In his Thrall [Codren feat. Pumi] [ABGESCHLOSSEN]

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    • Vincent entschuldigte sich nach dem Frühstück und verschwand zurück in sein Schlafzimmer - aber nicht, ohne Thomas vorher noch einen Kuss auf die Wange zu setzen.
      "Musstest du Esther so überfallen?" fragte Nora, die oben gerade damit beschäftigt war, sein Bett zu machen.
      Sie hatte dankenderweise die Vorhänge wieder zugezogen.
      Vincent, sich keiner Scham bewusst, schälte sich aus seiner Robe und warf sie über die Lehne eines Sessels, bevor er sich mit der Frage beschäftigte, was er anziehen sollte.
      "Wenn du das jemandem in die Schuhe schieben willst, dann dir selbst. Du weißt, wie ich bin, wenn er in der Nähe ist und trotzdem hast du Esther mit ins Esszimmer gebracht."
      Dafür bekam er eines seiner Zierkissen an den Kopf geworfen.
      Es folgte ein kurzer Moment der Stille zwischen ihm und Nora, während er sich in einen schlichten, bequemen Anzug zwang, und Nora ihrer Arbeit nachging.
      "Solltest du wirklich so viel in der Sonne rumlaufen? Dir geht es immer noch nicht gut, Vincent," brach Nora dann das Schweigen.
      Vincent kam zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern und lächelte aufmunternd.
      "Mir wird schon nichts passieren," sagte er.
      "Das hast du das letzte Mal auch gesagt," gab sie zurück.
      Vincent seufzte.
      "Das letzte Mal war ich aber nicht zu Hause und in Gesellschaft eines mordlustigen Idioten. Das bin ich dieses Mal nicht. Vielleicht willst du ein Glas bereithalten, wenn wir wiederkommen. Nur um sicher zu gehen."
      Dieses Zugeständnis schien Nora zu beruhigen.
      "Glaubst du, er hat einen ordentlichen Mantel dabei?" fragte sie, das Thema wechselnd.
      "Thomas? Niemals. Du hast seinen Aufzug am Ball doch gesehen."
      "Dann hole ich wohl zwei aus dem Keller."
      Vincent schenkte Nora einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und gemeinsam verließen sie sein Schlafzimmer wieder. Sie verschwand in Richtung der alten Bedienstetenflure, die hinter dem ganzen Pomp des alten Hauses verliefen, während Vincent die große Treppe in sein Foyer hinunterging, wo er einen vielsagenden Blick auf Thomas Aufzug warf.
      "Winterfest, hm? Meckere bloß nicht rum, wenn du krank wirst."
      Keine Minute später kehrte Nora zurück. Sie und ein junger Mann in Vincents Diensten brachten den beiden Männern schwere Mäntel mit Fellkragen.
      "Die sind zwar ein bisschen altmodisch, aber sie funktionieren hervorragend, du wirst schon sehen," meinte Vincent, während Nora ihm in den Mantel half.

      Draußen war es wirklich bitterkalt. Der Himmel war zugezogen, aber dank dem ganzen unangetasteten Schnee in der Gegend war es nicht wirklich grau. Es schneite gerade auch nicht.
      "Was willst du zuerst sehen?" fragte Vincent. "Mein geheimes Bordell oder doch lieber den Tempel, in dem ich den Teufel anbete? Ich hätte auch einen zugefrorenen See im Angebot, aber das wäre ja langweilig."
    • Vincents Blick sprach bereits Bände, als er herunterkam, und Thomas bereitete im Gegensatz schon die Falten auf seiner Stirn darauf vor, sich zu verschärfen. Schließlich wurden Gedanken laut ausgesprochen.
      "Willst du deinen Arzt etwa über angemessene Winterkleidung belehren? Das verletzt meinen Stolz zutiefst, Vincent."
      Zugegeben, wenn Vincent in einem solchen Aufzug aufgetaucht wäre, hätte er ihn nicht in hundert Jahren vor die Tür gelassen - daran hätte auch eine hübsche Brust und verführerische Augen nichts geändert. Der einzige Unterschied war, dass Thomas sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Bei Vincent wollte er lieber von vornherein kein Risiko eingehen.
      Er sagte nichts weiter, als auch Nora wieder auftauchte, begleitet von einem männlichen Angestellten. Thomas runzelte die Stirn und ließ sich in den Mantel helfen. Eine Minute später hatten sie eine dicke Tür zwischen sich und die Belegschaft gebracht und stellten sich dem letzten, eisigen Tag des Jahres, der so winterlich und trüb war, wie man es von einem Tag im Dezember nur erwarten konnte. Die Luft war so kalt, dass sie auf ungeschützten Körperstellen regelrecht brannte. Thomas war binnen Sekunden vollkommen nüchtern.
      Jetzt doch etwas dankbar um den Mantel, schob er die Hände tief in seine Taschen und versuchte, ihn dicht am Körper zu halten. Zum Glück windete es nicht allzu stark, sodass es sogar ziemlich erträglich war.
      Sie setzten sich auf knirschendem Schnee in Bewegung und folgten einem für Thomas unsichtbaren Pfad, den Vincent im Gegenzug auswendig zu kennen schien.
      "Jetzt ist der Teufel auch noch auf deinem Grundstück? Ich dachte, das wäre der Tempel, in dem du die Babys isst. Oder das Blut trinkst? Ich habe es schon wieder vergessen."
      Er warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
      "Ich glaube, ich bin noch nicht bereit, so intim mit dir zu werden, um das zu sehen. Dann muss es eben der See tun, wie schade."
      Sie gingen dicht beieinander aus Ermangelung an viel Gehweg. Die Gegend war weitläufig und bot im Sommer sicherlich eine wunderschöne Ebene. Thomas erwischte sich dabei, wie er sich wünschte, lieber im Sommer mit Vincent hier spazieren zu gehen.
      "... Seit wann hast du eigentlich auch Männer bei dir angestellt? Ich habe bisher immer nur Frauen bei dir gesehen."
      Und das wäre ihm auch so recht gewesen, aber ein Mann unter der Dienerschaft? Und ein junger, ansehbarer noch dazu? Thomas warf Vincent einen Blick zu. Er war nicht eifersüchtig, ganz sicher nicht, aber man durfte sich ja mal interessieren.
      Er schob die Hände tiefer in die Taschen.
    • "Ich esse doch keine Babies! Das sind Opfergaben an den Teufel und seine dämonische Schar. Ausschließlich Erstgeborene, natürlich."
