In his Thrall [Codren feat. Pumi]

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    • "Trinken werde ich, machen Sie sich da mal keine Sorgen," murmelte Vincent und sah dem scheidenden Doktor hinterher.
      Er beobachtete aufmerksam, wie sich Thomas mit seiner Freundin unterhielt. Sie waren allerdings zu weit weg, als dass er sich auf ihre Unterhaltung hätte konzentrieren können. Als sich der Van Helsing Erbe dann aber absetzte, konnte sich Vincent schon denken, was der Mann vorhatte. Er lehnte sich entspannt mit seinem Drink in der Hand zurück und ließ es geschehen. Für gewöhnlich ließ er nicht einfach Beweise für seine Art der Existenz herumliegen - insbesondere nicht, wenn er Gäste erwartete - und er war gespannt, ob ein Van Helsing mehr sehen konnte, als ein neugieriger junger Adeliger, der seinen Freunden etwas beweisen wollte.
      Nach ein paar Minuten richtete er seine Robe, leerte seinen Drink und erhob sich aus seiner Ecke. Er schlenderte durch den Raum, schüttelte Hände, beantwortete Fragen zum gestrigen Abend und Lady Norwich. Er gab sich Mühe, dabei einen Mann darzustellen, der gerade erst aus seinem Kater herausfand.
      Er gab dem Van Helsing eine Viertel Stunde, bevor er sich auf den Weg zu seinem Schlafzimmer machte, um sich etwas ordentliches anzuziehen. Da trat ihm Ms. Brooks schon in den Weg.
      "Ms. Brooks! Ich hoffe doch, sie hatten eine angenehme Nacht. Rest der Nacht," grüßte er die Dame und legte sich in einer fließenden Bewegung ihre Hand auf den Unterarm.
      Er nahm sie einfach mit aus dem Saal und die Treppen hinauf mit einem Selbstbewusstsein, das kaum eine andere Möglichkeit zuließ.
      "Aber ja doch, Lord Harker. Sie haben die Schlafzimmer im Haupthaus als furchtbar dargestellt, aber da muss ich widersprechen. Ich habe sehr gut geschlafen."
      "Das freut mich zu hören. Allerdings muss ich diese Unterhaltung leider kurz halten. Den ganzen Tag in einer lockeren Morgenrobe herumzuwandern ist nun wirklich nicht schicklich. Sie verzeihen?"
      Sie wollte protestieren, das konnte er ihr ansehen, aber er drehte sich einfach um, ließ sie vor dem Schlafzimmer stehen, das er ihr und Thomas gestern zugewiesen hatte, und bog ab in Richtung seines eigenen Schlafzimmers. Er ging ohne zu zögern durch den dunklen Raum hinüber zu seinem Kleiderschrank. In der Nähe stand ein kleiner Tisch mit Kerzenleuchter. Eine Lichtquelle, die er zwar nicht brauchte, aber er entzündete trotzdem die fünf Kerzen. Während die Flammen langsam anwuchsen atmete Vincent tief ein, immer auf der Suche nach dem verräterischen Duft von Zimt, bevor er sich seinem Kleiderschrank zuwandte und sich der Frage stellte, was er heute anziehen wollte. Er ließ die Robe von seinen Schultern rutschen und warf sie rüber zum Bett. Während er sich zwischen schlicht und auffällig zu entscheiden versuchte, streckte er sich ausgiebig, um etwas leben in seine toten Glieder zu bekommen. Einer der Nachteile seines so langsamen Kreislaufs war es, dass sein Körper nach einem verschlafenen Tag eine halbe Ewigkeit brauchte, um wieder in Gang zu kommen.
    • Zumindest die Aussage, dass Lord Harker eine Leseratte war, sah Thomas bestätigt, bei der schieren Anzahl und Diversität seiner Bücher, die er in seinem Studierzimmer verwahrte. Er wurde es bald überdrüssig, die verschiedenen Titel zu lesen, die keine Verbindung irgendeiner Art zuließen, und wandte sich ausschließlich den von Hand geschriebenen Blättern zu, las sich flüchtig durch Korrespondenzen, Notizen und Geschäftsunterlagen, wobei ihm in den Sinn kam, dass er noch gar nicht erfahren hatte, was der Mann eigentlich arbeitete. Jetzt, wo er ja augenscheinlich kein Bordell in seinen eigenen vier Wänden betrieb, musste er ja seine Bediensteten anderweitig bezahlen - seinen Strom, die Post, ja seine ganze Feier. Es war tatsächlich schwierig ihm Details zu entlocken, das hatte auch Thomas mittlerweile erkannt, aber über solch eine grundlegende Information musste er einfach irgendeinen Anhaltspunkt von sich geben, und wenn er nur der unverhoffte Erbe eines riesigen Vermächtnisses geworden war. Das würde dann natürlich wieder die Frage aufwerfen, weshalb es keinerlei Anzeichen - keine Bilder, keine Briefe, kein Testament - von verstorbenen Verwandten gab.
      Aber erst einmal würde er sich noch im Schlafzimmer umsehen. Er hinterließ die Blätter, so gut es ging, wie er sie vorgefunden hatte und eilte dann schon zur Tür hinaus, wo er überraschenderweise mit Darcy zusammenstieß.
      "Darcy!", zischte er und warf sogleich einen Blick in beide Richtungen des finsteren Gangs. "Was tust du denn hier?!"
      Die Kerze, die sie bei sich hatte, beleuchtete ihre nervöse Miene, die sie sichtlich herunterzuspielen versuchte.
      "Er ist hier", flüsterte sie zurück und deutete auf das Zimmer gegenüber des Studierzimmers, dem Schlafzimmer. Thomas fasste sich ins Gesicht.
      "Herrgott Darcy, wieso hast du ihn denn nicht aufgehalten?"
      "Ich hab's versucht!", zischte sie jetzt ärgerlich zurück und legte sich den freien Arm um die Brust. "Es ist sein Haus, was soll ich denn machen?"
      Thomas fielen gleich ein paar dutzend Dinge ein, die sie hätte machen können, aber er presste nur die Lippen aufeinander und verzichtete darauf, das Gespräch in einen Streit ausatmen zu lassen. Stattdessen ergriff sie am Oberarm und schob sie vor sich her.
      "Geh' schon, wir haben genug gesehen."
      "Ah. Haben wir das?"
      Nein. Sie hatten nicht annähernd genug gesehen.

      Wieder im Foyer dachte Thomas griesgrämig über seine zum Scheitern verurteilte Untersuchung nach, als ihm der alte Norbert auffiel, der sich in eine Gruppe gezwängt hatte und dort unweigerlich für langwierige, uninteressante Unterhaltungen sorgte. Ihm kam ein blitzartiger Gedanke, er warf einen Blick zur Treppe zurück und beugte sich verschwörerisch zu Darcy hinab.
      "Ich werde ihn ablenken, ich weiß wie. Du wirst hinaufgehen und in sein Schlafzimmer schauen - und sieh außerdem noch nach, ob es oben noch mehr Räume gibt, die er mir gestern nicht gezeigt hat."
      Darcy wirkte schockiert.
      "Ich soll hinaufgehen? Er ist doch ein Mann, sieh' du dir sein Schlafzimmer an!"
      "Hast du etwa Angst vor ein bisschen Unterwäsche? Stell dich nicht so an, du musst dich ja nur ein bisschen umsehen. Ich habe nichts gefunden in seinem Studierzimmer."
      "Ach. Und da soll ich was im Schlafzimmer finden?"
      "Vielleicht."
      Sie plusterte ihre Wangen ein wenig auf und sah missmutig drein.
      "Na schön. Ich mach es ja."
      Er tätschelte ihr die Schulter und hielt dann auf Norbert zu, wo er sich zwischen den alten Mann und eine jüngere Frau einfädelte, deren Begleitung schon jetzt ein Glas Champagner in der Hand hielt.
      "Norbert, dürfte ich mir wohl jetzt Ihr Knie ansehen, bevor wir es noch vergessen? Nicht, dass Sie es noch verunstalten, wenn Sie weiterhin den ganzen Tag damit herumlaufen."
      Der alte Mann sah zu ihm auf.
      "Oh, Doktor von Hällsing, ja sicher, sicher doch! Tun wir es gleich, das ist eine fabelhafte Idee, ich werde ja sonst den Rest des Tages damit herumlaufen, das stimmt schon, sicherlich. Wie schön, dass Sie hier sind, ich hätte sonst ewig auf einen Termin warten müssen, es gibt ja so wenige fähige Ärzte die Tage, aber Sie, die Sie ja schon Lady Norwich - oh, Sie verzeihen, es ist ja eine Tragödie, so eine Tragödie, ich wollte nicht unhöflich sein, es muss sicherlich schwierig sein, so ein Unglück..."
      Thomas legte ihm den Arm um die Schultern und führte ihn langsam, aber bestimmt von der Gruppe weg, wieder hinaus ins Foyer, wo er sich bei der Treppe positionierte, um Lord Harker sogleich abzupassen. Norbert war in den wenigen Sekunden, die sie für diesen Weg gebraucht hatten, schon wieder auf irgendeine Geschichte seiner Arbeit zurückgefallen und Thomas blendete ihn vollständig aus, während er auf den Hausherren wartete.
      Als er herab kam, lächelte Thomas ihm professionell entgegen.
      "Lord Harker, Sie erlauben doch: Vielleicht könnten Sie mir und dem lieben Norbert ein Zimmer in diesem Haus zeigen, in dem ich mir einmal sein Knie ansehen kann? Es wäre ja unhöflich, ihn der Blicke aller anderen Gäste auszusetzen und nachdem er mich heute morgen so freundlich danach fragte, möchte ich ihm diese Bitte nicht ausschlagen."
      Norbert nickte bekräftigend und grinste ein lückenvolles Grinsen.
