In his Thrall [Codren feat. Pumi] [ABGESCHLOSSEN]

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    • Vincent lächelte. Er musste sich nicht einmal Mühe damit geben, Thomas um seinen Finger zu wickeln. Der Mann machte das von ganz allein, sobald Vincent den metaphorischen Finger hob.
      Vincent verkniff sich jeden weiteren Kommentar dazu. Viel lieber konzentrierte er sich darauf, seine Finger durch Thomas' Haare zu schieben und dabei zuzuhören, wie er langsam aber sicher in das Land der Träume sank.
      Wie in der Nacht zuvor beschäftigte sich Vincent damit, Thomas zu beobachten, sich vorzustellen, wovon der Mann wohl träumen mochte. Doch diese Nacht musste er auch an Beth's Worte denken und an die Erinnerungen, die er selbst damit verband. Er hatte gewusst, dass Thomas' Familie recht groß gewesen war vor zwei Generationen. Vincent erinnerte sich daran, wie er sich mehr als einmal aus dem Haus hatte schleichen müssen, weil die ganze Familie beschlossen hatte, einfach aufzutauchen. Er erinnerte sich daran, wie er sich mit Thomas' Großvater nach den Feiertagen in einer einsamen Hütte traf - der Van Helsing brauchte Urlaub nach all der Zeit mit der Familie. Er erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam ihre Schlachtpläne verfeinert hatten. Pläne, denen Vincent heute noch folgte in der Hoffnung, dass sie eines Tages das Ergebnis hervorbrachten, auf das er seit zwei Generationen wartete.
      Gegen Morgen erlaubte sich Vincent, seinen Kopf auszuschalten. Er rollte sich vorsichtig auf die Seite und schlang seine Arme um Thomas' Körper, bevor er selbst einschlief.

      Vincent träumte nicht, das tat er nie. Schlaf war bloß ein langer Moment zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang für ihn, ein stundenlanges Blinzeln. Normalerweise.
      Heute drang eine Stimme durch die Dunkelheit zu ihm. Er konnte sie weder verstehen, noch zuordnen, also beschloss Vincents schlafender Verstand, die Stimme zu ignorieren. Erst, als sie fordernder wurde und irgendetwas ihn rüttelte, sprang Vincent darauf an. Er grummelte und versuchte mit mehr als trägen Bewegungen, den Störenfried zu vertreiben.
      "Vincent."
      Er öffnete ein Auge einen Spalt breit und brauchte einen langen Augenblick, um das Gesicht vor sich als Thomas zu identifizieren. Er lächelte müde.
      "Thomas," murmelte er, bereit, jeden Moment wieder einzuschlafen.
    • Es glich einer Kampfansage, Vincent aus dem Bett zu bekommen. Der Mann schlief nicht, er wurde von seiner Müdigkeit regelrecht außer Gefecht gesetzt.
      "Vincent, nicht einschlafen. Komm schon."
      Er tätschelte ihm die Wange, mittlerweile mit Nachdruck, nachdem Vincents Augenlider schon wieder flatterten.
      "Hey. Entweder du stehst freiwillig auf, oder ich werde dich bis in die Kutsche tragen. Ich würde es tun, das weißt du ganz genau."
      Nach weiterem Betteln und einem unermüdlichen Kampf gegen Vincents Affektion zum Schlaf, konnte er ihn wenigstens dazu bringen, sich aufzusetzen und ans Kopfende zu setzen. Er ging zum Sessel, holte sich die Klamotten und kam damit bewaffnet wieder, um Vincent darin einzupacken. Der Mann wirkte so, als ob er selbst im Sitzen einschlafen könnte.
      "Vincent!"
      Das hatte er wohl davon, dass er ihn gestern einen miserablen Patienten genannt hatte - jetzt hatte er nämlich einen sehr typischen Patienten.
      "Wir sind in einer halben Stunde bei dir, dann kannst du weiterschlafen. Den ganzen Tag, wenn du willst."
      Das schien nun endlich ein stichhaltiges Argument zu sein, denn Vincent klappte die Augen auf und ließ es zu, dass Thomas ihm aus dem Bett half. Gemeinsam bestritten sie den Weg nach unten, wo Beth sie bereits erwartete.
      "Gute Besserung, Herr Harker!"
      Sie strahlte wie auch sonst, während sie den Männern in die Mäntel half
      "Ich hoffe doch, Sie werden uns bald wieder beehren!"
      "Bis morgen, Beth."
      Die drei verabschiedeten sich und gingen getrennter Wege. Draußen wurde es bereits langsam hell, ein furchtbarer Nebeneffekt dieser Jahreszeit. Man verließ das Haus im Dunkeln und kam im Dunkeln zurück, das war nichts, was die mentale Psyche aufrecht erhielt.
      Den gegenteiligen Effekt konnte Vincents Anwesenheit hervorrufen, dem Thomas in die Kutsche half, bevor er sich drinnen neben ihn setzte, um ihn zu halten. Die Kutsche setzte sich ruckelnd in Bewegung und er streichelte mitfühlend Vincents Schulter bei der holprigen Fahrt.
      "Gleich geschafft."
      Sie kamen ohne Verzögerung beim Harker Anwesen an, wo Thomas ihm wieder aus der Kutsche half und zur Tür begleitete, ausgerüstet mit einem kleinen Verbandskasten für Nora.
      "Ich komme heute Abend wieder, aber falls irgendetwas sein soll, kann sie jederzeit zu meiner Praxis kommen, okay? Das meine ich wortwörtlich, jederzeit."
    • Vincent erlaubte sich einen kleinen Scherz mit dem guten Doktor und gab sich mehr Mühe, ihm zu widerstehen, als nötig. Wie ein bockiges Kleinkind weigerte sich Vincent, die Augen zu öffnen, geschweige denn auch offen zu halten.
      Sehr zu seinem Glück war die Sonne noch nicht völlig aufgegangen, weswegen er sich darüber keine allzu großen Gedanken machen musste. Es half auch, dass der Himmel einmal mehr von dichten Wolken regiert wurde, die unheilsames Wetter ankündigten.
      In der Kutsche angekommen, lehnte sich Vincent übertrieben müde gegen Thomas. Bei jedem Holpern über Straßenschäden verzog Vincent das Gesicht, auch wenn sich seine Flanke kaum noch beschwerte. Allerdings stellte er etwas anderes fest, das ihm weniger gefiel: Er konnte das Silber noch immer in seinem Körper spüren, jetzt wo sein Hunger langsam zurückkehrte. Das Monster in seinem Inneren war kein Freund davon und brachte ihn sogar in diesem relativ ausbalancierten Zustand dazu, einen längeren Blick auf Thomas Hals zu richten.
      Beim Anwesen angekommen, ließ sich Vincent erneut von Thomas helfen und nahm dann das Kästchen entgegen.
      "Ich werde es ihr ausrichten."
      Er warf einen Blick seine Einfahrt hinunter, wohlwissend, dass sie hier niemand sehen konnte. Dann zog er Thomas schnell an sich und gab ihm einen Abschiedskuss.
      "Wann planst du, hier aufzutauchen? Nur damit, dein Abendessen nicht kalt wird," schmunzelte Vincent.
      Das war so eine häusliche Aussage. Fast schon als seien sie ein altes Ehepaar in einem einfachen Häuschen.
    • Überraschend erwiderte Thomas den Kuss, bevor er sich etwas voreilig von Vincent wieder zurückzog. Auch sein Blick huschte einmal die Auffahrt hinunter, aber während Vincent wohl der Ansicht war, dass sie hier niemand sehen konnte, war es mittlerweile doch recht hell und die Straße nicht weit entfernt. Es müsste nur einer ein paar Schritte auf das Anwesen machen und hätte sie im Blick und Thomas war ein solches Risiko zu groß.