      Grinsend stieß er Thomas mit seiner Schulter an, dann setzte er sich in Bewegung, um dem Mann seinen weitläufigen, eingeschneiten Garten zu zeigen. Hier und da konnte man noch ein weiteres Gebäude sehen - die beiden Wohnhäuser für seine Belegschaft, einen Schuppen für die Gärtner und ihre Gerätschaften, ein alter Stall.
      "Schon immer?" beantwortete Vincent die Frage des anderen. "Ich habe dir doch gesagt, dass ich jeden Vertrag aufkaufe, wenn ich Misshandlungen sehe. Leider sehe ich das sehr oft - beinahe jedes Mal, wenn ich mich in Gesellschaften herumtreibe - also habe ich auch eine kunterbunte Belegschaft. Den Platz dafür habe ich ja. Und wenn die beiden Häuser, die ich zur Verfügung habe, eines Tages nicht mehr ausreichen, um alle unterzubringen, dann baue ich eben ein neues."
      Er zuckte mit den Schultern und traf die bewusste Entscheidung, Thomas' kleinen Anfall von Eifersucht zu ignorieren.
      Unterwegs begegneten sie zwei weiteren Frauen, die Vincent beschäftigte. Eine von beiden, die jüngere, schob einen Kinderwagen vor sich her. Vincent strahlte, als er die beiden sah, und eilte zu ihnen.
      "Annette! Wie geht es dem kleinen Stuart?" fragte er und beugte sich über den Kinderwagen, in dem ein kleiner Junge friedlich vor sich hin schnarchte.
      "Ihm geht es gut, danke der Nachfrage," antwortete die junge Frau.
      "Das freut mich zu hören. Lass es mich wissen, wenn du irgendetwas für den kleinen Fratz brauchst, ja? Bloß nicht zögern."
      Sie nickte und die beiden Frauen verabschiedeten sich von Vincent, bevor sie weitergingen. Vincent sah ihnen einen langen Augenblick nach, bevor er zu Thomas zurückkehrte.
      "Hast du dieses Lächeln gesehen? Deswegen mache ich das. In ihrem vorherigen Haushalt hätte Annette das Baby abgeben müssen, weil sie keine Zeit für ein Kind hatte. Entweder das, oder sie hätte ihre Anstellung verloren, vielleicht sogar beides. Und was macht sie hier? Hier muss sie nicht einmal arbeiten, solange Stuart noch so klein ist. Und wenn er älter wird, dann werde ich dafür sorgen, dass er eine gute Nanny bekommt, Lehrer, eben alles, was er braucht."
      War das Vincent Art, ein Vater zu sein, wohlwissend, dass er niemals eigene Kinder haben würde? Vielleicht. Er hatte nie groß darüber nachgedacht, Kinder zu haben und gerade als er alt genug war, um solche Gedanken zu haben, hatte man ihm die Wahl genommen. Dass er dabei auch half, alleinerziehenden Müttern eine Chance zu geben, dass er ihren Kindern mehr Chancen gab als ihre Geburt zuließ, war nur ein weiterer Bonus.

      Sie erreichten den See ein paar Minuten später. Das hier war kein kleines Wässerchen in einem Stadtpark, sondern ein richtiger See, groß genug, um ihn mit einem Boot zu überqueren. Einem Boot, das gerade ordentlich vertäut in dem kleinen Bootshaus am Ufer wartete.
      Vincent ging hinüber zum Rand des Sees und prüfte, wie dick das Eis war. Er hob einen Stein auf und warf ihn auf die Eisfläche. Der dumpfe Einschlag hinterließ kaum Spuren.
      "Kannst du Schlittschuhlaufen?" fragte er Thomas, während er sich schon in Richtung Bootshaus bewegte.
    • Thomas presste die Lippen aufeinander und ging nicht weiter drauf ein, genauso wenig wie Vincent die Sache weiter ausführte. Natürlich hätte er Anschlussfragen gehabt, ob er denn jemals darüber nachgedacht hatte mit einem seiner Angestellten…? Oder ob er grundsätzliches Interesse an bestimmten Dingen zeigte? Ob die anderen es zeigten?
      Aber er war ja schließlich nicht eifersüchtig und daher beschränkte er sich darauf, stur geradeaus zu schauen und zu schweigen.
      Auf ihrem Weg durch das Grundstück trafen sie wohl auf weitere Bedienstete, denn Vincent begrüßte sie so herzlich, dass man meinen könnte, er sähe alte Freunde wieder, und eilte zu ihnen hinüber. Thomas hatte gar keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
      Irritiert über den Anblick, den die kleine Gesellschaft bot, blieb er im Hintergrund stehen. Er hatte Vincent nie in Gedanken mit Kindern verbunden, aus dem schlichten Grund, dass der Mann nicht so wirkte, als hätte er gerne welche um sich. Schließlich beschäftigte er sich die meiste Zeit mit Büchern und das schien nun nicht sehr kindgerecht. Und wenn es doch der Fall war, hätte er doch sicherlich schon längst eine Frau, mit der er welche gezeugt hätte, oder etwa nicht?
      Was auch immer der Ausgang dieser Frage wäre, es berührte Thomas, mit welcher Fürsorge Vincent mit seinen Angestellten umging. Er hatte ja bereits erfahren, dass der Mann in bestimmten Kreisen ein Samariter war, aber er war es auch noch mit einer solchen Leidenschaft, als würde er sein ganzes Leben nur danach ausrichten. Vielleicht tat er das sogar auch. Thomas glaubte, dass dieser Mann noch nie so schön gestrahlt hatte wie in diesem Augenblick.
      "Du bist ein guter Mann, weißt du das?", fragte er, als sie weitergingen. "Besser als die meisten Menschen heutzutage. Das ist überaus löblich."
      Er wäre sogar so weit gegangen seine Hand zu ergreifen, aber in der Kälte beschränkte er sich doch lieber auf auf ein kurzes Lächeln in Vincents Richtung.
      Sie kamen an den angekündigten See, der sich in seiner erstaunlichen Größe nach allen Seiten weitete. Er war tatsächlich zugefroren, so wie eine dicke Eisschicht zu verstehen gab, auf der sich schon der neue Schnee etwas abgelegt hatte. Thomas folgte Vincent zum Eis hinab.
      "... Wie bitte?"