      "Sie haben Ihre Gäste fein ausgesucht, Mr. Harker, Ihr Doktor ist wirklich ein fähiger Mann, ein fähiger Mann in der Tat, das hat man nicht alle Tage, das ist so schwierig, heutzutage noch fähige Männer zu finden, das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Habe ich Ihnen eigentlich schon jemals von der Geschichte erzählt, bei der unsere Gleise bei der Abernathy-Farm im Norden zusammengestoßen sind, wo doch die eine Strecke nach Süden und die andere in den Osten verlaufen sollte? Das war vielleicht merkwürdig und hatte auch viel mit Heu zu tun, o ja, denn sehen Sie, es ist ja so, dass die meisten Eisenbahnen dieser Tage ihre Fracht nicht auf direktem Weg transportieren, das wäre viel zu kostenaufwendig und außerdem müsste man da ständig neue Gleise ziehen und dann gäbe es ja zum Schluss gar keinen Platz für normale Straßen, und daher ist es so..."
      Als ob es so geplant wäre, als ob sich Thomas vohrer mit ihm abgesprochen hätte, hatte Norbert den Lord binnen Sekunden in eine Geschichte über seine Eisenbahn-Netzwerke eingebunden, redete und redete und würde auch noch weiterreden, so lange, wie er es nur schaffte, den Hausherren weiter in sein Gespräch zu verwickeln - und dafür würde Thomas schon sorgen, bis Darcy mit dem ersten Stock fertig sein würde.
    • Vincent war fast schon ein bisschen enttäuscht, sein Schlafzimmer leer vorzufinden, ohne einen Van Helsing unter seinem Bett oder versteckt in seinem Schlafzimmer.
      Mit wenig Elan schlüpfte er in einen teuren Anzug, der genau richtig für die heutigen Festlichkeiten war: nicht zu auffällig, aber er würde trotzdem unter all den Menschen in seinem Heim herausstechen. Natürlich würde er damit nicht zum Maskenball gehen, dafür hatte er ein gänzlich anderes Kostüm vorbereitet.
      Als er die Treppe wieder herunterkam, stieg ihm zuerst Thomas' vertrauter Geruch in die Nase, gemischt mit dem Duft nach Kohle. Es überraschte ihn nicht halb so sehr, wie es seine Miene vermuten ließ, den guten Doktor mit dem gesprächigen Eisenbahner am Fuße der Treppe vorzufinden.
      "Doktor. Mr. Krueger," grüßte er die beiden, doch es gab kein Entkommen.
      "Sicher doch, folgen Sie mir."
      Er nahm die beiden Männer mit durch einen Flur, der mit Absicht etwas versteckter angelegt worden war, als man das Haus errichtet hatte. Der Flur war nicht besonders lang. Sie erreichten schon bald eine Tür, in die eine Szene aus dem Garten Eden geschnitzt war. Dahinter lag ein kleiner Frühstückssalon. Die Vorhänger waren noch zugezogen, da dieser Raum heute keine Benutzung gefunden hatte. Vincent nutzte die Gelegenheit und ging in eine Ecke des Raumes, um diese Vorhänge beiseite zu ziehen, wohlwissend, dass die Sonne noch am Himmel stand. Ein wenig Licht fiel in den Raum, genug um es als Tageslicht benennen zu können. Allerdings lag diese Seite des Hauses um diese Uhrzeit im Schatten und die Fenster enthüllten eine dichte Baumlinie nicht weit vom Haus entfernt. Die Sonne mochte vielleicht scheinen, aber sie schien am späten Nachmittag nur indirekt in den Frühstückssaal, nicht stark genug, um Vincent mehr als ein paar Kopfschmerzen zu verpassen. Das Licht blendete ihn enorm, doch er ließ sich davon nur wenig anmerken - nichts, was man nicht auf einen Kater zurückführen könnte.
      Er kehrte zu dem fein gearbeiteten Frühstückstisch zurück und zog einen Stuhl für Norbert zurecht.
      "Zögern Sie bitte niemals, nach einem Stuhl zu fragen, Mr. Krueger, wenn Ihr Knie Probleme bereitet. Wir sind hier, um uns zu amüsieren, nicht um Schmerzen zu haben."
      Vincent ließ sich demonstrativ auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches nieder - direkt im 'Sonnenlicht'.
      "Ich muss gestehen, ich bin ein großer Freund der Eisenbahn. Weniger des Transportes von Gütern wegen, natürlich. Aber als Reisemittel ist die Bahn doch ganz vorzüglich. Ich bin immer wieder davon überrascht, wie bequem die Betten in den Schlafwagen sind. Am Essen kann man allerdings noch bisschen feilen. Aber da spricht nur mein verwöhnter Gaumen."
      Er hatte absolut kein Problem damit, sich mit dem alten Mann zu unterhalten, der es eindeutig genoss, dass man ihm endlich mal zuhörte. Vincent kannte ihn nicht, der Eisenbahner war noch nie hier gewesen. Aber als jemand, der einfach nicht Nein zu einer guten Geschichte sagen konnte, lauschte Vincent aufmerksam, während er den guten Doktor ganz genau im Auge behielt. Mr. Krueger redete zwar viel, aber er sah dabei niemanden wirklich an, als würde er vor seinen Augen genau sehen, was in seiner Geschichte passierte. Das gab Vincent die Möglichkeit, dem Van Helsing bei seiner Arbeit zuzusehen und sich zu fragen, was der Mann so alles mit diesen schlanken Fingern anstellen konnte. Hier und da stellte er die richtigen Fragen an Mr. Krueger, damit dieser seine Erzählungen weiter ausführte. Es waren ernstgemeinte Fragen, der Mann hatte durchaus Vincents Interesse geweckt. Aber eben nur an den Hintergründen seiner Arbeit, nicht an sich selbst. Dieser Posten war vergeben und würde es wohl auch noch eine Weile bleiben. Vincent wäre verdammt, wenn er den Van Helsing gehen ließe, ohne ihn auf die ein oder andere Weise probiert zu haben.
    • Lord Harker führte sie einen etwas abseits gelegenen Gang entlang zu einem kleineren Salon, dessen Tür selbst für Thomas' Geschmack schon kitschig war. Allerdings verwunderte ihn doch sehr, dass ein Mann wie Harker, der ihm ja noch ganz direkt gesagt hatte, dass er nichts von Religion halte, ein solches Bild auf seine Tür fabrizieren ließ. Oder vielleicht kam es vom Vorgänger des Hauses? Aber wieso nicht drübermalen? Nun, irgendeinen Grund wird es schon haben.

      Der Hausherr ging an die Wand, um die Vorhänge vor den Fenstern aufzuziehen, und Thomas hätte vor Enttäuschung beinahe die Schultern hängen gelassen. So wie es aussah, waren die Wolken vom Himmel abgezogen und die nachmittägliche Sonne brachte Licht in den ganzen Raum, wenn auch kein sehr starkes. Thomas richtete seine Aufmerksamkeit unmittelbar auf den Lord, aber bis auf die leicht verkniffene Miene, die er schon die ganze Zeit zur Schau stellte und zweifellos von dem Kater kam, reagierte er kein bisschen auf das Licht. Mehr noch: Als er Norbert den Stuhl zurechtgerückt hatte, setzte er sich selbst an die Fenster, wo das Licht noch stärker war. Auch hier gab er keine Reaktion von sich, bis auf die ständige Müdigkeit, die ihn umgeisterte, und Thomas entschied sich ganz offiziell dazu, diesen Punkt von seiner imaginären Liste zu streichen. Natürlich musste er das Experiment noch vollständig abschließen, indem er den Lord in direktes Sonnenlicht brachte und nicht nur dem aussetzte, was hier hereinschien, aber bisher stand es in etwa 4:2 gegen die Existenz eines Vampirs und die zwei Punkte, die dafür sprachen, waren auch nicht gerade stichhaltig. Es war wirklich äußerst enttäuschend - natürlich war es etwas gutes, wenn der Hausherr ein normaler Mann und keine bluttrinkende, mordende Ausgeburt der Hölle war, aber wenn diese Fährte auch wieder ins Leere führte, würde Thomas wieder von vorne anfangen müssen und wenn er Pech hatte, würde es Jahre dauern, bis er eine neue Spur gefunden hatte. Zu lange, um sich dann womöglich noch damit auseinanderzusetzen; Herrgott, in ein paar Jahren hatte er vermutlich schon Kinder, wie sollte er da weiterhin Vampirjagd betreiben? Es wäre einfach so perfekt gewesen, wenn er nach all dieser Zeit den Dämon endlich gefunden hätte.

      Vielleicht brachte ja Darcy noch etwas in Erfahrung. Das war das letzte bisschen Hoffnung, an das er sich festhielt, während er sich selbst einen Stuhl heranzog, sich vor Norbert setzte, ihm das Hosenbein hochkrempelte und ein paar Übungen mit ihm vollzog. Seine Untersuchung führte er mechanisch durch, nachdem er sich ziemlich sicher war, dass Norbert einfach nur - wie alle Alten - spröde Gelenke hatte. Nichts, was eine akute Behandlung erforderte und nichts, womit er ihm auf die Schnelle hätte helfen können, einfach eine Krankheit der alten Bevölkerung, gegen die sich nur wenig machen ließ, außer sich zu schonen.
      Dafür spürte er beständig den Blick des Hausherren auf sich selbst und fing langsam an zu bereuen, dass er es sich so sehr mit ihm verscherzte, wo er doch wahrscheinlich gar nicht der war, für den er ihn hielt. Vielleicht hatte er ja in seiner Trunkenheit am gestrigen Abend nur nett sein wollen und nun verdankte Thomas es ihm, indem er in seinen Unterlagen schnüffelte und seine Gastfreundschaft ausnutzte.
      Er riskierte einen Blick zu dem Hausherren hinüber und hielt dessem Blick vielleicht zwei Sekunden stand, länger hielt er es nicht aus. Hatte er, mit dem hellen Licht im Rücken, die ganze Zeit schon so charmant ausgesehen?
      Herrgott.
      Er dachte an Darcy, richtete sich auf und streifte dem alten Mann sein Hosenbein wieder hinab.
      "Es gibt nichts zur Beunruhigung. Ich habe zwar meine Instrumente nicht dabei, um Ihnen genau zu sagen, wo der Fehler liegt, aber solange Sie sich ein bisschen schonen, wird es sicherlich wieder besser werden. Wahrscheinlich sprechen Sie nur auf das Wetter an."