      "Zwischen sieben und acht, das ist schwer abzuschätzen. Aber wartet bloß nicht auf mich, Nora soll sich keine extra Mühe machen und du sollst nicht hungern."
      Er lächelte Vincent an, das höchste Maß an Intimität, das er in diesem Augenblick von sich aus erlaubte, und gab ihm dann einen Klaps auf die Schulter.
      "Ich werde mich beeilen, versprochen."
      Sie tauschten einen letzten Blick aus, dann ging er zurück zu seiner Kutsche und fuhr ab.

      Den Tag über in der Praxis zu verbringen war schon beinahe traurig, wenn er wusste, dass Vincent noch in Cambridge und zudem verwundet war. Thomas bemerkte mehr als ein Mal, dass er die Männer in seinem Alter, die sich zu ihm verirrten, mit ihm zu vergleichen begann: Auf Attraktivität, Freundlichkeit, Humor, Aussehen. Er wusste nicht, was er damit zu veranstalten gedachte, aber am Ende des Tages sehnte er sich so sehr nach Vincent, dass er mit seinen Patienten sogar ungeduldig wurde. Dabei nutzte er die Praxis größtenteils dazu, Informationen über mögliche Vampire zu erhaschen und die bekam er nicht, wenn er seine Kundschaft vergraulte. Aber was sollte er schon großartig dagegen tun? Er war verliebt und das zum ersten Mal in seinem Leben. Richtig.
      Als er am Abend endlich in die Freiheit entlassen wurde, begab er sich daher auf direktem Weg zu ihm. Trotz seiner Eile war es dennoch halb acht und stockfinster, als er bei dessen Anwesen anklopfte.
    • Vincent sah Thomas nach, doch sobald die Kutsche außer Sicht war, huschte er in sein Haus.
      "Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von Sonnenlicht fernhalten?" tadelte Nora ihn zur Begrüßung, dann half sie ihm aus seinem Mantel.
      "Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich noch einen Tag bei Thomas verbracht hätte?" gab Vincent zurück, bevor er herzhaft gähnte. "Er kommt heute Abend vorbei und bleibt über Nacht. Ich fürchte, wir brauchen ein Abendessen für drei."
      Nora nahm ihm auch den Verbandskasten ab und sah ihn durch. Sie griff sich alles, was ein normaler Verbandswechsel so brauchte und stopfte es in die Taschen ihrer Schürze - sie war wohl gerade am Putzen gewesen.
      "Dann gehe ich nachher noch einkaufen," sagte sie. "Wann müssen wir mit ihm rechnen?"
      "Zwischen sieben und acht."
      "Dann wecke ich dich um sechs."
      Vincent nickte und verschwand dann in Richtung seines Schlafzimmers, wo er sich aus seinem Anzug schälte und direkt wieder hinlegte. Seine nicht-menschliche Biologie übernahm den Rest.

      Wie angekündigt wurde Vincent um sechs von Nora geweckt, was angesichts der fortgeschrittenen Dunkelheit der Jahreszeit gar nicht so schwer war. Gemeinsam zupften sie an dem Verband herum, bis es nach einem frischen aussah - die Materialien hatte Nora mittlerweile beseitigt - dann schlüpfte Vincent in seinen Morgenmantel und machte es sich in seinem Salon bequem.
      "Beth hätte mir beinahe Verraten, was Thomas so in seiner Freizeit macht," erklärte Vincent, als sich Nora mit frischem Tee zu ihm setzte. "Die alte Dame hat sich verplappert."
      "Und was hat der van Helsing dazu gesagt?"
      "Thomas hat es als Schützenjagd abgetan. Er ist wirklich, wirklich schlecht im Lügen."
      Sie unterhielten sich noch ein bisschen, bevor Nora gegen viertel nach sieben in der Küche verschwand. Vincent legte die Füße hoch und las ein bisschen, bis sich ein Besucher ankündigte. Nora hastete sofort zur Tür.
      "Doktor Van Helsing! Kommen Sie doch rein. Vincent ist im Salon. Wollen Sie einen Tee?"
      Sie half Thomas aus seinem Mantel, nahm ihm seine Tasche auch ganz tüchtig ab, bevor sie ihn zum Salon führte und wieder verschwand.
    • "Hallo, Nora."
      Thomas lächelte freundlich, sein Doktoren-Lächeln war noch immer wie in seinem Gesicht eingebrannt. Er trat ein, überreichte der Frau seinen Mantel und fuhr sich dann einmal durch die wirren Haare.
      "Ein Tee hört sich wundervoll an, danke."
      Er ließ sich von ihr ebenso in den Salon führen, auch wenn er den Weg wohl alleine gefunden hätte, und begrüßte Vincent mit hochgezogenen Augenbrauen. Der Mann saß auf dem Sofa und las, als ob es das normalste der Welt wäre.
      "Solltest du nicht im Bett sein? ... Bleib sitzen, um Gottes Willen."
      Er kam zu ihm, jetzt schon beinahe blank mit seinen Nerven, und griff sich seine Hand, auf der er ungezwungen ein paar Küsse platzierte. Erst hinterher setzte er sich neben ihn und - nach einem Blick zur Tür - stahl sich einen Kuss von Vincent. Es war unglaublich, wie sehr er ihn nach diesem kurzen Tag schon vermisst hatte.
      "Wie geht es dir? Alles gut soweit? Soll ich es mir mal ansehen?"
    • Vincent machte nur kurz Anstalten, aufzustehen, um zu sehen, wie besorgt Thomas noch immer war. Die Antwort war, sehr zu seinem Amüsement, sehr besorgt. Also ließ sich Vincent wieder gegen die Lehne sinken und legte sein Buch beiseite.
      "Ich habe mich praktisch nicht bewegt, ich schwöre es bei meiner Ehre. Aber den ganzen Tag gelangweilt im Bett zu legen ist auch nicht förderlich für meine Gesundheit, also habe ich mein Lager hier unten aufgeschlagen und ein bisschen gelesen."
      Er deutete auf den Stapel an Büchern auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. Thomas überraschte ihn mit einem kurzen Kuss, der überraschend gefühlvoll war. Vincent lächelte.
      "Mir geht es gut, danke der Nachfrage," antwortete er auf Thomas' Frage hin und hielt Thomas davon ab, ihn gleich wieder auszuziehen, nur um einen Blick auf eine Stichwunde zu werfen. "Nora hat den Verband gewechselt, sobald ich aufgewacht bin. Ich durfte nicht einmal frühstücken, bis sie fertig war."
      "Ich habe mir auch die Freiheit genommen, die Wunde vorsichtig zu reinigen," sagte Nora, die gerade mit Thomas' Tee hereinkam. "Ich habe ein bisschen Übung in Wundversorgung. Obwohl ich zugeben muss, dass mir noch keine Stichwunde untergekommen ist."
      Sie stellte den Tee auf dem Sofatisch ab und entschuldigte sich wieder, um das Abendessen weiter vorzubereiten.
      "Du siehst: Ich bin in guten Händen," sagte Vincent und zog nun seinerseits Thomas' Hand an seine Lippen. "Und jetzt hör auf, darüber zu reden. Das ist hinderlich in meinem Versuch, zu vergessen, was passiert ist."
    • "Ein bisschen" war wohl eine leichte Untertreibung bei der schieren Anzahl an Büchern, die Vincent vorzuweisen hatte. Er hatte in der kurzen Zeit vermutlich mehr gelesen, als Thomas in seinem ganzen Jahr.
      Aber solange es nur lesen auf dem Sofa war, wollte er nicht allzu streng mit ihm sein. Zumindest, solange er sich sicher war, dass es ihm gut ging.