      Er hatte ihn für einen Moment tatsächlich nicht verstanden. Dann, als seine Worte endlich einsackten, hatte Vincent sich schon in Bewegung gesetzt.
      "Wie bitte?!"
      Vor dem Bootshaus holte er ihn ein.
      "Du hast doch nicht allen ernstes vor, darauf Schlittschuh laufen zu gehen?"
      Leider kannte er den Mann schon gut genug, um gar keine ernste Antwort zu benötigen.
      "Das wirst du nicht tun, auf gar keinen Fall! Selbst wenn du es kannst - ich kann es nämlich nicht - das ist eine absolut schlechte Idee! Was ist, wenn das Eis einbricht, wer wird dich dann rausholen? Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass ich auch kein sehr guter Schwimmer bin, ganz besonders nicht in Eiswasser!"
    • Vincent lachte, drehte sich zu Thomas um und setzte seinen Weg zum Bootshaus rückwärts fort.
      "Ich habe das Eis eben getestet. Es ist dick genug zum Schlittschuhlaufen, keine Sorge," sagte er.
      Doch als er Thomas' besorgte Blicke in Richtung des zugefrorenen Sees sah, blieb er stehen, bis der Mann in ihn hineinrannte. Er ergriff Thomas' Hände, die trotz der Kälte hier draußen immer noch warm waren - sehr viel wärmer als seine eigenen.
      "Ich könnte dir jetzt sagten, dass ich am Rand bleibe, wo das Wasser nicht besonders tief ist. Dass ich das schon dutzende Male gemacht habe und noch nie etwas passiert ist. Dass da Spuren auf dem See sind, wo andere schon Schlittschuh gelaufen sind."
      Er strich über Thomas' Wange, als könnte er damit die Sorgenfalten im Gesicht des anderen glätten.
      "Aber das werde ich nicht. Und ich werde mir keine Schlittschuhe an die Füße schnallen und dich dazu zwingen, das Gleiche zu tun."
      Vincent stahl sich einen Kuss, bevor er seinen Weg zum Bootshaus fortsetzte. Er zog Thomas an einer Hand hinter sich her.
      Das Bootshaus war kein wirkliches Haus. Es war auf der dem See zugewandten Seite komplett offen und hatte keinen durchgehenden Boden, was es leichter machte, eines der drei Ruderboote, die jetzt im Winter über dem Eis an Seilen hingen, ins Wasser zu lassen. Extra Ruder standen in einer Ecke, es gab einen Tisch mit Werkzeug, um die Boote zu reparieren oder den See sauber zu halten, an einer Wand hingen mehrere Paare Schlittschuhe und einsame Kufen, die man sich an die eigenen Schuhe binden konnte. Vincent ignorierte alles davon und nahm Thomas mit durch den Raum, vorbei an den Boten und Schlittschuhen zu einer Tür, die aussah, als führe sie auf der anderen Seite wieder hinaus. In Wahrheit versteckte sich dahinter eine schmale, etwas steile Treppe.
      Vincent schenkte Thomas ein fröhliches Lächeln, bevor er die Stufen erklomm. Das Stockwerk über dem Bootsraum war nichts allzu Besonderes, aber es hatte seinen eigenen, gemütlichen Charme mit den dicken Teppichen, die über Jahre aufeinandergestapelt worden waren, mit dem alten Sofa, das von mehr Kissen belagert wurde, als Sinn machte, dem Stapel Decken in der Ecke, und der Aussicht auf den zugefrorenen See hinter einem großen Fenster.
      Vincent huschte hinüber zu dem winzigen Kamin, überprüfte den Abzug, und machte sich dann daran, ein Feuer zu entzünden. Als die Flammen kurze Zeit später anfingen, den Raum mit ein bisschen Wärme zu füllen, wandte er sich mit einem breiten Grinsen Thomas zu.
      "Besser?" fragte er.
    • Es hätte wohl nichts gegeben, was Thomas in irgendeiner Weise beruhigt hätte, außer die schiere Aussage, doch nicht das Eis zu betreten. Dementsprechend blieb er besorgt, bis Vincent ihn schließlich erst damit besänftigte und einen Kuss auf die Lippen hauchte. Verstohlen sah er sich um, ob sie jemand gesehen hatte, bevor er von dem anderen Mann mitgezogen wurde.
      Die Utensilien im Bootshaus selbst ließen darauf schließen, dass Vincent keineswegs gelogen hatte und dieses Vorhaben schon einige Male in die Tat umgesetzt haben musste. Thomas mochte sich gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er tatsächlich eines Tages eingebrochen wäre; dann hätten sie sich wohl nie kennengelernt, schätzte er. Der Gedanke kam ihm äußerst deprimierend vor.
      Bei der Tür auf der anderen Seite offenbarte sich ihnen dann eine Treppe nach oben, der sich Vincent mit derselben Fröhlichkeit, die er schon die ganze Zeit in sich hatte, stellte. Es lag etwas in der Art, wie er sich vor der ersten Stufe zu Thomas umdrehte, wie sein ganzes Gesicht dabei zu strahlen schien, wie seine Augen Thomas mit einer Endgültigkeit erfassten, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Nicht zum ersten Mal glaubte er, diesen einen Anblick nie vergessen zu können, wie Vincent vor ihm zu ihm zurückblickte, ihrer beide Hände miteinander verschränkt, das dämmrige Licht in der Hütte, das seine Züge erhellte. Das Lächeln in seinem Gesicht. Vincent war atemberaubend schön wenn er lächelte, wenn sich die kleinen Falten auf seinen Wangen bildeten. Thomas spürte sein Herz springen.
      Er folgte ihm nach oben, diesmal ohne einen weiteren Kommentar über sein Vorhaben oder ihren Aufenthaltsort zu machen, und fand sich in einer recht gemütlichen Dachkammer wieder, die ein wenig rustikaler wirkte als das sonstige so prunkvolle Anwesen. Der Ausblick auf den See war idyllisch, beinahe schon träumerisch, wie vereist er sich vor ihnen in der Landschaft ausbreitete. Thomas trat ans Fenster, während Vincent zum Kamin ging und ihn in Betrieb nahm. Als das Feuer aufloderte, sah er zu ihm hinüber.
      "Ja." Jetzt lächelte er selbst. "Besser."
      Er streckte die Hand auffordernd nach Vincent aus, damit der Mann zu ihm kam und ergriff beide seiner Hände, bevor er ihn an sich zog. Vincents Haut war kalt, beinahe schon eisig. Thomas legte ihm eine Hand an die Wange.