      Norbert sah zu ihm auf.
      "Daran wird es liegen, o ja ganz sicher, haben Sie das Unwetter gestern gesehen, der viele Regen? Das ganze Haus hat's erschüttert, da bin ich mir ganz sicher, laut war es und furchtbar kalt und nun sehen Sie nur, die Sonne scheint, als wäre nie etwas gewesen! Ein wirkliches Teufelswetter ist das, das können Sie mir glauben, das war damals in meiner Jugend noch nicht so schlimm."
      Thomas stand bereits auf, schob seinen Stuhl dorthin zurück, wo er vorhin gestanden hatte, und tat dann dasselbe auch mit Norberts Stuhl, nachdem er aufgestanden war. Er legte dem unentwegt plapperndem Norbert eine Hand auf die Schulter.
      "Denken Sie daran, keine Treppen zu laufen - und wenn Sie spazieren gehen, dann nur auf flachem Gelände. Ansonsten entlasse ich Sie hiermit, gehen Sie doch schonmal vor, wir kommen gleich nach."
      Der Alte bedankte sich, wiederholte sich drei Mal und redete von irgendwelchen Frauen, die ihn in seiner Abwesenheit vermissen würden, während er bereits zur Tür und von dort in den Gang hinaus stelzte. Thomas drehte sich zum Lord um.
      "Ich danke Ihnen für die Mühen, Lord Harker. Geht es Ihnen schon besser? Wo wir schon einmal hier sind, kann ich auch Ihnen meine Dienste anbieten - als Dank für Ihre Gastfreundschaft, sozusagen."
    • Er sah dem alten Mann hinterher, bis dieser die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann zuckte sein Blick sofort zurück zu dem Van Helsing.
      "Ich dachte, Sie hätten mir Ihren ärztlichen Rat bereits gegeben? Viel trinken, etwas essen..." Er stand auf und mit zwei langen Schritten war er wieder im Orbit des Doktors, genauso wie letzte Nacht. "Bewegung..."
      Der Geruch des Mannes überwältigte seine schläfrigen Sinne beinahe, jetzt wo er so dicht vor dem Doktor stand. Sein Blick senkte sich auf dessen Lippen mit dem Gedanken daran, ihn einfach hier und jetzt zu küssen. Einen Gedanken, den Vincent zwar nicht beiseite schob, dem er aber auch nicht nachging. Noch nicht.
      "Vorsicht, Doktor," raunte er. "Ihr Blutdruck."
      Er legte Thomas sanft eine Hand an den Hals, genau dort, wo dessen rasender Herzschlag überdeutlich zu sehen war. Dieser Mann führte ihn wirklich in Versuchung und das ohne irgendwelches Zutun. Verdammte Van Helsings...
      Mit dem Daumen strich Vincent erst über Thomas' Kinn, dann dessen Unterlippe. Er bemerkte nicht einmal, wie er sich selbst über die Lippen leckte allein bei dem Gedanken an das, was er mit diesem Mann tun wollte.
      "Wollen Sie wissen, was ich denke?" fragte er, seine Stimme kaum mehr als ein tiefes Raunen. "Soll ich es Ihnen sagen? Oder doch lieber zeigen?"
      Ein halber Schritt nach vorn und er drängte den Doktor gegen den Frühstückstisch. Durchaus ein Möbelstück, dass in seinen Gedanken vorkam.
      "Ich versichere dir, dass ich nichts tun werde, was du nicht auch willst, Thomas. Stell dir vor, was du gestern mit deiner Freundin gemacht hast. Und jetzt stell dir vor, du hättest das mit mir gemacht. Ein verlockender Gedanke, nicht wahr?"
      Vincent war den Lippen des Mannes jetzt so nahe, er konnte sie praktisch schon schmecken. Er wollte sie schmecken. So sehr. Aber er stoppte sich. Nicht ohne Einverständnis, das war seine Regel. Niemals ohne Einverständnis, egal was.
    • War Thomas selbst dafür verantwortlich, was er soeben heraufbeschworen hatte? Ja. Hatte er es willentlich getan? Das mochte nur der Allmächtige wissen - und vielleicht sein Unterbewusstsein.
      Der Lord war in Windeseile wieder bei ihm, so nah wie schon am gestrigen Tag, viel zu nah, um noch den Anstand zu wahren. Thomas zuckte unmerklich; es war nicht die Überraschung, die ihn traf - wenn er ganz, ganz ehrlich zu sich war, und das wollte er in der Regel vermeiden, hatte er doch schon ein bisschen darauf gehofft - sondern seine Fassung, die sich von ihm verabschiedete, um ihn mit seinem Schicksal allein zu lassen. Er starrte den Lord vor sich an, unfähig sich zu rühren, eine lebendige Statue aus verkrampften Muskeln, unter denen sich ein Herz verbarg, das einen neuen Rekord darin setzte, wie schnell und heftig es ihm das Blut durch die Adern pumpen konnte. Harker wich doch tatsächlich seinem Blick aus, sah hinab auf seine Lippen und Thomas hätte gar nicht in Worte fassen können, wie unglaublich heiß ihm dabei wurde, ein Gefühl, das er weder bei Darcy, noch bei irgendeiner anderen Frau dieser Welt verspürt hatte, mit der er je zusammengewesen war. Und dieser Mann schaffte es, das Gefühl allein durch den Blick seiner Augen hervorzurufen, durch das Glitzern, das Thomas bereits am Vorabend bemerkt hatte, dieses merkwürdige glitzern, das ihm - er konnte es nicht leugnen - unheimlich gefiel. Dieses Mal wehrte er sich nicht, als der andere ihn berührte, dieses Mal versuchte er nicht die Flucht zu ergreifen, auch wenn es ihm nun problemlos gelungen wäre, dieses Mal ließ er sich auf die Versuchung ein, nur für einen winzigen Moment; das war doch noch keine Sünde, niemand würde sie hier finden, niemand würde sie beobachten, niemand würde sie hören. Dieses eine Mal nur ließ er den Sturm zu, den die raunende Stimme seines Gegenübers in seinem Kopf verursachte, die Worte, die dem dunklen Etwas in seinen Eingeweiden wie Futter waren. Er spürte, wie das Blut seinen Kopf im Stich ließ und sich stattdessen an anderen Stellen sammelte, er spürte vieles, nicht eins davon so annähernd trüb und langweilig, wie er es schon sein Leben lang gekannt hatte.
      Harker drängte ihn zurück an den Tisch und Thomas war froh um diesen Ausfall, hielt sich an der Tischkante fest, als könne sie ihm irgendeine Stütze für diesen Moment sein. Seine Worte machten ihn wahnsinnig, sie waren wie ein Funken in einem Fass Öl, das seine Gedanken darstellte, und der Funken ließ ein wahres Feuerinferno aufgehen, das sich rasend schnell durch seinen Kopf ausbreitete. Es war überraschend einfach sich an den Sex zu erinnern und Darcy mit dem Mann vor sich zu ersetzen, mit dem strammen Oberkörper, den er bereits unter dem Hemd zu erkennen geglaubt hatte, in dem gewaltigen Bett unter sich, den Rücken durchgedrückt wie eine Katze, den glitzernden Blick auf Thomas gerichtet. Besaß ein Mann überhaupt eine solche Beweglichkeit, wie Darcy sie an den Tag legte? Der Berufsarzt tief in Thomas' Innerem merkte an, dass die Anatomie der beiden Geschlechter sich nur in wenigen Grundsätzen unterschied - was eine Frau konnte, konnte auch ein Mann.
      Jetzt war er es, der seinen Blick senkte und die dünnen Lippen betrachtete, die nur ein paar Zentimeter von seinen eigenen entfernt waren. Nur einen einzigen Moment sich auf die Versuchung einlassen, nur ein einziges Mal, der Allmächtige würde es ihm verzeihen, Darcy brauchte es ja gar nicht zu wissen, niemand brauchte es zu wissen außer dem Mann vor sich, diesem unglaublich attraktiven, hübschen, charmanten Mann, den Thomas sich bereits in seinen Gedanken vorstellte, wie er sich unter ihm wand und räkelte, eine Perfektion aus zusammenspielenden Muskeln, die sich unter der nackten Haut deutlich sichtbar abzeichneten, nur Zentimeter von ihm entfernt.

      Er musste sich nur ein kleines Stück nach vorne neigen, ehe sich seine Lippen auf die des anderen legten, sie mit willentlichem Nachdruck zur Tat aufforderten, das Inferno in seinen Gedanken darauf überspielten. Er fühlte sich nur noch in seiner Tat bestärkt, als er den Geruch des Hauses in sich aufnahm, der vom anderen ausging, den Atem an seiner Wange kitzeln fühlte, sein berstendes Herz um einen Satz wilder werden spürte. Nun war er wirklich froh um den Tisch, darum, dass er sich dagegen lehnen konnte, dass er mit einer Hand loslassen und den Arm um Harkers Hüfte schlingen, ihn damit zu sich ziehen und an sich pressen konnte. Alles in ihm brannte darauf, mehr zu bekommen, mehr aus diesem Moment herauszuholen und auch wenn er sich nicht sicher war, ob er schon bereit für dieses mehr war, genoss er den Kuss dafür nur umso mehr, genoss es, den Körper des anderen Mannes an sich zu spüren, die geschmeidigen Muskeln, die sich unter dessen Anzug abzeichneten. Er genoss es mit jeder Faser seines eigenen Körpers, mehr, als er jemals etwas in seinem Leben genossen hatte, als er jemals wieder etwas genießen würde. Es war wie eine Droge, eine unheimlich süße und verführerische Droge und Thomas war dazu geneigt, sich so viel davon einzuflößen, um an einer Überdosis zu vergehen.
    • Endlich, dachte Vincent, bevor er sich in den Kuss hineinlehnte und sich dem hingab, was der Van Helsing willens war, zu geben.
      Er ließ seine Hand von dessen Hals fallen, strich ihm über Schulter und Brust. Die Hitze des anderen Körpers schien ihn zu verbrennen und Vincent wollte nichts lieber tun, als es geschehen zu lassen. Er spürte sehr deutlich, dass es dem anderen Mann genauso erging.
