augenmerk fing, ohne sich davon beirren lassen zu müssen, dass ihn vielleicht jemand beobachtete, dass jemand erraten konnte, was hinter diesem Blick steckte. Er musterte ihn, wie er ihn schon den ganzen Abend hatte mustern wollen, ach was, den ganzen Tag schon, ach was, seit er ihn das erste Mal gesehen hatte. Es fühlte sich falsch an sich keine Gedanken darum machen zu müssen, ob er dabei beobachtet wurde, aber er überwand sich dennoch dazu, allein schon weil es so gut war. Er wollte Harker mit all seiner Aufmerksamkeit betrachten, er wollte, dass seine Augen verrieten, was seine Lippen nicht in Worten formen würden. Er wollte diesen Mann begehren.
      Er sah wieder zu ihm auf, beobachtete seine Lippen, während er sprach. Nachdem er nicht mehr zum Augenkontakt gezwungen war, der Sitte wegen, ließ er es auch größtenteils bleiben.
      Harker wollte, dass Thomas nachholte, was er sich vorenthalten hatte. Er sollte sich an all die Male erinnern und auch, wenn es ihn einen Moment brauchte, um die verdrängten Erinnerungen zurück ans Tageslicht zu holen, fand er doch genug davon. Die Jungen im Studium, die kräftigen Arbeiter auf der Straße, die männlichen Huren, ja sogar ein paar seiner Patienten. Der Notar, der ihn und Darcy beraten hatte, als sie über einen Hauskauf nachgedacht hatten.
      Stephen.
      Es schien ihm gefährlich alle diese Gefühle auf einmal auf Harker zu projizieren, als würde er damit einen Teil seiner Selbst einreißen. Es schien ihm überhaupt gefährlich diese Träumereien auszuleben, aber diese Grenze hatte er wohl übertreten, als er die Türschwelle zu diesem Zimmer übertreten hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr, erst recht nicht mit diesem Mann vor sich, der sich ihm wirklich und wahrhaftig mit seinem ganzen Körper darbot.
      Er schluckte, versuchte seine Gedanken zu sortieren. Was zuerst?
      Was zuerst? Herrgott.
      Aber Gott würde an diesem Abend in diesem Zimmer nicht anwesend sein, das hatte er in diesem Moment spontan entschieden.

      Er ging wieder zu Harker, umschlang ihn wieder, zwang ihm einen Kuss auf. Er wollte vieles, alles. Er wollte alles auf einmal.
      "Auf das Sofa", raunte er schließlich, trieb Harker schon darauf zu. Das war eine sichere Entscheidung, ein guter Anfang. Er wusste nicht, für welches Verlangen er sich als erstes entscheiden sollte, und so entschied er sich für das ihm vertrauteste, auch wenn das eigentlich das Bett gewesen wäre. So musste er eben improvisieren.
      Er küsste Harker schon, bevor sie dort ankamen, schob die Hände unter sein Hemd und zog es ihm aus dem Hosenbund. Er war nicht schnell genug, es ihm auszuziehen bevor sie das Sofa erreicht hatten, musste mit den Knöpfen fummeln. Seit wann war es so schwierig ein Hemd aufzuknöpfen? Er tat es schon sein Leben lang, aber halt nur an sich selbst.
      Er zog es ihm nach einer halben Ewigkeit endlich von den Schultern, betrachtete seine entblößte Brust, den Bauch, die Andeutung seiner Hüfte, die sich unter seiner Hose verbarg. Er musste sich dazu ermahnen nicht zu schnell zu machen, denn sonst wäre alles vorbei, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte.
      Den folgenden Teil konnte er wenigstens gut. Er legte eine Hand in Harkers Nacken und drängte ihn rücklings auf die Couch, fing sie beide mit seiner anderen Hand ab und bettete ihn unter sich. Der Anblick des liegenden Mannes unter ihm war allein schon Reiz genug, um innezuhalten und einen tiefen Atemzug zu nehmen. Wenn das so weiterging, würde er sich noch in seine eigenen Hose ergießen.
      "Gib mir einen Moment", brummte er, versuchte seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Darcys Korsett lag noch immer auf dem kleinen Tisch und sorgte für eine fantastische Ablenkung.
      "Wir sollten nicht… nun, wir sollten nicht die ganze Nacht hier verbringen. Darcy wird mich sicherlich vermissen… irgendwann."