      "Ist dir etwa kalt? Du hättest dich besser anziehen sollen."
      Er zog ihn an sich und küsste ihn freimütig auf die Lippen - wer sollte sie hier schließlich auch sehen, etwa der See? Auch Thomas war kalt, aber er öffnete seinen Mantel dennoch und leitete Vincents Hände in einer Umarmung zu seinem Rücken, damit er sich wenigstens aufwärmen konnte. Die eigenen Arme schlang er um die Schultern des Mannes.
      "Tut mir leid wegen dem Schlittschuhlaufen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustieße; da spricht wohl der Doktor und Liebhaber gleichzeitig aus mir."
      Er lächelte ein wenig und reckte sich, um Vincents Stirn zu küssen. Dann löste er sich wieder ein bisschen von ihm.
      "Das ist ein hübscher Raum. Vielleicht nicht sehr... adäquat eingerichtet. Wozu, damit du mal deine Ruhe hast? Oder besser gesagt wir?"
    • "Sprach der Mann, der nicht einmal einen richtigen Wintermantel besitzt," gab Vincent frech zurück, bevor er sich in den Kuss lehnte.
      Und in die Umarmung des anderen. Thomas' Wärme war im Augenblick wirklich mehr als angenehm. Vincent mochte zwar die langen Nächte im Winter, nicht aber die Kälte, die er mit sich brachte. Wenn sein Körper auskühlte, wurde er immer ganz träge, wie ein Bär, der Winterschlaf machen musste. Nicht sehr angenehm, wenn die eigenen Gedanken von Schnecken überholt werden konnten.
      "Ich kann nächste Woche immer noch Schlittschuhlaufen, wenn ich mich anderweitig beschäftigen muss, um nicht immerzu an dich zu denken."
      Als sich Thomas von ihm löste, entfernte sich Vincent von dem Fenster und ging vor dem Kamin in die Hocke, stocherte mit einem Schürhaken ein wenig darin herum. Dass er dabei dem Sonnenlicht ein bisschen entkommen konnte, war natürlich nur Zufall.
      "Ich habe meine Ruhe, wann immer mir danach ist. Aber meine Angestellten leben alle im gleichen, kleinen Haus. Sie sind diejenigen, die hin und wieder mal ein bisschen Zeit für sich brauchen. Das hier ist auch ein guter Ort, um nach solchen Abenteuern wie Schlittschuhlaufen wieder aufzutauen, oder im Sommer ein bisschen Schatten zu finden. Aber nur, weil dieser Ort hauptsächlich anderen dient, hindert das mich ja nicht daran, auch hier zu sein."
      Vincent schälte sich aus seinem schweren Wintermantel und legte ihn über einen einsamen Sessel in der Ecke. Stattdessen schnappte er sich eine der Decken und schlang sich die um die Schultern, bevor er sich auf dem Sofa niederließ. Für einen Moment drohte seine Müdigkeit ihn zu übermannen.
      "Manchmal komme ich her, weil das hier kleiner ist. Simpler. Hier oben fühle ich mich nicht wie Lord Harker. Hier bin ich einfach nur Vincent Caley."
      Vincent sah aus dem Fenster, aber er sah nicht den See, sondern eine einfachere Zeit. Eine Zeit lange bevor er seine Existenz in der Nacht fristen musste. Eine Zeit, zu der er wirklich nur Vincent Caley gewesen war.
    • Thomas machte ein Gesicht, das Vincent nicht sehen konnte, nachdem er sich wieder von ihm abwandte. Eigentlich wäre es ihm ganz recht gewesen, wenn der Mann nie wieder Schlittschuhlaufen gegangen wäre, auch wenn er einsah, diese Diskussion aufgeben zu müssen. Wenn es eins gegeben hätte, was Thomas sich über alles wünschte, dann war es diesen Mann, der sich in ihn verliebt hatte und dessen Gefühle er gewissermaßen teilte, vor allen Übeln dieser Welt zu schützen, seien es nun körperliche oder geistige. Das war schwachsinnig und völlig irrational, wie ihm sehr wohl bewusst war, aber etwas anderes hatte er nicht gelernt. Er existierte, um Menschen zu beschützen und er wollte all jene, die er liebte, in vollkommener Sicherheit wissen.
      "Es ist wirklich angenehm hier", bestätigte er. Kurz darauf schien der Ofen auch schon warm genug zu sein, denn Vincent schlüpfte unverhofft aus seinem Mantel und kuschelte sich stattdessen in eine der Decken. Es benötigte kein einziges Wort um Thomas davon zu überzeugen, dass dieser Ort der einzige war, an dem er jetzt sein wollte: Auf einem langsam aufheizenden Dachboden im gefühlten Nirgendwo, der von Schnee umgeben war und in dem es nur sie beide gab - sie beide und eine Menge Decken und Kissen.
      Er schlüpfte nach einem Moment ebenfalls aus seinem Mantel, fröstelte kurz in dem doch noch nicht recht warmen Raum und tat es dann Vincent gleich, indem er sich mit einer Decke um die Schultern neben ihn setzte. Eine auffordernde Armbewegung später und sie hatten beide Decken zu einer großen verbunden, die sie um sie beide legen konnten. Thomas legte den Arm um Vincents Schultern und zog ihn an sich. Der Mann hatte seinen Blick in eine unbekannte Ferne gerichtet.
      "... Vermisst du dein Zuhause, in Frankreich? Oder die Zeit bevor du Lord wurdest?"
      Er betrachtete das Seitenprofil seines Freundes, das ferne Glitzern in seinen lebhaften Augen. Er würde ihn ganz sicher vor allem Übel schützen, dessen war er in diesem Moment so überzeugt, wie er nur sein konnte. Er zog die Decke ein wenig enger um Vincent.
    • Vincent lehnte sich mehr aus Reflex gegen den warmen Körper, als er das bewusst tat. Vor seinem geistigen Auge sah er sich selbst da draußen auf dem See, keine zehn Jahre alt.
      "Mein Zuhause war nicht in Frankreich," antwortete er leise. "Dort habe ich bloß auf Wunsch meines Vaters gelebt, aber zuhause war ich dort nie. Das war hier, bei meiner Mutter. Aber die Oberschicht muss eben die Etikette lernen. Und wenn die entfernte Verwandtschaft aus einem Land stammt, in dem der Nachwuchs sonst niemanden kennt, dann ist das eben so. Er wird sich schon zurechtfinden, er spricht ja ein paar Worte Französisch."