      Sich die Wunde nicht anschauen zu dürfen, trug allerdings nicht unbedingt zu seiner Entspannung bei. Thomas war sogar drauf und dran, seine ärztliche Autorität durchzusetzen, um seiner Pflicht als eben jener nachzukommen, als Nora ihn darin unterbrach. Sie lieferte seinen Tee ab und auch wenn Thomas es gekonnt hätte, wollte er ihre Hilfe nicht einfach so untergraben. Es war schwierig die Verantwortung aufgeben zu müssen, wie er merkte, aber für Vincent ließ er sich darauf ein. Vorsichtig.
      "Danke, Nora. Und danke für die Hilfe."
      Er nahm sich den Tee und nippte daran, bevor er zu Vincent sah.
      "Wenn du aber Fieber bekommst, musst du es mir sagen. Oder wenn die Wunde übermäßig brennt. Oder anschwillt. Oder eitert."
      Alles konnte er eben nicht lassen, dafür saß sein Beschützerinstinkt viel zu tief in seinen Knochen. Aber er hielt sich schon zurück, so viel eben möglich war.
      Erst, als Vincent auch seine Hand küsste - seine Lippen fühlten sich warm und einladend an - entspannte Thomas sich ein wenig mehr. Er beobachtete seine Zuwendung, zog aber die Hand nicht zurück, als Vincent sie losließ, sondern drehte sie und legte sie stattdessen auf seine Wange. Für einen Moment nur konnte er sich einreden, dass sie alleine waren und dass es nichts gab, was irgendwo ihrer Aufmerksamkeit gebraucht hätte.
      "Entschuldige. Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles. Du bist mir wichtig, Vincent."
      Er lehnte sich zu einem weiteren Kuss nach vorne und fing Vincents Lippen mit seinen ein, ohne die Hand von seiner Wange zu nehmen. Als sie sich nach einem Moment wieder lösten und er sich wieder ordentlich hingesetzt hatte, legte er den Arm um Vincents Schulter und zog ihn sanft an sich. In der einen Hand einen Tee und im anderen Arm Vincent glich beinahe einer Traumvorstellung; er könnte sogar behaupten, in diesem Moment ernsthaft glücklich zu sein.
      "Du wirst mir fehlen."
      Er streichelte ihn ein wenig am Arm entlang und genoss es dann einfach nur, ihn zu halten und dem fernen Geklapper von Tellern zu lauschen. Wenn er noch weiter in dieser Position gesessen wäre, hätte er vermutlich auch einschlafen können, glücklich und entspannt über den jetzigen Moment. Weshalb er nicht vorher schon auf den Gedanken gekommen war, mit Vincent einfach nur im Stillen zu sitzen, war ihm ein Rätsel.
    • "Ich bin eine Kutschfahrt von dir entfernt, nicht tot, Thomas," gab Vincent zurück und lehnte sich dann in die sanfte Umarmung des Mannes.
      Er würde Thomas auch vermissen. Hätte Vincent die Chance, er würde diesen Mann einpacken wie seine Anzüge und einfach mitnehmen in seine Welt der Ruhe mitten im Nirgendwo, wo keine messerschwingenden 'Freunde', nervige Verlobte, oder anstrengende Arbeitstage auf Thomas warteten. Er wollte Thomas für sich allein haben, ganz allein. Er könnte unten im Dorf als Arzt arbeiten, man würde sich sicherlich über ein jüngeres Gesicht freuen. Thomas' Arbeitstage wären kürzer und stressfreier, unangetastet von dem aufgesetzten sozialen Gossip der Oberschicht. Abends würde er den Hügel hinaufkommen und Vincent würde in seinem Salon oder seiner Bibliothek auf ihn warten. Sie könnten ein angenehmes, ein leichtes Leben haben. Ein Leben zusammen. Aber das war Wunschdenken, das wusste Vincent nur zu gut.
      Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er Noras Schritte hörte. Er kümmerte sich nicht darum und löste ihre Umarmung nicht auf. Thomas tat das für ihn in der Sekunde, in der Nora im Türrahmen auftauchte und ihnen mitteilte, dass das Abendessen fertig war. Vincent ließ sich von dem Mann an seiner Seite aufhelfen, schaffte den Weg in sein Esszimmer allerdings ganz gut allein - nicht zuletzt, weil er die Wunde in seiner Flanke beinahe vollständig geheilt hatte. Alles, was noch zu sehen war, war mehr Show als alles andere, für den Fall, dass Thomas tatsächlich noch einmal einen Blick darauf werfen wollte.
      Das Abendessen war wie immer herrlich, wenn auch überschaubar, da sie nur zu zweit waren. Vincent gab sich Mühe, alle nervigen Themen - seine Verletzung, Darcy und Stephen, Thomas' Arbeit, seine eigene anstehende Abreise - zu umgehen. Stattdessen unterhielten sie sich über die Bücher, die Vincent gelesen hatte und über die Tatsache, dass sich Thomas sein Geschenk bereits angesehen hatte. Vincent machte sich eine geistige Notiz, sich selbst für Weihnachten zu übertreffen.
      Nach dem Essen ließ er sich von Thomas die Treppen hinauf helfen und machte es sich in seinem Bett bequem, während er die Aussicht genoss, die der andere Mann ihm bot, während er sich aus seinem Anzug schälte. Vincent kuschelte sich an Thomas und lauschte seinem Herzschlag, als er langsam einschlief. Sie hatten nur wenige Stunden zusammen auf diese Weise, und es nagte an Vincent. Er schätzte jede gemeinsame Minute nur umso mehr.

      Vincent blieb einen Tag länger als geplant, um Thomas zu beruhigen. Aber eine Woche nach dem Zwischenfall in dessen Foyer stieg Vincent in seine voll beladene Kutsche. Er würde den Tag darin verschlafen, während Nora darauf achtete, dass die Vorhänge schön zugezogen waren.
      Es war früh am Morgen, die Sonne war noch hinter dem Horizont versteckt. Thomas hatte wieder bei ihm übernachtet, damit sie sich vor dem Beginn von dessen Arbeitstag voneinander verabschieden konnten.
      Mit einer einfachen Geste bedeutete Vincent Nora, sich schon einmal in die Kutsche zu setzen, um Thomas die Privatsphäre zu geben, die er brauchte, um wenigstens ein bisschen Zuneigung zu zeigen. Sobald seine Haushälterin eingestiegen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ergriff Vincent die Hände des Doktors und lehnte sich für einen Kuss nach vorn.
      "Ich erwarte dich spätestens am dreißigsten, hörst du? Du hast eine gesellschaftliche Verabredung, das hier ist eine offizielle Einladung. Mir egal, wer dir noch eine ausstellt, du hast schon etwas vor. Keine Widerrede. Und wenn es die Royals sind, das ist mir egal."
      Grinsend stahl sich Vincent noch einen Kuss.
      "Natürlich darfst du auch gern früher kommen," raunte er Thomas zu. "Ich würde dich mitnehmen, wenn ich könnte..."
      Vincent lehnte seine Stirn gegen die von Thomas und schloss die Augen. Er prägte sich den Geruch des Manns ganz genau ein. Während der Nacht hatte er sich bereits jeden Zentimeter von Thomas' Gesicht einverleibt, nur um ihn den nächsten Monat genau in Erinnerung behalten zu können.
      "Lass mich nicht zu lange warten, ja?"
      Vincent verabschiedete sich mit einem langen, gefühlvollen Kuss, bevor er sich von Thomas löste und selbst in die Kutsche kletterte.
      Er starrte aus dem Fenster selbst lange nachdem Thomas schon außer Sicht war, bevor er sich schließlich gegen die Rückenlehne sinken ließ.