      Vincent löste den Kuss, schenkte Thomas ein kurzes Lächeln, dann lehnte er sich vor und bedeckte dessen Hals mit weiteren, langsamen Küssen, immer darauf bedacht, keine verräterischen Spuren zu hinterlassen. Mit einer Hand öffnete er die Knöpfe am Hemd des Doktors, machte den Weg frei, um die Spur von Küssen vom Hals über das Schlüsselbein bis hin zu der Stelle zu ziehen, an der das Herz des Mannes schlug. Den schnellen Puls unter seinen Lippen zu spüren, jagte einen vorfreudigen Schauer durch Vincents Körper.
      Und dann ging er einen Schritt weiter. Er hob den Kopf und presste seine Lippen wieder auf die des Doktors, fing dessen überraschtes Keuchen ein, als er seine Hand in dessen Schritt legte.
      "Wie fühlt sich das an, Thomas?" fragte er, seine Stimme kaum mehr als ein Hauchen auf der erhitzten Haut von Thomas' Hals. "Fühlt es sich so an, wenn deine Freundin dich berührt? Besser?"
      Vielleicht ging er zu weit, als er den Mann in den Nacken biss. Bei weitem nicht so, wie es ein Teil von ihm wollte, bei weitem nicht so, wie er könnte. Ein harmloser Biss, der keinerlei Spuren hinterlassen würde. Aber er konnte es sich nicht nehmen lassen, den Mann ein bisschen zu reizen.
      Mit flinken Fingern öffnete er die Knöpfe an der Thomas' Hose. Und dann, ohne zu zögern, schob er seine Hand unter den Stoff, schloss sie um das, was er dort fand. Mit der anderen Hand packte er den dichten, dunklen Haarschopf des Mannes und zerrte dessen Kopf in den Nacken.
      "Sag es mir, Thomas? Wie fühlt es sich an?" forderte er, bevor er weitere Küsse auf dem Hals, dem warmen, weichen Hals des Mannes presste.
    • Ihr Kuss endete, aber nur für einen Augenblick, nicht lang genug, damit sich Thomas' Gedanken hätten ordnen können. Sie wurden sogleich in das zweite Chaos gestürzt, als Harker damit fortfuhr seinen Hals mit seinen Lippen zu bearbeiten, zarte, forschende Berührungen, so wie er empfand, denen er sich bereitwillig unterwarf, ja sogar entgegen drückte. Nun war er wirklich froh um den Tisch, denn alleine hätte er nicht mehr aufrecht stehen können, geschweige denn sich dem Mann überhaupt so entgegen recken können, wie er es in diesem Moment tat. Sein Arm war noch immer um dessen Hüfte geschlungen, seine Hand suchte sich ihren Weg unter sein Hemd, strich über die glatte Haut, folgte den Bewegungen, die sich darunter abspielten. Vincent, Harker, Lord Harker kam wieder hoch zu ihm, drückte ihm wieder einen Kuss auf, legte die Hand zwischen seine Beine, wo er sich, besonders in diesem einen Moment, so unheimlich empfindlich vorkam, als würden seine Nervenenden die Berührung um ein tausendfach zurückgeben. Der Kuss erstickte sein Stocken, verschluckte es im Mund des anderen und trieb Thomas ein weiteres Stück in den Wahnsinn hinein - alles, was dieser Mann tat, schien dem einzigen Ziel ausgelegt, ihn um den Verstand zu bringen, und er hätte es nicht aufhalten können, nicht einmal, wenn er es gewollt hätte. Harkers Stimme war wie eine süße Melodie in seinen Ohren, die Worte eine Ergänzung zu dem weichen Atem an seiner Haut. Er wollte sich hineinlegen und nie wieder von diesem Gefühl erwachen.
      "Besser", bestätigte er, unfähig seine Stimme lauter werden zu lassen als das Raunen, das aus ihm herausdrang. "Sehr viel besser."
      Und wie es besser war, es war sogar weitaus mehr als das, es war richtig, eine Erkenntnis, die sich aus dem Nichts bildete, worüber er noch nie in seinem Leben nachgedacht hatte. Das war richtig und alles andere war falsch, obwohl er keine Ahnung hatte, was das überhaupt bedeutete und weshalb er sich dessen so sicher war. Alles, was er wusste, war, dass Harker sich mit einem Mal Zugang zu seiner Hose verschaffte und seine Hand um sein empfindliches Fleisch schloss, eine Berührung, die auch Thomas' letzten Willen brach. Er lehnte sich schwer auf den Tisch, keuchte auf, als Harker ihm den Kopf in den Nacken zog, seinen Hals erneut küsste. Alles an ihm schien empfindlich zu sein, sämtliche seiner Nerven unter Strom, die jede Berührung zurückgaben, als wären es hunderte davon, die sich über seine Haut schlichen. Er hatte nie etwas vergleichbares erlebt, niemals in seinem Leben, nichtmal ansatzweise, es war, als wüsste Harker genau, welchen Schalter er in ihm umzulegen hatte. Er schloss die Augen, er genoss es zu sehr, um sich von seinem Sehsinn ablenken zu lassen, und vor seinem inneren Auge spielte sich erneut die Szene ab, an die er bereits vor ein paar Sekunden gedacht hatte: Harker unter sich in dem riesigen Bett, das Glitzern in den Augen, das feine Lächeln auf dem Schwung seiner Lippen. Thomas gab ein weiteres, stockendes Keuchen von sich, er konnte gar nicht anders, es war aus ihrem herausgedrungen, bevor er es wieder zurückdrängen konnte, und er suchte mit seiner Hand auf der Hüfte des anderen nach Halt.
      "Was tust du mit mir?", brachte er schließlich hervor, keine Antwort auf die Frage von Harker, aber eine Frage seinerseits, deren Antwort er wirklich gerne erfahren hätte, die sich ihm aber durch den Schleier seiner Gedanken nicht erschloss. Er wollte noch immer mehr, aber er durfte nicht mehr haben, langsam wurde es gefährlich, langsam wurde er sicher, dass er nicht mehr von dem Ort zurückkehren würde, an den er sich gerade begeben würde. Aber bekanntlich arbeiteten das Herz und der Verstand getrennt voneinander.
      "Hör nicht auf", krächzte er nach einer Pause, musste erneut stocken, zwang ein weiteres, aufkommendes Keuchen nieder. "Was immer du tust, hör nicht auf."
    • Ein leises Knurren entwich Vincents Kehle, als er das Flehen des anderen Mannes vernahm.
      "Ich hatte nicht vor, aufzuhören", raunte er dicht an Thomas' Ohr, bevor er sanft hineinbiss.
      Dann drückte er den Mann mit einer Hand nach hinten auf den Tisch, die andere noch immer zwischen dessen Beinen beschäftigt. Er nahm sich Zeit, bedeckte erst den Hals, dann die Brust, dann sogar den Bauch des Mannes mit hauchzarten Küssen. Schließlich ließ er sich auf die Knie sinken und befreite Thomas gerade so weit von dessen Hosen, dass er endlich zu Gesicht bekam, womit er die ganze Zeit schon spielte. Ein weiterer Kuss landete auf der Innenseite von Thomas' Oberschenkel. Dann noch einer, weiter oben.
      "Ich werde dir Wünsche erfüllen, von denen gut gar nicht ahntest, dass du sie hast," hauchte Vincent gegen den Schritt des Doktors, bevor er erst sanft die Spitze küsste und ihn dann in den Mund nahm.
      Ihm entrang sich ein leises, genussvolles Stöhnen, als er den Van Helsing endlich kosten konnte - wirklich kosten konnte. Die Lippen des Mannes hatten ihm bereits den halben Verstand geraubt, jetzt war ihm auch noch die andere Hälfte abhanden gekommen. In diesem Augenblick wollte Vincent nichts mehr, als Thomas' vergessen zu lassen. Er wollte, dass sich der Mann ihm und ihm allein auf eine Art und Weise hingab, die niemand sonst jemals erfahren würde. Thomas Van Helsing war sein.
      Bei diesen Gedanken wurde Vincents eigene Hose schmerzhaft eng. Es half nicht, dass er sich vorstellte, wie der Mann auf dem Tisch ihm Erleichterung verschaffte. Aber es spornte ihn weiter an, Thomas' Lust ins Unermessliche zu steigern.
      Er packte den Mann an den Hüften, beugte sich ein bisschen weiter vor und umschloss Thomas' volle Länge mit seinem Mund. Vincent war sich ziemlich sicher, seine neue Lieblingsdroge gefunden zu haben. Dass es ausgerechnet ein Van Helsing sein musste...
      "Gefällt dir das?" fragte er, leckte der Länge nach über Thomas und ließ seine Zunge um dessen Spitze kreisen. "Gefällt dir, was ich mit dir anstelle?"
    • Vincent Harker, Herr von Harker Heights, mutmaßlicher Vampir und Junggeselle, würde Thomas' Ende sein, dessen war er sich ganz sicher.
      Es hielt seinen Körper aber nicht davon ab, unter den Küssen zu zerfließen, die ihm verabreicht wurden, jeder neue besser als der letzte, eine Empfindung, die so richtig war, und weil sie das war, auch so gut war.
      Harker arbeitete sich nach unten vor und zog ihm die Hose ein Stück herab, küsste ihn quälend nahe an seinem Schritt, sodass Thomas für einen Moment hörbar die Luft einsog. Das kleine Kruzifix aus seiner Tasche fiel ihm heraus, von beiden unbemerkt, ein kleines Holzkreuz an einem kleinen Silberkettchen. Es fiel unbemerkt auf den Teppich und blieb dort liegen.