      Vincent beobachtete sein kindliches Selbst über den See huschen. Lachend rauschte der kleine Junge über das Eis, nicht sicher, wie er abbremsen sollte. Doch seine Mutter fing ihn auf, stimmte in sein Lachen mit ein. Vincent erinnerte sich noch genau daran, wie er sich an diesem Wintertag aus dem Haus geschlichen hatte. Sein Vater war geschäftlich in London gewesen und ein Schneesturm zwei Tage zuvor hatte seine Reise nach Hause verzögert. Den Kindermädchen zu entwischen war ein Leichtes, suchten sie ihn doch bestimmt nur in der Bibliothek. Nach seinem siebten Geburtstag hatte Vincent seine Mutter kaum zu Gesicht bekommen. Bevor sein Vater aufgebrochen war, hatte er ihm mittgeteilt, dass er im Frühling nach Frankreich reisen würde, um dort zu leben. Vincent erinnerte sich noch genau daran, wie er seine Mutter angefleht hatte, mit ihm zu kommen. Damals hatte er noch nicht gewusst, dass das nicht ging. Er hatte es nicht verstanden, hatte es nicht verstehen wollen.
      Vincent seufzte und drückte sein Gesicht gegen Thomas' Halsbeuge, ignorierte die verlockenden Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten. Sein kalter, müder Verstand wollte ihn nur ärgern.
    • Thomas schwieg, während Vincent erzählte, weil er glaubte, dass mehr dahinter steckte als die bloße Erinnerung an vergangene Kindheitstage. Es wurde deutlich an der Art, wie untypisch schweigsam der andere Mann geworden war, wie wenig von seinem sonst so frechen Selbst an die Oberfläche kam. Er wollte ihn nicht drängen und gleichzeitig wollte er mehr über Vincents Vergangenheit erfahren, von der er bisher eher spärlich berichtet hatte.
      Er schob die Finger in Vincents Haare und streichelte seinen Kopf, mit der anderen Hand ergriff er Vincents um sie zu wärmen, auch wenn sie in etwa gleich kalt waren. Der Ofen brutzelte leise vor sich hin, die Wärme hatte sie noch nicht ganz erreicht.
      "Leben deine Eltern noch, deine Mutter? Du konntest sie doch sicherlich besuchen? Frankreich ist schließlich nicht am anderen Ende der Welt."
    • Vincent schüttelte den Kopf and Thomas' Hals.
      "Meine Mutter im darauffolgenden Winter verstorben."
      Weil sein Vater sich nicht dazu herablassen konnte, seiner Belegschaft ordentlich zu behandeln und ihnen wenigstens ein bisschen Würde zu gestatten.
      "Mein Vater hat das hohe Alter auch nicht erreicht, auch wenn er sehr viel bessere Chancen auf ein langes Leben hatte als sie."
      Vincent lachte kurz bitter auf.
      "Unsere französische Verwandtschaft war geradezu erleichtert als uns die Nachricht erreichte, dass ich jetzt seine Position halte. Enfin quelqu'un digne de ce titre haben sie gesagt. Endlich jemand, der diesen Titel verdient. Eine seltsame Aussage, wenn du mich fragst. Wie habe ich mir meinen Titel denn verdient? Indem ich geboren wurde? Das war ja wohl kaum meine Errungenschaft. Indem ich mich brav habe rumschubsen lassen? Das war nicht besonders schwer, wenn auch nicht angenehm. Aber erarbeitet habe ich mir gar nichts. Es wurde mir einfach alles ausgehändigt. Immerhin war ich danach frei zu tun und zu lassen, was ich wollte. Wirklich frei, so dachte ich, bis ich mit den ganzen Verantwortungen konfrontiert wurde. Es hat eine ganze Weile gedauert bis ich gelernt habe, dass ich sehr wohl tun und lassen kann, was ich will, solange ich nur all die hochwohlgeborenen Stimmen zu ignorieren bereit bin. Ich habe aufgehört, zu den Regierungstreffen zu gehen. Ich habe aufgehört, Einladungen zu Bällen und Salons nachzukommen. Ich habe aufgehört, mir all die hübschen, jungen, unverheirateten Töchter andrehen zu lassen. Die Gerüchteküche war natürlich am Brodeln, aber ich habe aufgehört, hinzuhören. Ich bin eigentlich nur auf dem Papier ein Lord, alles was damit einhergeht ist mir nämlich vollkommen egal."
      Was ihm nicht egal war, war der kräftige, ruhige Herzschlag, der direkt an seiner Wange pulsierte. Vincents Zahnfleisch schmerzte ein wenig und von jetzt auf gleich war er sich schmerzlich bewusst, dass er nicht für Ausflüge am Tag gemacht war. Seine Haut wurde ihm mit einem Mal zu eng, viel zu eng, seine Flange brannte wie Höllenfeuer und seine Augen schmerzten von dem gnadenlosen Licht der Sonne. Er müsste sich kaum Mühe machen, um sich Linderung zu verschaffen. Es war genau da, alles was er wollte.
      Vincent drängte das Monster in seinem Inneren nieder und platzierte einen hauchzarten Kuss auf Thomas' Halsschlagader, bevor er sich in der Umarmung dess Mannes nach unten sinken ließ, bis er seinen Kopf auf Thomas' Schoß legen konnte. Das Sofa war nicht unbedingt dafür ausgelegt, war es doch recht klein, also baumelten seine Beine über eine der Armlehnen, aber das machte Vincent nicht viel aus.
      "Und was ist deine tragische Geschichte?" fragte er mit einem sanften Lächeln. "So ein großes Haus kommt doch für gewöhnlich auch mit einer großen, unverdient reichen Familie. Und doch lebst du ganz allein dort."
    • Jetzt von Vincents Vergangenheit zu hören, die sich ausgesprochen trist und ausgesprochen verloren anhörte, stärkte nur noch das Gefühl in Thomas, den Mann beschützen zu wollen. Er bekam etwas mehr Aufschluss darüber, wie sein Vater wohl in der ganzen Familie angesehen wurde und verband das mit seinen bisherigen Informationen über Vincents Vergangenheit. Eigentlich war er ja nur ein junger Mann, der sich an einem Titel erfreuen konnte, der ihm regelrecht in den Schoß gefallen war. Thomas hatte schon gemerkt, dass Vincent nicht dem typischen Lord entsprach, besonders nicht nach der Art wie er lebte. Aber jetzt machte alles noch ein wenig mehr Sinn.