      "Du siehst aus wie ein geschlagener Welpe," kommentierte Nora.
      "So fühle ich mich auch."
      Sie seufzte und klopfte leicht auf ihren Oberschenkel. Vincent legte sich hin, so weit das in diesem begrenzten Raum möglich war, bettete seinen Kopf auf Noras Schoß und schloss die Augen, während sie sanft mit ihren Fingern durch seine Haare fuhr. Vincent stellte sich vor, es seien Thomas' Finger, Thomas' Schoß. Es half, aber nicht besonders viel. Die Zeit bis zum neuen Jahr würde eine sehr lange werden.
    • Der vermeintlich letzte Abend war durch Vincents Verletzung nicht mehr ganz der letzte, wodurch Thomas versuchte, jede freie Minute bei seinem Freund zu verbringen. Der Abschied würde ihm schwer fallen, das wurde ihm jedes Mal aufs weitere bewusst, wenn er am Morgen aus Vincents Bett kroch, den Mann ordentlich zudeckte und zu seiner Arbeit aufbrach. Er war ja nicht tot, das hatte Vincent selbst gesagt, aber er war immernoch eine unendlich lange Kutschfahrt entfernt und solange Thomas kein Aufsehen erregen wollte, konnte er ihn nicht einfach abends besuchen kommen - oder jedes Wochenende, auch wenn er es getan hätte. Alleine die gesellschaftlichen Verpflichtungen und Darcy hielten ihn davon ab, ernsthaft darüber nachzudenken, seinen Wohnsitz wochenends nach Harker Heights zu verlegen. Es war ein verlockender Gedanke, aber einfach unmöglich. Er musste sich mit der Realität abfinden, dass sie sich eben alle paar Wochen sehen würden.
      Am Tag des Abschieds war Nora als erste draußen und Thomas ließ kaum eine weitere Sekunde verstreichen, um Vincents unausgesprochener Aufforderung nachzukommen und einen Kuss auf seinen Lippen zu platzieren. Er verweilte einen Moment länger dort, während er die Wärme von Vincents Haut genoss, den Geschmack seiner Lippen, seinen Atem auf seiner Wange. Der Abschied zerrte schon jetzt an seinem Herz, das spürte er nur allzu deutlich.
      Er löste sich widerwillig von ihm und nickte mit einem Schmunzeln.
      "Ich werde der Queen sagen, dass sie mich nächstes Jahr wieder besuchen soll; ich habe schon eine Verabredung."
      Ein zweiter Kuss folgte, nachdem keiner der beiden Männer verzichten wollte, ehe sie in einstimmiger Zweisamkeit für einen Moment nur noch beieinander standen. Thomas hielt es kaum aus, die Sehnsucht, die er jetzt schon verspürte und die ihn von innen verätzte. Er verdrängte sie mit Vincents Anblick, mit dem Gefühl der Hand in seiner, mit seinem Geruch, seinen Lippen. Schließlich zog er ihn in eine letzte Umarmung, bei der er ihn fest an sich drückte - so fest, wie er es sich der Umstände entsprechend erlaubte.
      "Ich werde dich nicht warten lassen. Und du, komm gut nachhause. Versprich mir, dass du dich schonen wirst."
      Er ließ ihn los und folgte nach draußen, um zuzusehen, wie seine Kutsche abfahren würde. Es war noch dunkel und die Straßenlaternen brachten nicht viel Licht auf Vincents Gesicht, geschweige denn auf das Innenleben der Kutschte. Thomas sah zu, bis das Gefährt verschwunden war, dann setzte er sich schweren Herzens langsam in Bewegung, um zurück in seinen Alltagstrott zu finden.


      Darcy kam zu Weihnachten nicht zurück. Thomas wartete vergeblich auf die Einhaltung ihrer Tradition, die sie seit vielen Jahren aufrecht erhalten hatten, aber anstatt ihres Besuchs erhielt er einen zweiseitigen Brief, in dem sie sich für ihr Ausbleiben entschuldigte und versuchte, Stephens zweifellos noch immer grauenhafte Stimmung zu rechtfertigen. Sie umschrieb das Kernthema in eleganter Weise, vermittelte aber dennoch ihr Beileid und dass sie versuchte, Stephen ein wenig Manieren einzubläuen. Der Mann stellte sich wohl quer und Thomas konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie ihre Gespräche wohl aussehen mochten.
      Also verbrachte er Weihnachten mit Beth alleine. Den Rest der Belegschaft hatte er in einen zweiwöchigen Urlaub geschickt, bei dem Beth schon seit mehreren Jahren nicht mehr nachhause ging. Sie blieb über die Feiertage und war von der Arbeit freigestellt - im speziellen Fall dieses Jahres, hatte sie sogar das Haus für sich alleine, denn Thomas würde bald schon abreisen.
      Darcy schrieb, dass sie zu Silvester wieder anwesend sein wollte und Thomas antwortete ihr, dass das nicht nötig sei, er würde sowieso arbeiten, sie solle sich lieber in Manchester eine schöne Zeit machen. In Wahrheit hatte er auf den letzten Drücker eine Vertretung organisieren können, um Vincent zu besuchen, und wollte ihre Anwesenheit nicht riskieren. Er hatte sich schon seit Jahren nicht mehr zur Jahreswende freigenommen, um Darcys lästigen Einladungen zu entgehen, und auch dieses Jahr hielt er das Bild seines überarbeiteten Selbst aufrecht, um sich vor ihr zu drücken. Stattdessen würde er aber dieses Mal ein paar Tage auf Harker Heights verbringen.
      Der Schnee kam zeitig und er kam in Mengen. Das Wetter zwang Cambridge in winterliche Ruhe, als die Straßen vereisten und das Fortkommen erschwerten. Es wurde ruhiger und es wurde leiser, als der Winter sich in weißen Massen niederließ. Die Arztpraxen durften sich mit gebrochenen Knöcheln, angeschlagenen Kniescheiben und verstauchten Handgelenken beschäftigen.

      Thomas beschritt seine Reise am Morgen des 30., die wegen dem Schnee viel länger dauerte als geplant und den halben Tag in Anspruch nahm. In Aussicht darauf, dass es allerdings Vincent war, der ihn erwartete, nahm er sämtliche Hindernisse in Kauf. Er hätte sogar einen Ozean überquert, nur um diesen Mann wiederzusehen.
      Als sich die Kutsche durch den fürchterlichen Pappschnee kämpfte, der die Straße an manchen Stellen unüberwindbar verstopfte, und schließlich die Einfahrt zu Harker Heights hinauf zuckelte, setzte endlich die vermisste Ruhe in ihm ein. Der Schnee war hier draußen noch immer lästig und furchtbar hinderlich, aber er wirkte auch beruhigend und abschottend. Die Landschaft war wie von einem eisigen Schleier in den Schlaf gezwängt worden und Thomas hätte sich auch fast davon einlullen lassen können. Aber eben nur fast.
      Er klopfte einige Male an der Tür, bis ihm Nora öffnete und er ihr freundlich entgegen lächelte. Er hatte die Arme hinter dem Rücken versteckt, eine kleine Aufmerksamkeit für Vincent in den Händen, die er ihm nicht vorher zeigen wollte.
      "Hallo Nora, frohe Weihnachten."
      Er schüttelte den Schnee von den Anzugschuhen - nicht die beste Wahl in diesem Wetter, aber er wollte schließlich gut aussehen und keine Wanderung veranstalten - und trat ein, wo er sich von Nora ausziehen ließ, bevor er ihr flüchtig den mitgebrachten Blumenstrauß präsentierte, ein Ensemble aus Christrosen und Primeln.