      Thomas beobachtete Harker für einen Moment, krallte seine Hände in den Tisch, wusste nicht, was ihn mehr aufreizte: Die Bemerkung, die er von sich gab, die Stimme, der Anblick oder erst das Gefühl, als er seinen Mund um ihn schloss. Sie stöhnten gleichzeitig auf, beide verfangen in ihrem vom Verlangen getriebenem Delirium, Thomas ein Stück näher daran, seinen Verstand zu verlieren. Er legte den Kopf wieder auf die Tischplatte, konnte sich nicht entspannen, konnte es einfach nicht, die Lust schoss ihm durch jeden Muskel seines Körpers, ein unbeschreibliches Gefühl, das seine Haut in Flammen steckte. Jetzt war er es, der sich räkelte, dessen Gehirn noch nicht gänzlich so schnell begreifen konnte, wie er das all sein Leben lang hatte verpassen können, während sein Körper sich bereits danach sehnte, all das nachzuholen - mit Vincent Harker, der, so wie er sich jetzt entschieden hatte, sicherlich kein Vampir war. Er konnte einfach keiner sein; wie hätte ein Wesen der Unterwelt ein solch unbeschreibliches Gefühl in ihm auslösen können?
      Er stöhnte erneut, kam sich merkwürdig vor, dass sein Körper solche Laute zustande brachte.
      "Ja", keuchte er, zuckte unter der Liebkosung, glaubte gleich explodieren zu müssen. "Mach weiter, bitte. Ich bitte dich."
      Sein Glied bestand bereits nur noch aus pulsierendem Fleisch, so erregt war er noch nie in seinem Leben gewesen, so viel Lust hatte er noch nie verspürt. Er drückte sich Vincent entgegen, wollte sich halb aufrichten, ließ es dann doch wieder bleiben in Anbetracht der Tatsache, dass er sich vermutlich nicht lange hätte oben gehalten können. Er glaubte nicht, dass er es nur eine Sekunde noch aushielt, zu angespannt waren seine Glieder, zu sehr standen seine Nervenenden in Flammen. Er schloss bereits die Augen wieder und keuchte lustvoll auf.
    • Die Grenze zwischen Monster und Mann verschwamm zusehends. Ein Mensch, völlig wehrlos gegenüber seinen Berührungen. Ein Jäger, der sich ihm willentlich entgegen reckte. Ein Van Helsing, der ihn anbettelte, weiterzumachen.
      Mit einem Knurren senkte sich Vincent wieder über den Mann, spielte mit Zunge und Zähnen an dessen Schritt, gnadenlos. Die Geräusche, die er dabei Thomas entlockte, kamen einer Symphonie gleich. Er war sich ziemlich sicher, dass er gar nicht mehr aufhören konnte, wenn er es denn gewollt hätte. Aber nein, er wollte dass sich dieser Mann verlor, in ihm verlor und dem, was er mit ihm anzustellen vermochte. Vincent würde sichergehen, dass der Doktor lernte, dass das hier erst der Anfang war.
      "Komm für mich", raunte Vincent heiser gegen die empfindliche Stelle an der Wurzel von Thomas' Schritt.
      Mehr Pause gönnte er dem Mann nicht, bevor er ihn weiter heftig bearbeitete. Er wollte, was Thomas ihm geben konnte. Er wollte alles. Und Vincent Caley war niemand, dem man seinen Wunsch verwehrte.
      Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Thomas ihm endlich gab, wonach er verlangte. Im Gegenteil: Vincent genoss jeden noch so kleinen Tropfen von Thomas' Lust, verschwendete keinen einzigen. Sein Körper lechzte nach mehr.
      Er richtete sich auf, legte Thomas eine Hand in den Nacken und zog ihn in eine sitzende Position, um ihn zu küssen. Er schlang den anderen Arm um die Hüfte des Mannes, presste ihre Körper aneinander. Der Geruch von Zimt, gemischt mit Schweiß und Lust, Begehren und Ekstase stieg ihm in die Nase und es war alles, was Vincent jemals riechen wollte.
      "Wenn du mehr willst", wisperte er an Thomas' Lippen. "Dann komm heute Nacht zu mir. Nach dem Maskenball. Du weißt, wo du mich finden kannst."
      Damit löste er sich von dem Doktor. Er richtete sein Hemd, fuhr sich lächelnd mit einer Hand durch die Haare und dann verschwand er aus dem Frühstückszimmer, um sich um seine Gäste zu kümmern. Er war froh, heute doch früher aus dem Bett gerollt zu sein.

      Im Salon und im Ballsaal herrschte auch weiterhin reges Treiben. Vincent bemerkte die Abwesenheit einiger seiner Gäste, die sich wohl mit Spaziergängen auf dem Gelände beschäftigten oder seine Bibliothek aufgesucht hatten, die nicht weniger bekannt war als seine alljährliche Feier selbst.
      Er ging dazu über, sich wieder mit einigen Leuten zu unterhalten, wie man es von einem guten Gastgeber erwartete. Eine Stunde später wurde das Abendessen verkündet und die kleinen Grüppchen, die sich den Tag über gebildet hatten schwappten in Wellen zu den Esstischen im Ballsaal. Vincent vermied es, den guten Doktors Van Helsing auch nur zu suchen. Sollte er ruhig ein bisschen zappeln.
      Gegen Ende des Abendessens erhob sich der Hausherr und mit ein paar kurzen Worten erlangte er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
      "Ich weiß, wir sind alle betrübt ob des plötzlichen Ablebens von Lady Norwich. Sie war nun schon das dritte Jahr in Folge hier und ich weiß, dass sie den Maskenball um nichts in der Welt verpassen wollte. Daher habe ich mich dazu entschieden, diesen Ball auch weiterhin stattfinden zu lassen. Meine Damen, meine Herren: Ich bitte Sie alle nun also auf Ihre Zimmer zurückzukehren und sich auf den Ball vorzubereiten. Die Regeln sind die Folgenden: Niemand verlässt das eigene Quartier bis die große Hofglocke erschallt. Sobald sie dreimal geklingelt hat, fingen sich bitte alle Gäste hier im Ballsaal ein. Es ist niemandem gestattet, die Maske abzunehmen, solange man sich nicht in den Quartieren aufhält. Um Mitternacht dann werden wir Anstoßen auf die Nacht der Geister. Und wer weiß? Vielleicht werden ja einige mit uns tanzen?"
      Begleitet von tosendem Applaus verließ Vincent als erster den für das Abendessen hergerichteten Ballsaal, der sich in der kommenden Stunde vollkommen verwandeln würde. Mit jedem Schritt, mit jeder vergehenden Minute wuchs Vincents Nervosität. Es war unmöglich zu sagen, was heute Nacht geschehen würde.
    • Die animalischen Geräusche, die Harker von sich gab, gingen in Thomas' eigenen Lauten unter, die er zuletzt kein bisschen mehr unter Kontrolle hatte. Er krallte sich in den Tisch hinein, in seine einzige Rettung, die ihm vor dem Ertrinken bewahrte. Seine Glieder verkrampften sich alle gleichzeitig, sein Atem setzte aus und dann ergoss er sich in einer explosionsartigen Welle, die seine Muskeln erzittern ließ und ihm sämtliche Gedanken auf einmal aus dem Kopf wischte. Er fühlte sich unheimlich ausgelaugt, unheimlich leer und erschöpft vom Nichtstun, vom bloßen Kommen, aber in einer solchen Intensität, dass er sich fragte, wie er sein Leben jemals ohne ausgehalten hatte können. Er rang nach Luft, kam zu Atem, als sich eine feste Hand unter seinen Nacken schob und ihn nach oben zog, nach oben zu dem Mann, in den sich Thomas, just in diesem Moment, wahrscheinlich vernarrt hatte. Sie küssten sich, umschlangen sich für einen weiteren Moment, in dem er sich wünschte, ja sogar hoffte, dass es noch nicht vorbei war, dass er noch nicht zum Ende dieses was-auch-immer gerade stattgefunden hatte, gelangt war. Als er die Augen öffnete, lag der glitzernde Blick auf ihm und versetzte seinem erschöpften Herz einen weiteren Sprung.
      "Ich weiß es. Ich werde kommen", versprach er, bevor sein träges Gehirn überhaupt soweit war darüber nachzudenken, ob er ein solches Versprechen überhaupt abgeben sollte, ob er denn erst darüber nachdenken sollte. Harker löste sich von ihm, richtete sich die Kleidung, die Haare, setzte sein charmantes Lächeln auf und ließ Thomas allein mit sich selbst und seinen zurückkehrenden Gedanken, die sich nun noch wirrer anfühlten als zuvor. Hatte er jetzt doch ein Urteil über den Mann gefällt - und gleichzeitig vielleicht auch über ihn und Darcy? Oder was genau fühlte sich jetzt so gänzlich anders an ihm an, wie an dem Thomas vor noch einer halben Stunde? Er konnte nicht zurück, soviel wusste er, diese Linie hatte er überschritten. Aber zu was konnte er nicht zurück? Was war gerade mit ihm geschehen?
      Er rutschte vom Tisch, zog sich die Hose hoch, richtete auch seinen Anzug und seine Haare. Dann ließ er sich von den einfachen Fenstern ablenken, von den Bäumen draußen und dem schattigen Licht, bevor auch er sich auf den Weg machte, um zurück zur Realität zu gelangen.

      Er stieß auf Darcy, als er gerade dabei war, den Ballsaal zu betreten.
      "Thomas", rief sie sogleich, unnötigerweise - er war doch genau hier - und hakte sich ungefragt bei ihm unter. Er musterte sie eine lange Zeit, betrachtete die ihm bekannten Gesichtszüge, den schlanken Hals, der in einen weiten Ausschnitt überging. Nüchtern realisierte er, dass er ihren Anblick hasste.
      "... Ist alles gut? Du wirkst so blass."
      Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn und blickte besorgt drein.
      "Und du glühst! Geht es dir nicht gut? Möchtest du dich ausruhen?"
      Ob es ihm nicht gut ging? Er dachte daran, dass es ihm vor fünf Minuten noch sehr gut gegangen war.
      "... Thomas?"
      "Nein, alles bestens. Es ist... warm hier drin."
      Sein Blick schweifte von ihr ab, durchsuchte die Menge, fand das Objekt seiner Begierde, sog den Anblick in sich auf. Wie schaffte es der Lord nur, sich so schnell wieder so gewöhnlich zu verhalten.
      "Hast du was gefunden?"