      Er tat ihm leid. Was hätte er nur alles getan, damit er den unangenehmen Teil seiner Kindheit vergessen konnte.
      Vincent legte sich auf seinem Schoß zurecht und Thomas zog die Decke über dessen Körper zurecht, bevor er damit weitermachte, über seine Haare zu streichen. Er wäre zur Seite gerückt, damit Vincent gänzlich auf das Sofa passte, aber dafür war es zu klein.
      "Meine Familie ist auch längst nicht mehr dort, wo sie einst gewesen ist und so wie deine vermutlich auch, haben wir keinen Kontakt zu unseren zurückgebliebenen niederländischen Verwandten. Ich bin mir nichtmal sicher, ob es außerhalb von England noch van Helsings gibt.
      Wir haben niemals woanders als in Cambridge gewohnt und das Haus hat sich mit den Jahren erweitert. Ursprünglich gab es mal nur das Erdgeschoss, dann baute der Vater meines… Vaters des… ach, so genau weiß ich das nicht. Irgendwer baute mal die erste Etage obendrauf und dann kamen noch ein paar Räume dazu, der Keller und die Veranda. Mein Großvater hat die riesigen Fenster einbauen lassen wegen der Vampire; er war auch derjenige, der sie damals in unser Haus gebracht hat. Nicht wortwörtlich, um Himmels Willen, aber er hat sie entdeckt und angefangen seine Wissenschaft mit ihnen aufzubauen. Frag mich nicht, wie er es geschafft hat, dem ersten Vampir zu begegnen und nicht zu sterben, denn dieses Geheimnis hat er mit ins Grab genommen.
      Jedenfalls waren wir zu dem Zeitpunkt eine große, englisch-niederländische Familie. Insgesamt waren es… 10, glaube ich. Vielleicht ein bisschen weniger, vielleicht ein bisschen mehr, mein Großvater hatte viele Geschwister.
      Er hat die Vampire entdeckt, er hat angefangen sie zu jagen. Er hat sie nicht oft körperlich gejagt, aber… das ist schwer zu erklären. Du kannst ihn dir vorstellen wie einen verrückten Wissenschaftler, der noch zu wenig über seine Materie weiß, um Rückschlüsse zu ziehen. Experimente hat er daher hauptsächlich gemacht, so hat er wohl in gewissermaßen gejagt. Die Experimente waren bei Vampiren wohl tödlich.
      Mein Vater hat diese Art zu jagen zwar aufgenommen, sich aber mehr auf die körperlichen Aspekte konzentriert. Er hat angefangen, Vampire zu köpfen, weil das schneller und effektiver ging. Das hat aber nunmal auch die Aufmerksamkeit anderer angezogen, die sich plötzlich durch ihn bedroht sahen. Er hat überlebt, er war schließlich trainiert, er hatte Erfahrung - seine Cousins aber nicht. Seine Onkel und Tanten auch nicht. Mein Großvater selbst ist durch Herzversagen gestorben, glaube ich: Zu viel Dünste eingeatmet. Aber ganz sicher weiß ich es nicht.
      Meine Eltern waren die letzten in einer Reihe von Racheakten. Ein Jäger tötet einen Vampir, ein Vampir tötet einen Jäger oder Familie. Mein Vater ist gestorben, weil er meine Mutter rächen wollte. Ich wollte damals ursprünglich hauptsächlich Arzt werden, also habe ich ihn nie gerächt. Ich konnte jagen, ich habe auch gejagt, aber ich tue es nie des Jagens wegen, sondern um die Menschen zu beschützen. Wenn ein Vampir frisst, wird er dafür zur Rechenschaft gezogen, so einfach ist das. Wenn er nicht frisst, weiß ich auch nicht, dass er existiert und jage ihn auch nicht."
      Er zuckte knapp mit den Schultern.
      "Einen schlafenden Löwen weckt man schließlich nicht. Ich denke, deswegen ist mein Vater gestorben, ich denke, deswegen lebe ich noch. Wenn es keine Vampire gäbe, würde ich vielleicht Schwerverbrecher jagen, wenn sie meinen Großvater damals auch so fasziniert hätten."
      Er schwieg einen Moment und kraulte Vincents Kopf.
      "Ich denke, du hättest meinen Großvater gemocht. Ihr wärt sicherlich fantastisch miteinander ausgekommen, er hätte dir ein paar Bücher abgequatscht und dann hätte er dich in eine Theorie darüber verwickelt, weshalb Eckzähne an dieser Stelle sitzen und nicht eins weiter vorne. Natürlich alles im Hinblick auf Vampire."
      Ein weiterer Moment des Schweigens folgte.
      "... Jetzt habe ich mich irgendwie in Vampirjagd verloren. Ich glaube, die Geschichte meiner Familie kann ich nicht ohne Vampire aufziehen, zumindest nicht, wenn ich nicht allzu weit zurückgehen will. Wenn dich das stört, wäre wohl jetzt ein geeigneter Zeitpunkt dafür, mir das mitzuteilen, bevor ich eines Tages wieder damit anfange."
    • "Aber ich höre dir gerne zu," gab Vincent mit einem kleinen Lächeln zurück.
      Er musste sich so einige Kommentare verkneifen, währen Thomas seine Familiengeschichte zum Besten gab. Er hätte so viele Lücken füllen können, aber das wäre ja wohl ein bisschen seltsam. Einen Punkt musste er dann aber doch ansprechen.
      "Was, wenn du von einem Vampir erfährst, der sich nicht an Menschen labt? Die können doch bestimmt auch Tiere jagen, oder? Und wenn das geht, können sie dann nicht auch von Schweineblut oder Rinderblut leben? Sowas bekommt man dieser Tage doch bei jedem Schlachter."
      Vincent wusste nicht, auf welche Antwort er hoffte. Er wusste auch nicht, ob die Antwort auf seine Frage beeinflussen würde, wann er Thomas über seine Existenz aufklärte. Dass er es tun musste, das wusste Vincent. Er hoffte nur, dass er damit nicht zerstören würde.
    • Thomas zögerte einen Moment um nachzudenken, obwohl er die Antwort schon kannte - er wollte nur Vincents Enthusiasmus nicht gleich wieder zerstören.