      "Ich glaube, ich bräuchte eine Vase hierfür."
    • Nora begrüßte ihren Hausgast höflich, nahm ihm Mantel und Hut ab und wollte ihn gerade zu Vincent in den Salon eskortieren, da hielt ihr der Mann einfach einen Blumenstrauß vor die Nase. Sie lächelte freundlich.
      "Nach der langen Fahrt auf jeden Fall. Ich kümmere mich darum."
      Sie führte Thomas durch die Eingangshalle in Tiefen des Anwesens, die er noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie nahm ihn mit durch einen langen Flur, der von Gemälden und anderen Kunstwerken geschmückt wurde. Da stand ein schmaler Tisch mit einem alten, verzierten Dolch, dort stand eine kleine Säule mit einer Büste darauf. Hier und da versteckten sich sogar ein paar Schatten liebende Pflanzen, die kein Problem damit hatten, in diesem fensterlosen Teil des Hauses zu leben. Die Gemälde selbst zeigten Landschaften, stilisierte Szenen der Geschichte, Porträts, in allen möglichen Größen.
      Nora blieb schließlich vor einer Doppeltür stehen, in die eine wunderschöne Szene geschnitzt worden war, die eine ganze Reihe an Tieren zeigte, die sich auf einer Lichtung im Wald trafen.
      "Ich werde gleich mit einer Vase wiederkommen," erklärte Nora, dann öffnete sie die beiden Flügel, trat ein und zur Seite und ließ Thomas hinein.
      Der Salon, der sich hinter der Tür verbarg, war von Vincent in penibler Kleinarbeit umgestaltet worden. Von den waldgrünen Wänden war kaum noch etwas zu erkennen. Die alte Farbe war eigentlich nur noch um den großen Kamin herum erkennbar, in dem gerade ein Feuer vor sich hin loderte. Der Rest des Raumes wurde von Bücherregalen regiert, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten. Sie waren so hoch, dass an jeder Wand aus Büchern Leitern angebracht worden waren, die man verschieben konnte. Im Zentrum des Salons standen große, bequeme Sofas, vier Stück an der Zahl, in zwei Reihen an den Seiten eines langen Sofatisches, auf dem sich hier und da noch mehr Bücher stapelten. Über der Lehne eines der Sofas lag ein Jackett, das beinahe achtlos beiseite geworfen worden war.
      Vincent stand auf einer der Leitern, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Er hielt drei Bücher auf einem Arm und schob mit dem anderen einige auf dem Regalbrett zur Seite.
      "Nora! Gut, dass du da bist! Kannst du mir den Band mit den Smollett Gedichten aus dem kleinen Salon holen, bitte?"
      Nora räusperte sich, um Vincents Aufmerksamkeit zu erregen. Und dann noch einmal, damit er auch zu ihr heruntersah.
      "Thomas!"
      Vincent schob die Bücher von seinem Arm einfach in das Regal, ergriff die Seiten der Leiter und rutschte daran herunter, bevor er praktisch durch den Raum flog und den Arzt in eine kräftige Umarmung zog.
      "Du bist da! Endlich! Ich habe schon den ganzen Monat auf die gewartet!"
      In dem Augenblick, in dem Vincent seinen Satz beendete, fiel die Tür hinter Thomas zu und Vincent eroberte die Lippen des Doktors mit einem stürmischen Kuss. Seine Umarmung wurde ein wenig sanfter.
      "Ich habe dich vermisst," raunte er Thomas zu, als er ihren Kuss löste und seine Stirn an die des anderen Mannes lehnte.
      Er ließ von Thomas ab und zog ihn tiefer in den Salon hinein zum ersten der Sofas.
      "Setz dich, setz dich. Komm erstmal an."
      Er griff sich das Teeservice, das auf dem Tisch stand, und füllte eine zweite Tasse mit dem Heißgetränk.
      "Wie war die Reise? Ich weiß, hier draußen ist der Winter immer äußerst kalt und die Straßen ein wahrer Alptraum, wenn der Schnee sich erst einmal eingenistet hat. Hier, tau erstmal auf."
      Vincent reichte Thomas die Teetasse und ließ sich dann auf das Sofa sinken. Er stutzte kurz, zog das Buch aus seinem Rücken und legte es zu den anderen auf den Tisch, und lehnte sich dann wieder zurück, diesmal entspannter.
    • Es war merkwürdig, wieder in dem weitläufigen Anwesen zu sein, ohne dabei von Menschenmassen umgeben zu sein. Der hohe Flur und die weiten Türen hatten eine ganz andere Ausstrahlung in dem sanften, winterlichen Licht, als sie es noch an Hollow's Eve hatten. Wenn sie dort noch eindrucksvoll und majestätisch gewirkt hatten, waren sie jetzt viel ruhiger und einladender, irgendwie heimlicher. Das Haus war noch immer viel zu groß für einen einzelnen Bewohner und ein paar Angestellte, aber es hatte sicherlich auch seine Reize.
      Thomas ließ sich von Nora in die Tiefen der Gänge entführen, die ihm bei seinem letzten Besuch noch verborgen geblieben waren. Auch hier kam eine ganz andere Atmosphäre zustande, die Vincents Haus in Cambridge nicht unähnlich war mit ihren antiken Gegenständen und dem Gefühl einer Kunstausstellung. Thomas musste insgeheim über die Vertrautheit dieser Gegenstände lächeln, so charakteristisch waren sie ihm für Vincent geworden. Es war wie eine kleine Spur der man folgen musste, um den Mann zu finden.
      Nora führte ihn ans Ende dieses Ganges und in eine kleine Bibliothek hinein, wo sich sein Ziel versteckte. Thomas widmete dem Raum selbst nur einen kurzen Blick, bewunderte nebenbei die unglaublich vielen Bücher, die hohen Regale, bevor er ihn selbst sah. Vincent stand auf einer Leiter, das Jackett ausgezogen, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Er stand ganz locker auf der Sprosse, die Bücher im Arm wie ein zu balancierendes Silbertablett mit einer höchst kostbaren Fracht, der andere Arm mit dem Regal selbst beschäftigt. Er stand dort mit einer solchen Leichtigkeit, als wäre er nicht zwei Meter über dem Boden auf einem uralten Konstrukt, als wären die Bücher sicherlich nicht jeweils zwei Pfund schwer, als gäbe es kein Problem damit, gleichzeitig die Balance zu halten und sich zu bewegen, als wäre nichts. Das Hemd straffte sich über seinen Rücken und verdeckte kaum die fließenden Bewegungen seiner Muskeln.
      Als er sich endlich zu ihnen umdrehte, glaubte Thomas sein Herz springen zu spüren. Er hatte Vincents Gesicht kaum vergessen, konnte es gar nicht, wenn es sogar in seinen Träumen erschien. Aber dennoch glaubte er, einem wahrhaften Engel gegenüber zu stehen.
      "Vincent."
      Der Mann wirkte zum zweiten Mal, als ob die Gesetze der Physik nur marginal auf ihn zutrafen, und war in Windeseile bei Thomas, um ihn zu sich zu ziehen. Er erwiderte die Geste einarmig, den Blumenstrauß verborgen, ließ sich aber nicht davon abhalten, Vincent kräftig an sich zu drücken. In dem Moment der Wiedervereinigung, als er den Kopf an Vincents Schulter legte und die Präsenz des Mannes in sich aufsaugte, wurde ihm erst bewusst, wie sehr er alles an ihm vermisst hatte - seine Stimme, seinen Geruch, seine Haut, alles. Vincent roch nach alten Büchern, das wurde ihm in diesem Augenblick erst bewusst, als sie in seiner kleinen Bibliothek standen. Vincent roch nach den verblichenen Seiten Jahrhunderte alter Schmöker und Thomas liebte es, wollte nie etwas anderes wahrnehmen.