      "Nein, nichts. Sackgasse. Du etwa?"
      "Nein. ... Sackgasse."
      Er würde ihr versuchen beim Ball zu erklären, zu welchem Schluss er gelangt war - wenn er sich überhaupt erst einen Beweis dafür einfallen gelassen hatte. Bis dahin würde er wohl nur nachdenken, über alles, worüber nachgedacht werden musste.

      Das Abendessen fand in entspannter Runde statt, zu der sich ein paar von Darcys neuen Freundinnen und deren Männern gesellten. Einer davon war wohl Bankier und Thomas musste ein Gespräch über Aktien über sich ergehen lassen, während er eigentlich versuchte, mit dem Hausherren Blickkontakt aufzunehmen, der ihn glimpflich ignorierte. Nun, wahrscheinlich war es wohl besser so. Er wusste nicht, ob er so schnell wieder ein normales Gespräch mit ihm aufbauen konnte.
      Es folgte am Ende eine kleine Ansprache, die sich dem bevorstehenden Ball widmete, und damit waren alle Gäste zu ihren Zimmer entlassen. Darcy schnatterte noch immer aufgeregt mit ihren Freundinnen, als sich alle vom Tisch erhoben, und Thomas musste sie zwei Mal zum Gehen auffordern, ehe sie sich endlich lossagte und ihm mit einem breiten Grinsen folgte.
      In ihrem Zimmer zogen sie sich um, Darcy in ein knallrotes Kleid, begleitet von einer Vogelmaske, die einen langen Schnabel besaß und einen unglaublich ausfallenden Federschmuck hatte, und Thomas in einen dunkelbraunen Anzug mit einer goldbestickten Maske, deren Schnörkel an den Rändern an die alte barocksche Machart erinnerten.
      Als er sich seinen Anzug glatt strich und die Hände in die Taschen schob, durchfuhr ihn einen Stich der Panik.
      "Mein Kruzifix! Herrgott, ich muss es wahrscheinlich verloren haben im -"
      Er unterbrach sich bei dem Gedanken selbst, bevor er noch zu viel ausplauderte. Darcy stand vor dem Spiegel und war noch damit beschäftigt, ihre Haare zu richten.
      "Wo? Wo hast du es verloren?"
      "... Im Ballsaal, wahrscheinlich. Ich werde nachher danach suchen."
      "Kauf dir doch ein neues."
      Darcy hielt nichts von Glücksbringern. Sie würde nicht verstehen, wenn er versuchen würde ihr zu erklären, dass man einen Glücksbringer nicht einfach ersetzen konnte.
      "Ja. Vielleicht."
      Dann setzten sie sich und warteten, schwiegen sich gegenseitig an und lauschten auf die drei Glockentöne, die sie aus ihrer gemeinsamen Befangenheit befreien und den nächsten Abschnitt dieses sonderbaren Festes einleiten würden.
    • Einmal im Jahr ließ sich Lord Harker zu einer großen Show um seiner selbst hinreißen. Einmal im Jahr gestattete er es sich, ein bisschen anzugeben. Die Menschen bewunderten ihn sowie so schon wegen seiner Feiern, da konnte er den Moment auch nutzen und noch eine Schippe draufsetzen.
      Mit diesem Gedanken überlegte er, ob er seine Gäste im Ballsaal empfangen, oder dramatisch als letzter auftauchen sollte. Er entschied sich für Ersteres und so wanderte er durch sein von Gästen befreites Haus hinunter in den größten Raum, den Harker Heights zu bieten hatte. Seine Angestellten eilten noch immer geschäftlich hin und her, um die letzten Details zu richten. Was vor einer Stunde noch ein Speisesaal der gehobeneren Klasse gewesen war, war nun ein extravaganter Saal, der zum Tanzen, Trinken und anderen Aktivitäten einlud. Alles hatte genau den richtigen Hauch an Okkultismus, damit die Leute auch ja nicht vergaßen, was sie hier heute eigentlich feierten. Dabei war All Hallows' Eve nicht einmal ein richtiger Feiertag.
      Vincent ließ den Blick über alles schweifen wie ein König über sein Reich. Wenn alles gut ging, hätten seine Gäste heute eine nette Nacht, über die sie sich noch wochenlang unterhalten konnten. Wenn alles noch besser ging, würden es einige wohl nicht mehr nach Hause zu ihren Liebsten schaffen. Und wenn alles perfekt verlief, dann fanden all seine Gäste einen friedlichen Heimweg, hatten neuen Tratsch im Gepäck und Vincent hätte endlich erreicht, was er schon seit einer Dekade plante. So gesehen war die Anwesenheit eines Van Helsings vielleicht sogar ein kleiner Vorteil.
      "Es ist alles bereit, Vincent," informierte ihn Nora.
      "Dann zieht euch zurück," antwortete Vincent. "Auf eine friedliche Nacht."
      "Auf eine erfolgreiche macht, Sir."
      Vincent lächelte, Nora lächelte aufmunternd zurück, dann verschwand sie und mit ihr der Rest von Vincents Belegschaft. Unterdessen bezog Vincent Position auf der kleinen Bühne, auf der sich in wenigen Minuten maskierte Musiker aufstellen würden. In seinem tiefschwarzen Anzug mit den goldenen Nähten und Verzierungen in Form von französischen Blumenmustern und seiner schwarz-goldenen Maske geformt nach dem Ebenbild des ägyptischen Totengottes Anubis wirkte er wirklich wie der König dieses Ballsaals. Kurz darauf erschallte die große, alte Glocke aus seinem Hof, die auf dem gesamten Anwesen zu hören war.
      "Lasset die Jagd beginnen", murmelte Vincent.

      Die Gäste strömten in den Saal wie Wasser, das einen Damm verließ. Jeder einzelne seiner Gäste hatte sich in Schale geworfen - von dem gesprächigen Eisenbahner Norbert bis hin zu den Adeligen, die ihren Weg hier her gefunden hatten zu dieser Nacht der Geister.
      Dutzende Herzschläge füllten Vincents Kopf, lauter noch als die Schritte und das Getuschel. Als auch noch der letzte Gast den Raum betreten hatte, schlossen sich die Türen zum Ballsaal wie von Geisterhand, doch niemand schien sich wirklich dafür zu interessieren, zu normal war der Gedanke daran, dass das Haus vor Bediensteten nur so wimmelte, die im Hintergrund agierten.
      Vincent breitete die Arme aus und binnen weniger Sekunden kehrte Stille ein.
      "Auf eine friedliche Nacht der Geister," rief er aus. "Trinkt, tanzt, vergnügt euch! Genießt das Leben, denn eines Tages ist es vorüber!"
      Er klatschte laut in die Hände. Im gleichen Augenblick, in dem er das Tat, ging eine sanfte, kühle Brise durch die Menge, kaum spürbar. Und kurz darauf begannen die Musiker hinter Vincent zu spielen. Und die Menschen im Saal taten, was ihr Gastgeber ihnen geboten hatte. Zuerst nur ein paar - die mit schwachen Willen, die auf Vincents kleine Manipulation ansprangen - dann breitete sich die Feierlaune wie ein Lauffeuer durch den Raum aus.
      Vincent sprang von der Bühne und mischte sich unter die Leute.
    • Eine reine Parade aus bunten Ballkleidern, edlen Anzügen und funkelnden Masken ergoss sich in den Ballsaal hinein, der mit seiner Dekoration und der eingetretenen Nacht ein völlig anderes Bild erzeugte als noch am Tag. Es hatte wahrlich etwas magisches und übernatürliches an sich, wie die Atmosphäre jeden einzelnen Gast in sich aufnahm und zu einem Teil ihrer selbst machte, als wären die vielen Menschen auch nur Dekoration, um dem Saal den letzten Schliff zu verpassen. Nicht zuletzt sorgte natürlich auch der Gastgeber, dessen Aufzug an Eleganz mit der Konkurrenz spielend leicht ebenbürtig war, für einen dramatischen und passenden Empfang.

      Die Musik setzte ein, ausgehend von einem kleinen Kammerorchester, das sich die kleine Bühne zu eigen machte, und die ersten Pärchen strömten bereits auf den kleinen Bereich davor, an dem extra Platz gemacht wurde. Die Gespräche setzten fast zeitgleich ein, wie eine Welle, die sich durch die Menge schob und jeden mit sich riss. Es gab nun tatsächlich nur noch zwei Wahlmöglichkeiten: Entweder trinken und plaudern oder tanzen.
      Thomas, der seinen hässlichen roten Vogel an seinem Arm führte, versuchte ein letztes Mal einen Blick auf den Hausherren zu erhaschen, sah ihn aber schon unter den vielen extravaganten Kopfschmucken gar nicht mehr und schimpfte sich dafür, dass er überhaupt seinen naiven Gedanken so sehr nachhing. Er hatte Darcy an seiner Seite, die sich schon von der Musik und dem Licht und den tanzen Gästen in den Bann ziehen ließ, und das musste vorerst genug sein. Über das Ereignis heute konnte er sich noch nachher im Bett den Kopf zerbrechen.
      Er führte seine Frau auf den Rand zu, an dem bereits Tische mit Getränken bereit standen, als Darcy ihn am Arm zog und zur Bühne deutete.
      "Lass uns doch tanzen, bitte!"
      "Jetzt schon? Es hat doch gerade erst angefangen. Wenn wir jetzt schon tanzen, sind wir nachher müde."
      Er konnte sehen, wie ihre Lippen unter dem Schnabel schmollten.
      "Ach, komm schon! Nur ein Tanz."
      "Von mir aus. Ein Tanz, dann arbeiten wir."
      Das hieß, er würde Darcy die Arbeit überlassen, bei der sie sicherlich nicht vorankommen würde, und er würde sich etwas zu trinken genehmigen und sich zurücklehnen. Vielleicht, ja nur vielleicht, ein Wort mit dem Gastgeber wechseln.

      Sie strebten auch auf die freigehaltene Tanzfläche zu und Thomas ergriff Darcys Hand, die er neben sich hielt. Die Musik war noch mittelschnell, nicht allzu schnell um die Tänzer bereits zu ermüden und auch nicht so langsam, dass man hätte Walzer tanzen müssen. So hielten sich die Bewegungen der anderen tanzenden Pärchen noch im Rahmen und es war dem Neuzugang ein leichtes, sich darunterzumischen und sich dem steten Strom anzupassen.