      "Von sowas habe ich noch nie gehört. Zugegeben, ich habe wohl auch noch nie mehr als drei Sätze mit einem Vampir gewechselt, aber das hört sich sehr unrealistisch an. Wieso sollte ein Vampir solche Umwege gehen, nur um zum Schluss mit Tierblut auszukommen? Das wäre so, als würde dir jemand, wenn du beinahe ausgehungert bist, ein Dessert vor die Nase stellen und du würdest dankend ablehnen und stattdessen zu einem Teller Erbsen greifen. Das ist in keinster Weise so befriedigend wie das Dessert und du wärst dir dessen immer bewusst, wenn du die Erbsen nimmst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Vampir sich solche Mühe machen sollte. Wofür auch?"
      Er schwieg einen Moment, diesmal um wirklich nachzudenken.
      "Ich schätze es könnte Vampire geben, die auf dem Land wohnen und Tierblut trinken. Etwa in einer Gegend wie dein Anwesen hier, in dem es kaum große Zivilisation gibt und ein Mord daher sofort auffallen würde. Das würde wohl Sinn machen, aber da stellt sich wiederum die Frage, weshalb er auf das Land gezogen ist. Wieso würdest du auf eine Stadt verzichten, wenn du jeden Tag drei Mahlzeiten mit Dessert zu dir nehmen kannst?"

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    • Es war beinahe erschreckend, wie genau Thomas den Nagel auf den Kopf traf und doch den Punkt so vollkommen verfehlte.
      "Was, wenn du ein Vampir bist und weißt, dass du dich verstecken musst, damit du nicht von einem Jäger getötet wirst? Hunde waren auch einst Wölfe, dann haben sie sich an das Leben mit Menschen angepasst und jetzt fressen sie keine Schafe mehr, sondern beschützen sie. Du hast gesagt, du würdest gern mehr über Vampire lernen, warum nicht da anfangen? Vielleicht kannst du ja einen finden, den du fragen kannst? Nenn mich gern naiv, aber ich habe gesehen, wie ein Vampir eine normale Unterhaltung geführt hat. Warum nicht die interessanten Fragen stellen? Wenn mich ein Jäger fragen würde, ob ich auch ohne Menschenblut auskommen kann, dann würde ich ihm diese Frage beantworten. Das könnte ja schließlich mein Leben retten. Würdest du denn einen Vampir... beseitigen... wenn du wüsstest, dass er sich nicht an Menschen labt?"
    • Thomas zog eine Augenbraue nach oben. Zu schade, dass Vincent die Skepsis in seinem Gesicht nicht sehen konnte.
      "Vampire unterhalten sich etwa so lange normal, bis sie herausfinden, dass ich weiß, was sie sind. Dann werden sie misstrauisch und ich muss beim Heimweg dreimal so vorsichtig sein, damit sie mir nicht in den Rücken fallen. Du erinnerst dich an Charles? Er war ja ganz angenehm, vielleicht ein bisschen kurz angebunden, aber man hätte sich mit ihm unterhalten können. Und später hat er versucht, seine Zähne in meinen Hals zu schlagen."
      Er zuckte mit den Schultern.
      "Das ist ein merkwürdiges Thema. Ich werde mal abwarten, wann ich wieder eine Gelegenheit bekomme, einen Vampir etwas zu fragen und dann werde ich dir von der Antwort erzählen."
      Als er jetzt nach einer Antwort überlegte, dauerte es lange, während er Vincents Schulter streichelte.
      "... Weiß ich nicht. Ich habe nie darüber nachgedacht. Könnte ich denn wirklich wissen, dass er sich ausschließlich von Tierblut ernährt? Wieso sollte er mich nicht vielleicht anlügen? Woher sollte ich wissen, dass er nicht eines Tages seine Meinung ändert? Was, wenn ich einen laufen lasse, und drei Wochen später gelange ich erst auf seine Spur, die er schon mit 10 Opfern gelegt hat? Das wäre furchtbar, wie soll ich mich da noch Jäger nennen? Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Ich wechsle mit Vampiren auch nicht mehr Worte als nötig ist, aus genau diesem Grund. Zum Schluss würden doch alle nur dasselbe sagen, dass sie niemals gemordet haben oder nie wieder morden werden, dass sie ab jetzt nur noch Tierblut trinken werden, dass sie sich von sämtlichen Menschen fernhalten würden. Wie sollte ich da auseinanderhalten können? Ich brauche Beweise, keine fadenscheinigen Behauptungen. Aber erklär du mir mal, wie ein Vampir beweisen soll, dass er ausschließlich Tierblut trinkt."
    • "Heißt das, du würdest auch einen Mörder töten, wenn du die Gelegenheit hättest? Deiner Logik nach müsstest du ja alle Menschen töten, nur weil sie das Potenzial haben, jemanden umzubringen. Würdest du eine Wolfsmutter töten, nur weil sie ihre Welpen beschützt und dabei jemanden getötet hat?"
      Vincent musste sich zurückhalten, musste sich aktiv davon abhalten, nicht seiner irrationalen Wut anheimzufallen. Seine Zündschnur war gefährlich kurz während den Stunden des Tages und der anhaltende Schmerz in seiner Flanke half auch nicht unbedingt.
      Er seufzte und schloss die Augen, ließ sich lieber von seiner Müdigkeit umspülen, als von der Bestie in seinem Inneren.
      "Weiß ich doch auch nicht, es war ja nur ein Vorschlag. Du bist der Experte in Sachen Vampirjagd. Abgesehen von meiner persönlichen Verbindung zum Hause Van Helsing habe ich damit nicht wirklich etwas am Hut. Weißt du denn, was du Neues lernen willst? Gibt es etwas, was dich besonders an Vampiren interessiert?"
    • Mit einer solchen Reaktion hätte Thomas nicht gerechnet, nicht von Vincent, der sonst immer eher mit einer gewissen Neugier und Faszination an solche Dinge heranging. Jetzt hörte es sich fast so an, als wolle er ihn für seine Jagd verurteilen und Thomas presste die Lippen aufeinander. Das war das letzte, wofür er sich hätte rechtfertigen wollen.
      "Gegen einen menschlichen Mörder kann man sich noch verteidigen, es gibt eine realistische Chance. Gegen einen übermenschlichen Mörder, der schneller und stärker ist, der besser hören und sehen und riechen kann und einen in der Dunkelheit überfällt, im besten Fall auch noch ohne dabei gehört zu werden, hat man keine realistische Chance. Ich töte nicht alles, was dem Menschen gefährlich ist, ich spezialisiere mich auf Vampire aus genau diesem Grund, so einfach ist das."