      Als die Tür hinter ihnen zufiel, schlossen Vincents Lippen endlich zu seinen auf und Thomas ließ seine mit ihnen verschmelzen. Er lehnte sich sanft gegen den anderen, hätte zu gerne seine vollständige Zuneigung ausgedrückt und die nächste halbe Stunde nur in dieser Position verbracht, damit beschäftigt, den letzten Monat der Abwesenheit nachzuholen. Er streichelte über Vincents Rücken, schob die Hand in seine Haare, drückte ihn an sich. Es dauerte einen Moment, bis die Überschwänglichkeit ihres Wiedersehens langsam abflaute.
      "Ich habe dich auch vermisst. So sehr."
      Er legte ihm eine Hand an die Wange, fuhr mit dem Daumen seinen Wangenknochen nach, starrte in das tiefe Blau seiner Augen. Wie Ozeane, fiel ihm auf. An diesem Tag schien ihm viel von Vincent aufzufallen.
      Sie lösten sich sanft, als könnte eine zu schnelle Bewegung den Moment zerstören, dann ließ Thomas sich zu den Sofas entführen, über Vincent lächelnd. Er hatte seine heitere Art ernsthaft vermisst.
      "Es war furchtbar, du möchtest gar nicht wissen, wann ich heute losgefahren bin. Entweder sind die Straßen so gefroren, dass man im Schritttempo fahren muss, oder sie sind so voller Schnee, dass man gar nicht erst hindurch kommt. Besonders auf dem Land."
      Er nahm die Tasse dankend entgegen, nur um sie nach einem Schluck wieder abzustellen und stattdessen erneut aufzustehen. Mit einer Gestik, die mit ein bisschen mehr Theatralik vielleicht einem Antrag hätte gleichkommen können, präsentierte er Vincent den Blumenstrauß, säuberlich gebunden und noch immer frisch und blühend, nachdem er ihn im Dorf unten besorgt hatte. Das hatte ihn sicherlich eine Stunde länger gekostet, weil er gleich zwei Umwege hatte nehmen müssen, aber er verspürte den unnachgiebigen Drang, Vincent mit seiner Zuneigung zu überhäufen und das tat er auch.
      "Ich habe dir was mitgebracht - hier. Du hast mir nie gesagt, ob du Blumen magst, aber jemand hübsches wie du sollte eine vergleichbare Schönheit bekommen."
      Er strahlte ihn an, konnte aber nicht ganz verhindern, dass ihm die Hitze zu Kopf stieg. Er hatte noch niemals Blumen besorgt, um seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, aber mit Vincent erlebte er viele Sachen zum ersten Mal.
      "Ich habe Nora schon für ein passendes Gefäß beauftragt. Vielleicht wird man die Stängel aber nochmal zurechtschneiden müssen."
      Jetzt ließ er sich auch endlich vollständig auf dem Sofa nieder und war mit einem Mal froh um den Tee und das Kaminfeuer. Die Kälte war ihm schon seit Stunden nicht mehr aufgefallen, weil sie sich schon in seinen Knochen eingenistet hatte. Jetzt konnte er sie aber deutlich wieder spüren.
      "Ich wäre früher gekommen, aber es ist die reinste Hölle, über die Feiertage eine Vertretung zu finden. Meine Kollegen hassen mich jetzt, aber das ist es mir wert."
      Er lächelte Vincent beinahe schon fröhlich zu und wärmte sich die Hände an der Tasse.
      "Frohe, nachträgliche Weihnachten übrigens. Wie waren die Feiertage, alles gut überstanden?"
      Ihm fiel ein, dass er Vincents Geschenk in seiner Tasche nicht vergessen durfte.
    • Vincent grinste breit, wie ein liebeskrankes junges Mädchen, als Thomas ihm die Blumen überreichte und roch daran. Er hatte sie vorher schon wahrgenommen, dennoch freute er sich über das kleine Geschenk.
      "Du schenkst mir Blumen und beschmutzt dein Ansehen? Thomas, machst du mir etwa den Hof?" scherzte Vincent, obwohl wie Vorstellung durchaus ein warmes Gefühl durch seinen gesamten Körper schickte.
      Vincent legte den Blumenstrauß vorsichtig beiseite und setzte sich neben Thomas, anstatt ihm gegenüber. Er bedankte sich mit einem sanften Kuss auf dessen Schläfe.
      "Meine Feiertage waren sicherlich entspannter als deine. Einige Bekannte haben mir Bücher für meine Sammlung geschickt und ich habe meine Zeit damit verbracht, sie in besagte Sammlung einzugliedern. Nachdem ich mich wieder bewegen konnte, natürlich. Ich bin ganz brav im Bett geblieben, bis es einigermaßen verheilt war."
      Das war nicht einmal eine Lüge. Er hatte die Reise über in Ruhe verbracht, während er die Wunde langsam geheilt hatte.
      "Allerdings sind die hier", Vincent machte eine vage Geste in Richtung der Bücherstapel auf dem Tisch, "wohl kaum als Weihnachtsgeschenke zu bezeichnen, immerhin habe ich nicht wenig Geld für sie bezahlt. Sie kamen einfach nur zu einem sehr interessanten Zeitpunkt an. Ich war doch tatsächlich versucht, einen Weihnachtsball zu veranstalten, nur damit ich eine Ausrede habe, dich früher herzuholen. Aber sowas muss man sehr viel früher ankündigen und die ganze Arbeit, die damit verbunden ist... Zumal hier draußen immer das Risiko besteht, dass man über Nacht eingeschneit wird und ich weiß nicht, ob ich eine Woche mit so vielen Gästen überleben würde."
      Er lehnte sich gegen Thomas, genoss dessen Wärme, seine pure Anwesenheit.
      "Aber genug von mir. Wie geht es dir? Wie ist es dir ergangen?"
    • Thomas' Lächeln wurde eine Spur breiter, eine Spur offener. Er lachte sogar, kurz und heiter.
      "Ist es damit etwa offiziell? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir früher Blumen besorgt."
      Er empfing den Mann neben sich, indem er einen Arm um ihn legte. Vincents Wärme war ihm mehr als willkommen.
      "Das höre ich gerne. Hast du dich gut erholt? Verheilt alles gut?"
      Die Tasse war jetzt doch ein wenig im Weg, um Vincent vollständig in den Arm zu nehmen. Stattdessen streichelte Thomas über seine Schulter.
      Doch etwas überrascht über Vincents Bemerkung, musterte Thomas ihn. Wenn er nicht schon früher herausgefunden hätte, wie sehr Vincent Veranstaltungen verabscheute, hätte er sich wohl kaum so geschmeichelt gefühlt.
      "Ich wäre dir überaus böse, wenn du es wagen solltest, wegen mir einen Ball zu veranstalten. Dann müsste ich dich nämlich retten kommen, ich weiß doch, wie wenig du sowas magst."
      Für einen Moment saßen sie nur, während Vincent sich ein Stück mehr gegen Thomas lehnte. Sein Herz spielte schon eine ganze Weile verrückt, jetzt vollführte es Luftsprünge, während Thomas Vincents Stirn küsste.
      "Nicht besonders anders als sonst auch. In der Winterzeit gibt es viel zu viele unnötige Patienten, die glauben, mit Sommerschuhen durch den Schnee laufen zu müssen und sich dann wundern, wenn sie sich etwas brechen; es ist jedes Jahr dasselbe. Und Weihnachten habe ich alleine verbracht, Darcy ist in Manchester geblieben. Naja, Beth war da."