      Thomas war ein passabler Tänzer, ein guter sogar, er musste ja einer sein, wo er sich doch in Kreisen bewegte, in denen der klassische Partnertanz einem Statussymbol gleichgestellt war. Und Darcy war - wie hätte es anders sein können - eine meisterliche Tänzerin. Sie nahmen die Grundhaltung ein und gingen in den Rhythmus der Musik über, ein paar gezügelte Bewegungen, um sich einzufinden. Dann, als sie bereits eine Runde um die Tanzfläche getanzt hatten, nahm Darcy Abstand von ihm und fing an sich im Einklang zu seinen Schritten zu drehen, ja wirbelte geradezu mit ihrem aufbauschendem Kleid einher, ergriff die Hand, die er ihr zur rechten Zeit hinhielt, und ließ sich von ihm in seine Arme leiten, nur um im nächsten Moment wieder zur Seite auszuschweifen. Darcy liebte tanzen - wie hätte es anders sein können - und hätte Thomas im Gegenzug sie geliebt - oder irgendeine andere Frau, mit der er tanzte - dann hätte er es wohl auch gemocht. So war es nur eine weitere Pflicht der Gesellschaft, der er sich beugte, und auch wenn er sich nicht schwer damit tat, hätte er sich wohl lieber zu einem der Zuschauerplätze begeben, um das Spektakel von außen betrachten zu können.
    • Anders als den ganzen letzten Tag und die letzte Nacht verbrachte Vincent keine einzige Minute damit, sich an irgendwelchen Schultern zu reiben, Hände zu schütteln oder gar Gespräche zu führen. Er mischte sich nur unter die Leute, um Thomas' Blicken entkommen zu können. Er wollte sehen, was der Mann tat, wie er sich verhielt. Vincent hatte noch nicht die Gelegenheit gehabt, den Mann zu beobachten, ohne dass sich dieser seines Beobachters bewusst war. Das holte er jetzt nach.
      Wie ein Tiger auf der Jagd pirschte sich Vincent durch die Menge, bis er den Rand der Tanzfläche erreicht hatte. Er sorgte dafür, dass immer eine kleine Schicht anderer Zuschauer zwischen ihm und dem eigentlichen Bereich wartete. Ein leichtes Unterfangen, wenn man den Willen anderer manipulieren konnte. Mit dem gleichen Trick hielt er sich auch Konversationen vom Leib. Er war praktisch unsichtbar für seine Gäste.
      Er beobachtete jede einzelne Bewegung des Doktors und auch die seiner Begleitung. Beide konnten tanzen, aber nur eine von beiden mochte es auch. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den Van Helsing Erben zu retten, doch er tat es nicht. Stattdessen trat Vincent einen Schritt nach vorn, ließ Thomas sehen, dass er zuschaute. Und dann, als der Mann notgedrungen den Blick abwenden musste, verschwand der Herr des Hauses wieder hinter einer Wand aus Menschen.
      Er suchte sich seinen Weg zu einem der Sofas, die in unregelmäßigen Abständen am Rande des Saals platziert worden waren. Sie alle waren der Tanzfläche zugewandt, auch wenn man zu diesem Zeitpunkt, wo alles und jeder noch auf den Beinen war, nicht viel davon sehen konnte. Vincent ließ sich auf das Möbelstück fallen und ließ die Dinge um sich herum passieren. Es dauerte nicht lange, bis sich zu beiden Seiten von ihm ein paar junge Frauen einfanden, die genau wussten, dass er nicht an irgendwelchen Gesprächen interessiert war. Vincent konnte sich nicht sicher sein, woher sie kamen, aber er kannte diese Art von Mädchen - und das waren sie: kaum alt genug, um sich in solcher Gesellschaft aufzuhalten. Sie waren hier, um ihrer Familie einen großen Namen zu angeln. Sie schmiegten sich an ihn, nicht aus auf intelligente Unterhaltungen, sondern auf einen Mann. Sie waren Töchter aus gutem Hause, die vor ihren Nachbarn angeben wollten. Sie waren Sprösslinge des Mittelstandes, die sich einen Weg nach oben suchen wollten. Von den vier Mädchen und dem einen Jungen - von dem sich Vincent nicht sicher war, ob er etwas von Lord Harker wollte oder doch von einem der Mädchen - war nur eine ehrlich interessiert an ihm. Die anderen vier verströmten den Duft von Lust und Verschlagenheit. In den letzten neun Jahren hatte sich Vincent diesem Geruch hingegeben, hatte die ganze Nacht über gesündigt, sobald er die Zeit dafür fand. Doch nicht heute Nacht. Heute Nacht verlangte es ihn nach Zimt.
    • Darcy warf sich wieder an Thomas heran, hielt sich an seiner Schulter fest, ließ sich von ihm herumziehen, trennte sich wieder. Es war die eine Sache, bei der sie wohl gänzlich gute Teamarbeit leisteten, wobei natürlich Darcy diejenige war, die dem Tanz erst die nötige Würze verabreichte. Zugegeben, sie hatte eine ganz vorzügliche Körperhaltung, konnte sich so weit nach hinten biegen, dass man meinte, ihr Rückgrat müsse sich gleich verabschieden, aber das war eben alles nur nebensächlich, wenn im Kopf keine Frau, sondern ein Mann herumspukte, mit dem man noch nichtmal so einen Tanz vollführen konnte.
      Und als sich Thomas Darcy nachdrehte, sah er genau diesen Mann.
      Er stand am Rande der Tanzfläche, unbeweglich wie eine Statue, und sah ihn direkt an - er wusste, dass er ihn ansah, konnte den Blick auf seiner Haut brennen spüren wie schon bei der Auseinandersetzung mit ihm am Nachmittag. Ein Schauer ergriff ihn, von dem ihn Darcy sogleich wieder erlöste, als sie die Hand wechselte und ihn zum Seitschritt zwang. Er vollzog einen Halbkreis mit ihr, ließ sie für ihre Drehungen wieder los und sah sich sogleich wieder nach Harker um, der allerdings schon spurlos verschwunden war. Er hatte vielleicht zwei Sekunden weggesehen und schon war der Hausherr wieder wie ein Geist in der Masse der Menschen untergetaucht.
      Hatte er ihn erkannt? Hatte er ihn deshalb angesehen? Es war unmöglich. Darcy sah mit ihrem Vogelschnabel nicht aus wie Darcy und Thomas hatte einen gänzlich anderen Anzug an, andere Farben, seine eigene Maske. Er hätte ja nicht einmal Harker erkannt, wenn er nicht so offensichtlich die Gäste begrüßt hätte, so sehr verschwand die Gestalt unter dem Rest der Meute und so war es wohl auch für Thomas.
      Aber er war sich sicher, dass er ihn angesehen hatte. Er hatte es gespürt. Er war sich so sicher.
      Vorerst musste er sich sowieso weiter mit Darcy beschäftigen. Sie tanzten noch drei weitere Runden, ehe sie sich außer Atem von dem Strom lossagten und nun endlich den Gang zu den Getränken angingen. Darcy hatte sich wieder bei ihm untergehakt und hatte einen fröhlich, lockeren Schritt drauf, während Thomas nur die Umgebung absuchte. Der schwarze Anubis-Gott musste einfach herausstechen, etwas anderes war gar unmöglich. Allerdings gab es so einige Gäste, die schwarze Anzüge trugen, und auch wenn die Anubis-Maske einzigartig sein musste, musste sie doch erst gefunden werden.
      Er unterbrach seine Suche, um sich den Getränken zu widmen, als er sich dann doch zu dem nächsten schwarzen Anzug umdrehte - und tatsächlich Anubis erkannte. Sein Herz machte einen Sprung bei der Gestalt, die sich dort auf dem Sofa entspannte, von einer Traube aus jungen Frauen - und einem Mann? - umgeben, aber er riss sich einen Moment später zusammen. Was sollte er tun, was sollte er sagen? Hallo Vincent, würden Sie sich mit mir zurückziehen, um noch einmal das zu tun, was sie heute Nachmittag getan haben? Das war ja lächerlich, unmöglich sogar! Nein, er konnte nicht.
      ... Aber jemand anderes konnte.
      "Darcy, da ist er. Fordere ihn zum tanzen auf."
      Darcy strich sich eine Strähne ihrer Haare hinter die Ohren und sah mit ihrem Vogelgesicht in seine angedeutete Richtung.
      "Aber er hat schon einen Haufen Frauen um sich."
      "Na und? Versuch' es wenigstens. Mehr als Nein sagen kann er ja nicht."
      Und Thomas würde sich in der Zwischenzeit überlegen, wie er die Sache nur anständig angehen konnte.
      Nachdem es sich ums Tanzen handelte, dachte Darcy nicht zwei Mal darüber nach, hob sich den Saum ihres Kleides an und stolzierte zu dem einsamen Sofa hinüber, wo vier Frauen gleichzeitig versuchten, ihre Hände auf den schwarz gekleideten Mann zu bekommen.
      "Lord Harker", begrüßte sie ihn guter Laune und vollzog ihren kleinen Knicks, ehe sie ihm den Handrücken anbot. "Dürfte ich Sie wohl dazu auffordern, mich zum Tanz aufzufordern?"
    • Auch wenn man es durch seine Maske nicht sehen konnte, so behielt Vincent doch das Objekt seiner Begierde im Blick. Wie er mit seiner Freundin tuschelte. Wie er sie vorschickte, um mit ihm zu reden. Er fragte sich, was Thomas vorhatte.
      "Lord Harker. Dürfte ich Sie wohl dazu auffordern, mich zum Tanz aufzufordern?"
      Die Gruppe, die sich um ihn geschart hatte, warf der Freundin des lieben Doktors Blicke zu, die töten konnten.
      "Sie dürfen", antwortete Vincent und erhob sich aus dem Haufen an Körpern.