      Er hörte auf, Vincent zu streicheln. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich ein wenig von dem Mann gekränkt - nicht, weil er das Thema überhaupt anschnitt, sondern weil er gedacht hatte, er könnte mehr Verständnis dafür aufbringen und nicht in die Moralfragen abschweifen. Sicher, auch Thomas hatte diese Fragen gestellt, als er noch jung gewesen war und besonders keine Lust auf immer dieselben Übungen gehabt hatte. Dann hatte er gefragt, wieso es gerade Vampire sein mussten, wieso er nicht etwas einfacheres jagen konnte, wieso man Vampire nicht einfach bitten konnte keine Menschen zu fressen, wieso man sie nicht unschädlich machen konnte, ohne sich dabei so verausgaben zu müssen. Er hatte alle Fragen schon hinter sich und sein Vater, an manchen Tagen mit mehr Geduld, an anderen mit weniger, hatte ihm volle Vorträge darüber gehalten, weshalb es wichtig war, dass sie genau das taten. Dann hatte er auch immer das Argument aufgeführt, dass Menschen sich gegen Vampire nicht verteidigen konnten und wenn der junge Thomas dann angeführt hatte, dass man sich gegen Wölfe auch nicht verteidigen könne, hatte sein Vater immer auf Hunde verwiesen. "Zähm mir einen Vampir und wir werden weiterreden" war immer sein Schlusssatz gewesen. Thomas hatte es sich sogar fest vorgenommen, bis er den ersten Vampir-Mord zu Gesicht bekommen hatte. Ab dann hatte er keine Fragen mehr gestellt.
      Entsprechend konnte er Vincents Drang zur Aufklärung verstehen, aber er hatte geglaubt, dass sie über dieses Stadium bereits hinaus waren. Er hatte die Notizen seines Großvaters, er müsste doch genau verstanden haben, wie gefährlich Vampire waren.
      Vincent seufzte und Thomas starrte aus dem Fenster. Die Wärme des Ofens kroch langsam zu ihnen hinüber, aber war noch nicht gänzlich stark genug, um bis unter ihre Decken zu reichen.
      Schließlich wurde ein etwas angenehmeres Thema angeschnitten.
      "Ich will wissen, was den vampirischen Körper vom menschlichen so unterscheidet. Ich bin Arzt, es interessiert mich, wie ein Vampir allein auf der Grundlage von Blut überleben kann. Ich will auch wissen, wieso seine Haut eine solch heftige Reaktion auf Sonnenlicht und Silber abgibt. All das wirkt wie Symptome und ich möchte herausfinden, was dahinter steckt - eine Krankheit oder eine Mutation oder etwas in der Richtung. Sollte ich das jemals herausfinden, kann ich mich der Frage widmen, wie sowas zu behandeln wäre - deshalb würden mich ausländische Texte so sehr interessieren, vielleicht hat jemand schon interessante Funde gemacht. Vielleicht laufe ich aber auch einfach nur in eine Sackgasse. Letzten Endes ist das alles wohl nur der Wissensdurst eines Arztes, der genug von kurzfristigen Lösungen für dieses Problem hat und es ein für allemal aus der Welt schaffen will. Ich habe es satt Vampirleichen zu sehen, weißt du das? Hast du schonmal eine gesehen? Sie sehen aus wie Puppen, am ganzen Körper weiß und eingefallen. Wenn es keine weiteren Verletzungen als den Biss am Hals gibt, könnte man sich vorstellen, dass sie sich nur kurz schlafen gelegt haben und gleich wieder aufstehen werden. Bleiche, menschliche Puppen, die sich dann auf wacklige Beine aufstellen und die Straße entlang torkeln, als müssten sie noch unbedingt zum Schneider oder beim Markt frisches Gemüse holen. Als Kind hatte ich immer Albträume von sowas, als ich die erste Leiche gesehen habe. Das hat mich bis zum Studium begleitet, jetzt bin ich dafür abgehärtet. Mittlerweile habe ich schon schlimmeres gesehen."
      Er legte die Hand wieder auf Vincents Schulter, streichelte ihn aber nicht mehr. Nach einem Moment beugte er sich nach unten und zog leicht an seiner Schulter, damit Vincent sich ihm zuwandte.
      "Das ist ein unliebsames Thema. Lass uns nicht darüber reden, wenn es dir nicht gefällt."
      Er beugte sich noch ein Stück weiter hinab, um ihn zu küssen.
    • Vincent hob den Kopf ein wenig, um sich in den Kuss hineinlehnen zu können. Thomas' sanfte Lippen waren wie Balsam auf seinem von der Sonne geschundenen Körper.
      "Es klingt eher so, als würdest du nicht darüber reden wollen," gab er zurück und strich über Thomas' Wange, verlor sich für einen Augenblick in diesen freundlichen, dunklen Augen, bevor er ihm ein sanftes Lächeln schenkte.
      "Dann lass uns über etwas anderes reden," lenkte Vincent dann aber ein und machte es sich wieder in Thomas' Schoß bequem. "Ich kann dir aber nicht halb so interessante Dinge über meine Bücher erklären. Wie Bücher selbst ist der Handel mit ihnen und ihre Instandhaltung relativ staubig und langweilig. Und ich glaube nicht, dass Übersetzungsfehler dein Humor sind."
    • Mit einem einzigen Kuss war alles wieder zurecht gerückt. Oder eher mit einem Kuss und einer Berührung. Thomas durfte in Vincents Augen sehen und danach war alles wieder ein Stück besser. Vergeben und vergessen, so einfach konnte es gehen.
      "Ich möchte dich nicht mit den dunklen Seiten des Lebens konfrontieren", gab er zurück, bevor er seine Hand abfing, ehe sie verschwinden konnte, und ihr einen Kuss auf den Rücken hauchte. Vincent machte es sich wieder bequem auf seinem Schoß und Thomas zog wieder die Decke über dem Mann zurecht.
      "Dieses Interesse werde ich vermutlich wirklich nicht mit dir teilen. Was ist denn dann so interessant daran, dass du dir eine eigene Bibliothek hältst? Man könnte meinen, ein Mann in deinem Alter hätte mehr Spaß an deinen großen Festen oder... vielleicht an der Jagd, hier draußen auf dem Land."
      Er kniff die Augen zusammen.
      "... Wie alt bist du eigentlich?"