      Er gab sich unbeeindruckt, auch wenn es ihm ein wenig zu Herzen gegangen war, das Fest der Familie in Abwesenheit eben jener zu verbringen. Es waren schon viele Jahre vergangen, seit der letzte Rest seiner geschmälerten Familie auch dahingeschieden war, aber bisher hatte Darcy es immer geschafft, den Zauber der Weihnachtszeit mit ihrer Anwesenheit aufrecht zu erhalten. Jetzt war nichts davon geschehen und Thomas hatte mit merkwürdiger Nüchternheit erkennen müssen, wie wenig Familie eigentlich übrig war.
      "Oh, apropos."
      Er löste den Arm von Vincent und stellte die Tasse doch ab, bevor er sich in die Innenseite seines Jacketts griff und ein Geschenk hervorholte, das bereits die verräterischen Ausmaße eines Buches innehatte. Er präsentierte es Vincent mit einem weiteren, warmen Lächeln.
      "Frohe nachträgliche Weihnachten."
      Er stahl sich einen Kuss von dem Mann, bevor er sich wieder zurücklehnte und mit leicht steigernder Nervosität beobachtete, wie er das Geschenk zu öffnen begann.
      "Ich dachte, es könnte dir vielleicht gefallen. Wir hatten einmal darüber gesprochen, falls du dich erinnern kannst, und ich war so frei ein wenig... "Recherche" zu betreiben."
      Vincent brachte ein Buch zum Vorschein mit einem ledernen Einband ohne Titel. Es war viel weniger ein ordentlich gebundenes, vermarktetes Buch, als mehr die Idee eines Buches mit seinen handlich gebundenen Seiten, die teilweise nicht ganz richtig saßen. Thomas erkannte mit einiger Scham, was für einen schlechten Job er dabei gemacht hatte, ein Buch selbst binden zu wollen.
      "Du hast mir gesagt, dass du nichts über Vampire weißt - nichts richtiges zumindest. Ich habe dir was zusammengetragen."
      Das Buch war eine Zusammenstellung sämtlicher relevanten Untersuchungen, die Thomas, sein Vater, aber größtenteils sein Großvater jemals über Vampirismus angestellt hatten. Es hatte ein Inhaltsverzeichnis, in dem drei große Abschnitte definiert waren: Definition des Vampirismus, Bekämpfung dessen und Praxisfälle. Im letzten Teil fanden sich größtenteils Berichte über Konfrontationen mit Vampiren wieder, die mit professioneller Detailtreue beschrieben, wie ein paar Jagden, und auch anderes, durchgeführt worden waren.
      Mit jeder Sekunde, die Vincent sein Geschenk musterte, stieg Thomas' Nervosität ein wenig mehr an. Er hatte nicht vermeiden können, dass die vielen Berichte, Beschreibungen und Anweisungen eine offensichtliche Seite einnahmen, nämlich die eines Jägers. Er hätte gerne auch weiterhin vermieden, den Mann in seine zweite Berufung einzuweihen, aber irgendwann würde er es wohl nicht länger verheimlichen können - und damit hatte er wohl den Startschuss dazu gegeben.
    • "Mein persönlicher Ritter in weißer Rüstung? Oder eher Kittel, bedenkt man deine Berufung."
      Ein Teil von Vincent freute sich geradezu diebisch darüber, dass Thomas die Feiertage nicht mit Stephen und Darcy hatte verbringen müssen. Ein anderer Teil konnte jedoch den Schmerz in Thomas' Blick nicht ignorieren, was ihm einen kleinen Stich versetzte.
      "Nächstes Jahr wirst du nicht allein sein, hörst du?" sagte Vincent, als er das kleine Geschenk entgegen nahm. "Du kommst einfach her und wir verbringen das ganze Ende des Jahres gemeinsam."
      Kurz sah er Thomas tadelnd an, dann breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus und er wandte sich dem kleinen Bündel in seinen Händen zu. Es war eine ganze Weile her, seit er das letzte Mal wirklich beschenkt worden war. Mehrere Jahrzehnte, um genau zu sein.
      Mit äußerster Vorsicht löste er die Schleife und dann das Papier um den Gegenstand, der sich verdächtig nach eine Buch anfühlte. Das Format war ein bisschen ungewohnt, also schätzte Vincent auf eine sehr seltene Ausgabe, wenn nicht sogar auf ein Unikat. Als ihm dann ein unmarkiertes Notizbuch in den Schoß fiel, musterte er es zunächst interessiert. Die Bindung war geradezu stümperhaft, hielt aber den chaotischen Inhalt einigermaßen zusammen. Der Einband war ein größeres Problem, so schwach wie er war. Allerdings konnte Vincent deutlich erkennen, dass dieses Buch von Hand gefertigt worden war von jemandem, der keine Ausbildung in Buchbinderei erhalten hatte. Er kam nicht umhin sich zu fragen, woher Thomas überhaupt wusste, wie man ein Buch band.
      "Recherche?" fragte er und schlug das Buch an einer beliebigen Seite auf, nur um mit einer ihm bekannten Handschrift konfrontiert zu werden.

      Die Schnelligkeit eines Vampires ist nicht zu unterschätzen. Gerade in der Dunkelheit,
      in der sie sich zu verstecken wissen, ist es schwer, sie im Auge zu behalten, wenn sie sich
      erst einmal bewegen. Vor kurzem gelang es mir, die ungefähre Geschwindigkeit zu
      ermitteln, mit der sich ein Vampir fortbewegen kann. Nach meinen Kalkulierungen können
      sie mit Leichtigkeit ein Pferd in vollem Gallop ein- und überholen. Entsprechend schnell
      sind ihre Reflexe. Die Nutzung von Schusswaffen ist also nur dann zu empfehlen, wenn
      man das Überraschungsmoment auf seiner Seite hat. Ein Umstand, der recht selten eintritt,
      bedenkt man die gesteigerten Sinne eines Vampires.


      Vincent unterdrückte sein Schmunzeln ob dieser Worte nicht. Er war sich ziemlich sicher, dass Thomas keine Ahnung hatte, wie sein Großvater eigentlich an diese Information gekommen war. Der Alte hatte nicht etwa einem Vampir aufgelauert und ihn bei einem Wettrennen mit einem Pferd beobachtet oder dergleichen. Tatsächlich war es Vincent gewesen, der mehrfach durch den Garten des Anwesens hatte rennen müssen, sehr zu seinem eigenen Amüsement.
      Vincent klappte das Buch vorsichtig wieder zu.
      "Das ist ein wundervolles Geschenk, Thomas. Ich danke dir."
      Er lehnte sich vor und küsste den Doktor liebevoll, bevor er aufstand und zu einem der unsortierten Stapel auf dem Tisch ging. Mit einem schmalen Buch in den Händen kehrte er zu Thomas zurück.
      "Ich hatte noch keine Zeit, es für dich einzupacken - ich bin erst heute Morgen damit fertig geworden. Aber ich habe dir auch ein Weihnachtsgeschenk angefertigt."
      Er überreichte das Buch an Thomas, das dutzende handschriftliche Notizen über fernöstliche Heilpraktiken enthielt, die er selbst übersetzt hatte mittels weiterer Bücher, die sich noch in seinem Studierzimmer versteckten. Vielleicht sollte er sich die Mühe machen, Chinesisch zu lernen? Dann könnte er Handel auch über die Seidenstraße betreiben. Für die Zukunft sicherlich ein guter Gedanke.
      "Ich habe mir von einem Freund in China sagen lassen, was auch wirklich funktioniert, um die Quacksalber rauszufiltern. Ich will dir ja keinen Quatsch in die Hände legen. Ich entschuldige mich im Übrigen für etwaige Fehler in den Anatomiezeichnungen, mein Wissen ist an dieser Stelle dann doch ein bisschen begrenzt."