      Er ergriff Ms. Brooks' Hand und folgte ihr zur Tanzfläche. Sie war wirklich eine gute Tänzerin. Aber Vincent konnte problemlos mithalten, dank seiner Jahrzehnte an Erfahrung. Er hielt seinen Blick auf die Frau gerichtet, auch wenn für ihn nicht wirklich von Interesse war.
      "Ist der gute Doktor bereits erschöpft?" fragte er, ein freundliches Lächeln in der Stimme, verborgen durch seine Maske.
      Er wirbelte die Frau elegant herum und wieder zurück in seine Arme, ohne dabei den Rhythmus zu verlieren. Allerdings ließ er niemals die Nähe zu, die solche Tänze erreichen konnten. Vincent bewahrte ganz und gar die Sittlichkeit, immerhin war er ein Mann, der mit der Frau eines anderen tanzte, soweit es die Gesellschaft betraf.
      "Oder wollen Sie noch einmal versuchen, das Gespräch zu führen, dass ich heute Nachmittag so unelegant abgewürgt habe? Ich entschuldige mich dafür im Übrigen. Das war alles andere als höflich von mir. Ich bitte um Verzeihung."
      Das Lied wechselte und Vincent passte seine Schritte an den neuen Rhythmus an, ohne auch nur zu blinzeln. Andere Paare brauchten einen Moment länger.
      "Sie sind eine talentierte Tänzerin, wenn ich das anmerken darf."
    • Darcy unterschied sich von den anderen Frauen, die den Lord ständig zu umschwärmen schienen, nur insoweit, dass sie ihre Blicke nach ihm besser zu verstecken wusste. Das hieß nicht, dass sie nicht auch unweigerlich von seinem Charme in Besitz genommen wurde, sondern dass ihr die Sitte wichtiger war, um sich daran zu halten. So spielten sie sich auch schnell auf den nächsten Tanz ein, beide darauf bedacht, den nötigen Abstand zu wahren.
      Darcy gluckste über seine Bemerkung überrascht, drehte sich und nahm wieder ihre Haltung bei ihm ein, bevor sie seiner Frage antwortete.
      "Aber, Lord Harker, wie haben Sie mich nur erkannt? Bin ich etwa so durchschaubar?"
      Sie kicherte, so mädchenhaft, wie sie am gestrigen Abend schon über Thomas' Überfall gekichert hatte, und trennte sich wieder für einen Moment von ihrem Tanzpartner, nur um sich dann wieder mit Schwung an ihn heran zu drehen.
      "Mein lieber Thomas hält nicht viel aufs Tanzen. Das ist eine Schande, wo es doch heute Abend keine bessere Beschäftigung geben könnte."
      Ihr Lächeln war unter der Vogelsmaske gut sichtbar und sie ließ sich geschmeidig von dem Gastgeber weiterführen. Ein paar der Pärchen wichen ihnen schon aus, bevor sie zu nahe kamen, zweifellos, um dem Gastgeber seinen Platz zu geben. Darcy bemerkte das kaum.
      "Unser Gespräch vom Nachmittag? Oh, dafür müssen Sie sich doch nicht entschuldigen. Es ist sicherlich ein Haufen Arbeit, ein solches Fest zu veranstalten, Sie müssen ein vielbeschäftigter Mann sein. Oh nein, ich teile nur das Interesse, das alle jungen Frauen an Ihnen zu haben scheinen - natürlich nur in angemessenem Maß."
      Die Musik wechselte und Darcy wirkte überrascht davon, wie schnell Lord Harker sie zu dem neuen Rhythmus führte.
      "Sie schmeicheln mir, Lord Harker! Dabei scheinen Sie selbst ein Naturtalent zu sein. Wo haben Sie nur gelernt zu tanzen, etwa in London? Ich hörte, dass die Tanzschulen dort so hochwertig sind wie an keinem anderen Ort."
      Eine erneute Drehung, ein Paar, das ihnen freiwillig aus dem Weg ging, Darcys erfreutes Lächeln darüber, wie schnell der Lord sie wieder einfing.
      "Erzählen Sie mir etwas von sich, seien Sie so gut! Wo kommen Sie her, was treiben Sie beruflich? Wieso gibt es noch keine Frau in Ihrem Leben?"

      Thomas stand in der Menge am Rand und sah zu. Er hatte ein Glas Champagner in der Hand, ein anderer als der vom Vortag, und konnte Harker endlich eingehend beobachten, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Er tanzte ausgezeichnet, gar keine Frage, er und Darcy bildeten ein beinahe ebenbürtiges Paar, wobei Harker noch einmal ein Stück besser zu sein schien. Seine Bewegungen waren irgendwie selbstverständlicher, als würde er nicht tanzen, sondern sich einfach dem Rhythmus der Musik hingeben. Thomas konnte nicht umrum seinen Körper zu bestaunen, sich dieselben Szenen vorzustellen, die er sich bereits am Nachmittag vorgestellt hatte, nur äußerst gemäßigt, damit er sich nicht selbst verraten würde. Was würde er nur dafür geben zu wissen, wie er auf Harker zugehen sollte, wie er überhaupt mit der Situation umgehen sollte! Vorerst musste er es daher zwangsläufig dabei belassen, einfach nur zu beobachten und über ihre Zweisamkeit zu sinnieren.
    • "Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten, Ms. Brooks?" lächelte Vincent. "So interessant bin ich gar nicht."
      Mit gezielten, aber doch zufällig wirkenden Schritten manövrierte er sie beide um ein älteres Paar herum und in Richtung Rand der Tanzfläche.
      "Ich wurde hier auf diesem Grundstück geboren," sagte er und es war die Wahrheit. "Nicht in diesem Raum natürlich, nicht einmal hier im Haus. Und egal, was ich tat, mein Weg führte mich immer zurück hier her, nach Harker Heights. Wo ich es vorziehe, mein Leben als Sammler und Händler von Antiquitäten und Büchern allein zu fristen."
      Sie erreichten den Rand der Tanzfläche, kaum dass Vincent zu Ende gesprochen hatte. In einer fließenden Bewegung ließ er von Ms. Brooks ab und übergab sie an einen adretten jungen Mann, der schon seit einer kleinen Weile ein Auge auf die Dame in Rot geworfen hatte. Nach einer kurzen Verbeugung wandte er sich ab und schlenderte in aller Seelenruhe zu einem der Tische mit den Getränken. Ganz zufälligerweise ignorierte er dabei die ersten beiden Tische, an denen er vorbeikam, um sich genau neben einem Mann in braun einen Drink einzuschenken.
      "Doktor", grüßte er, seine Stimme leise und tief, als teilten sie ein Geheimnis miteinander in diesem Raum voller Leute.
      Ein paar wenige Blicke, versteckt durch seine Maske, und sie waren tatsächlich allein. Noch immer umringten die Menschen sie beide, aber plötzlich schien keiner mehr Interesse am Herrn des Hauses oder seinem Gesprächspartner zu haben.
      "Hat es einen Grund, dass Sie Ihre Freundin auf mich hetzen? Oder sehen Sie einfach nur gern zu?"
      Vincent füllte ein zweites Glas und reichte es Thomas, sein Blick eisern. Die Masken gaben dem Ganzen einen gewissen Bonus. Es fiel Vincent schwerer, die Menschen um ihn herum zu deuten, wenn sie ihre Gesichter vor ihm verbargen. Irgendwie musste man sich die Ewigkeit ja interessant machen.
    • Trotz Darcys offensichtlicher Niederlage dabei, Lord Harker irgendwelche relevanten Informationen zu entlocken, schien sie sich doch seiner Gegenwart gänzlich zu erfreuen. Umso enttäuschter war sie, dass ihr gemeinsamer Tanz ein Ende fand, bevor ihr selbst der Atem ausgegangen war - glücklicherweise hatte ihr Tanzpartner nicht nur vortreffliche Manieren, sondern auch eine hellseherische Fähigkeit, womit er sie nicht zurück zu ihrem Begleiter verfrachtete, sondern bei dem nächsten Tänzer abgab, der sich ihrer bereitwillig annahm. Die beiden nahmen sogleich den Platz ein, den Harker mit ihr noch vor ein paar Sekunden besetzt hatte, und tauchten in den tanzenden Strudel ein.
      Der Hausherr tauchte dafür bei Thomas auf, der für den ersten Moment nicht glaubte, dass Harker zu ihm kam. Mit dieser Vermutung lag er deutlich daneben, als er ihn bald darauf sogar ansprach.
      "Ich dachte, der Zweck eines Maskenballs sei es, dass man unentdeckt bleibt", brummte er, wobei es ihm nicht unwichtiger hätte sein können. Viel relevanter war, dass er sich nun darauf festlegen musste, wie er mit dem Lord umgehen sollte.
      "Meine Freundin auf Sie hetzen?", wiederholte er ungläubig und warf dem Anubis einen Blick zu. Himmel, es reizte ihn ja fast noch mehr, dass er das Gesicht des anderen nicht sehen konnte, seine Miene nicht beobachten konnte.
      Kam es ihm nur so vor, oder machten die Leute einen Bogen um sie beide?
      "Ich bitte um Verzeihung, wenn Sie eine solche Auffassung von mir haben. Ich habe Fräulein Brooks lediglich darauf hingewiesen, dass Sie in der Nähe waren, nachdem sie so sehr an Ihnen interessiert ist."
      Er zögerte, nahm den Drink entgegen, haderte mit sich, ob er den nächsten Gedanken wirklich aussprechen sollte.
      "Ich gebe zu, dass ich dieses Interesse wohl teile."
      Er konnte Harkers Miene nicht lesen, so sehr er es durch die Augenschlitze hindurch versuchte. Nur seine Körpersprache hätte ihm einen Aufschluss über seine Gedanken gegeben und da war wohl eher Thomas derjenige, der sich durch seine Angewohnheiten verriet. Herrgott, er hatte den ganzen Tag schon an nichts anderes gedacht und jetzt, wo sie wieder ein paar Worte miteinander wechselten, wurde es nicht besser.
      Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.
      "Und Sie? Genießen Sie das Fest, oder lassen Sie sich lieber von jungen Frauen umgarnen?"