      In diesem Moment fühlte sich Vincent wirklich wie ein junger Mann, der jemandem den Hof machen wollte. Er musste den Drang unterdrücken, sich nach der Anstandsdame umzusehen.
    • Sehr zu Thomas' Erleichterung schien Vincent überaus angetan von seinem Geschenk zu sein. Er war sogar umso mehr erleichtert wenn er bedachte, wie viele Wochen er allein darin gesteckt hatte, durch das hinterlassene Chaos seines Großvaters zu wühlen und relevante, grundlegende Informationen herauszusuchen. Thomas selbst hatte das Studium der Grundkenntnisse mit vermutlich 10 Jahren abgeschlossen und seither hatte er nicht viel Struktur in die ganzen Unterlagen gebracht. Sein Vater hatte sich ursprünglich mal daran gemacht, die hinterlassene Unordnung des Großvaters beseitigen zu wollen, aber genauso wenig wie Thomas war er besonders angetan von Büroarbeit.
      Er erwiderte seinen Kuss lächelnd.
      "Nichts zu danken."
      Vincent kam auch mit einem Geschenk zurück, was Thomas mehr schmeichelte als alles andere.
      "Oh, Vincent. Das wäre doch nicht nötig gewesen."
      Er nahm es entgegen, schlug es auf, durchblätterte es und spürte seine eigenen Augen größer werden.
      "Oh, Vincent! Du bist doch wahnsinnig! Aus dem Osten? Gibt es denn irgendeine Sprache, die du nicht beherrschst?"
      Er ergriff Vincents Handgelenk und zog ihn zurück zu sich aufs Sofa, zurück in seine Arme, zurück in seine Nähe. Es folgte eine Reihe aus Küssen, die seinen Mund, seine Stirn, seine Wange bedeckten. Thomas hatte nicht geplant, den Mann so schnell wieder loszulassen.
      "Danke. Wirklich."
      Er küsste ihn noch einmal, dann lächelte er.
      "Ich denke, wir könnten die Gelegenheit ergreifen und den Kamin ausnutzen - zum Lesen natürlich? Und zum warm werden. Was auch immer du möchtest."
      Er strich mit einer Hand durch Vincents Haare runter zu seiner Wange und schließlich zu seinem Hals.
    • "Chinesisch", antwortete Vincent mit einem Lächeln, bevor Thomas ihn ruckartig in seine Arme zog.
      Er zuckte kurz zusammen, als ein kleiner, aber scharfer Schmerz durch seine Flanke schoss - eine recht unangenehme Nachwirkung seiner Stichverletzung, die er einfach nicht loswurde. Verdammtes Silber.
      Vincent lehnte sich in die Arme Hand des anderen Mannes und schloss für einen Augenblick die Augen.
      "Solch ein Angebot solltest du mir nicht so kurz vor dem Abendessen machen, Thomas", schnurrte er, bevor er seinen Kopf drehte und einen Kuss auf die Handinnenfläche des Mannes presste.
      Dann ergriff er Thomas' Hemdkragen und zog ihn an sich, verwickelte ihn einen stürmischen Kuss. Er entwand dem Mann das Buch, legte es neben das andere auf den Tisch und drückte Thomas dann rückwärts, bis dieser auf dem Sofa lag, Vincent halb auf ihm.
      "Lesen kann ich jeden anderen Abend auch noch", raunte er dem Mann zu.
      Er kuschelte sich an Thomas' Brust, sehnte sich nach dessen Wärme, nicht nach der des Kamins. Alles, was er in diesem Moment wollte, war in den Armen dieses Mannes zu liegen, und das Verstreichen der Zeit zu vergessen.
    • Bereitwillig ließ Thomas sich in den nächsten Kuss ziehen, bevor er sich von Vincent nach hinten drücken ließ. Das Sofa war breit genug, dass er sich hinlegen konnte, bevor der Mann sich schon an ihn schmiegte. Thomas bemerkte jetzt erst, wie sehr er das vermisst hatte, als er dessen Gewicht auf sich spürte.
      "Okay. Kein Lesen."
      Dagegen hatte er rein gar nichts einzuwenden. Er schlang die Arme fest um Vincent und zog ihn ein Stück weiter zu sich, bis er vollständig auf ihm lag. Sein Gewicht machte sich deutlich auf seiner Brust breit, aber das war genau, was er wollte. Sein Hemd musste er ein bisschen aus seiner Hose lösen, bevor er die Hand darunter schob, über Vincents unteren Rücken streichelte und leicht grinste.
      "'Tschuldige, meine Hände sind noch etwas kalt."
      Die andere schob er zurück in Vincents Haare, drückte ihn so an sich, kraulte ihm über die Kopfhaut. Es war schon beinahe erstaunlich, wie viel Zuneigung er nur bei der richtigen Person zeigen konnte; Darcy hätte er niemals freiwillig so berührt.
      Er beugte sich leicht vor und küsste Vincent sehnsüchtig, bevor er sich gänzlich entspannt zurücklehnte.
      "Wenn wir so noch ein bisschen länger bleiben, werde ich dir wegschlafen, dann kannst du ja versuchen, mich ins Bett zu tragen."
    • "Wenn ich mich recht entsinne, habe ich das schon einmal getan", kommentierte er lächelnd, schloss dann aber die Augen. "Wobei ich dir aus eigener Erfahrung sagen kann, dass es nicht zu unbequem ist, einfach hier auf dem Sofa zu schlafen. Das ist mir schon öfter passiert, als ich es zugeben will."
      Vincent lauschte dem steten Schlagen des Herzens in der Brust, auf der er gerade lag. Er hörte den ganzen Tag das rhythmische Hämmern, das die Menschen um ihn herum am Leben hielt, aber aus irgendeinem Grund drängte sich Thomas' Puls immer wieder in den Vordergrund. Es beruhigte Vincent mehr, als dass es ihn dazu verführte, seinem Hunger nachzugeben - eine weitere Besonderheit an diesem Mann, die er zu schätzen wusste.
      "Und ich stelle gerade fest, dass es hier unten noch bequemer ist, wenn man die richtige Gesellschaft dabei hat," kommentierte er.
    • Thomas' lächelte in sich hinein, während er Vincent weiter streichelte. Er folgte mit den Fingerspitzen seiner Wirbelsäule nach oben, fuhr an seiner Seite wieder nach unten, strich über seine Taille, seine Hüfte. Vincents Körper war ihm mittlerweile nicht mehr unbekannt, er nutzte dennoch jede Möglichkeit, ihn sich weiter einzuprägen. Er mochte jeden Muskel, jede Kurve die er entdecken konnte. Er mochte einfach Vincent.
      Er gab ein zufriedenes Brummen von sich.
      Sie lagen eine Weile so beieinander, eng umschlungen mit kaum einer Lücke zwischen sich, die ausgenutzt hätte werden können, als Thomas tatsächlich drohte, langsam abzudriften. Er hatte bereits angefangen, unzusammenhängenden Wirrwarr zu träumen, als er die Augen wieder aufzwang, sich streckte und Vincent wie ein Kuscheltier an sich presste.
      "Mhh. Vincent."
      Es brauchte einen Moment der Justierung, bevor er genug Halt gefunden hatte, um sich und seine Fracht einmal herumzudrehen. Vincent ließ sich widerstandslos unter ihm begraben, wo Thomas sich wieder daran machte, ihn mit Küssen zu überhäufen. Er wollte noch nicht schlafen, noch nicht jetzt, wenn sie sich doch erst wiedergesehen hatten.
      Er gab noch einmal ein Brummen von sich, dann küsste er sich über Vincents Kiefer hinab zu seinem Hals.