In his Thrall [Codren feat. Pumi]

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    • Vincent ignorierte das Glas Schweineblut auf dem Nachttisch. Es war sowohl leichter, als auch schwerer als er erwartet hatte. Seine Instinkte trieben ihn in völlig unterschiedliche Richtungen. Das Monster wollte das Blut mit jeder Faser, zeitgleich sträubte es sich aber auch vor dem Wissen, woher das Blut kam und wie es schmecken würde. Es war gelinde gesagt verwirrend.
      Also konzentrierte sich Vincent auf das, was er tun wollte, nicht das Monster. Er schloss die Augen, nahm einen tiefen Atemzug - der betörende Duft von Zimt stieg ihm in die Nase, während Vlad ihn drängte, den Mann im Raum anzufallen - und bewegte seinen Körper dazu, zu heilen. Er war auf seine Flanke aus, aber er hatte keine Kontrolle über die Verletzungen, die zuerst heilen würden. Er musste einfach hoffen.
      Er hatte mäßigen Erfolg mit seinem Versuch. Das Monster wetzte seine Klauen an der Innenseite seines Magens und seiner Kehle, aber das Stechen in seinem Arm und in seiner Seite hatte ein wenig nachgelassen. Allgemein aber sah sein Arm besser aus, wenn er sich an Thomas' Gesichtsausdrücken orientierte, als dieser die Fäden zog und einen neuen Verband um seine Flanke legte. Sein Arm brauchte keinen mehr. Wenn er ehrlich war, dann war Vincent seinem eigenen Körper dankbar dafür, dass er seinen Arm wieder richtig bewegen konnte, ohne dass es ständig zwickte und brannte. Nur dass er seinen Arm momentan weniger brauchte, als die Fähigkeit, sich selbst aufsetzen zu können.
      Schlussendlich nahm Vincent das Glas Schweineblut entgegen und zwang es seine Kehle hinab, um das Monster wenigstens ein bisschen zu beruhigen. Wie gern er sich danach an Thomas' Seite gekuschelt hätte. Doch allein neben dem Mann zu liegen drängte ein angsteinflößendes Geräusch in den Vordergrund: Thomas' Herz, das so ruhig und stark schlug, dass es ihn normalerweise beruhigte, stellte nun eine beinahe überwältigende Versuchung dar.
      "Ruhig, Steaua mea. Er ist zu aufmerksam. Siehst du seinen Blick? Er geht ständig sicher, dass er weiß, wo deine Hände und deine Fangzähne sind. Ich wette, er versteckt eine Waffe in Reichweite."
      Vlad lag neben ihm auf der Seite, den Kopf auf den Ellenbogen aufgestützt. Er legte Vincent beruhigend eine Hand auf die Schulter.
      "Warte, bis dein Körper ausgeheilt ist. Bis sich der Mensch in Sicherheit wiegt. Ab jetzt sind wir Lauerjäger, denn unsere Beute ist schon längst hier."
      "Ich sollte mir ein Anwesen in London besorgen," sinnierte Vincent. "Wir könnten zusammen nach London reisen. Während du deinen Jagden nachgehst, kann ich mir neue Bücher anschaffen. Dort gibt es bestimmt einen interessanten Markt. Ich bin schon lange nicht mehr da gewesen. Natürlich müsste ich mich wegen den Territorien erkundigen, aber in Großstädten wie London gibt es meistens so viele kleine Territorien, dass sich niemand großartig dafür interessiert, wenn ein neuer Spieler auftaucht. Ich glaube, ich könnte mich dort sogar ganz anonym aufhalten, wenn es nur eine Woche oder so ist. Was hälst du davon?"
    • "Du möchtest dir einen Wohnsitz in London anschaffen?"
      Thomas drehte sich auf die Seite, um Vincent zu betrachten. Sie lagen etwa eine Armeslänge voneinander entfernt, als wären sie am schüchternen Anfang ihrer Beziehung und nicht etwa schon ein dreiviertel Jahr zusammen. Aber näher trauten sie sich nicht und das aus gutem Grund. Thomas waren die Blicke nicht entgangen, die der Vampir auf seinen Hals warf wenn er schluckte oder etwa auf sein Handgelenk, als er ihm die Fäden gezogen hatte. Jetzt trug er zwar wieder die Handschellen, aber es war trotzdem noch gefährlich. Streng genommen müssten sie noch immer in getrennten Zimmern schlafen, nur konnte er das nicht mit seinen Gefühlen für diesen Mann vereinbaren.
      "Ich hätte dich gerne in meiner Nähe bei einer Jagd. Alleine schon für den Drink und das warme Bad danach."
      Leicht lächelte er, streckte die Hand zu Vincent aus und wickelte sich eine seiner feuchten Locken um den Finger, bevor er sie wieder losließ.
      "Aber in London wird es doch auch von Jägern nur so wimmeln, nicht? Dort bist du weniger geschützt als hier. Und ein paar Schüsse fallen dort auch weniger auf als in Cambridge."
      Er verzog das Gesicht ein wenig.
      "Ich möchte dich nicht wieder aus einem brennenden Haus retten. Ich würde es tun, keine Frage, aber ich würde es auch gerne vermeiden."
    • "Ich möchte uns einen Wohnsitz in London anschaffen," korrigierte Vincent. "Es wäre genauso für dich, wie es für mich wäre. Und London ist... Nun ja, wie nennen sie das in der neuen Welt? Den wilden Westen? London ist genauso. Da fallen Schüsse weniger auf, ja. Aber das Gleiche gilt für jemanden, der sich eher nachts aus dem Haus begibt. Die ganze Industrie dort läuft doch ununterbrochen, Tag und Nacht. Ich weiß nicht genau, wie es um die Jägerschaft dort bestellt ist - ich war wie gesagt schon lange nicht mehr da - aber das kann man ja herausfinden. Dominik kann uns da bestimmt mehr verraten."
      Vincent überlegte kurz.
      "Ich glaube sogar, du fällst in London mehr auf, als ich," meinte er dann. "Der Name Van Helsing hat durchaus Gewicht in der Welt der Jäger, soweit ich das mitbekommen habe. Da sollte es doch auffallen, wenn du dein Jagdrevier auf einmal verschiebst. Es dürfte auch auffallen, dass du Cambridge - dein Territorium - verlassen hast. Hm. So gesehen unterscheidet ihr Jäger euch gar nicht so sehr von uns Vampiren."
      "Die Beute geht zum Wasserloch, also tut es auch der Räuber. Es macht doch Sinn, dass sich alle Räuber am gleichen Wasserloch einfinden, oder nicht?"
      "Auf ein brennendes Haus kann ich auch verzichten. Dankenderweise hat London ja seit '66 - 1666, wohlgemerkt - recht gute Häuser und eine ordentliche Feuerwehr, soweit ich weiß. Wir kaufen ein stabiles Stadthaus - nichts ausgefallenes. Du kriegst ein Büro für deine Recherche und dein Equipment. Ich kriege eine kleine Bibliothek, in der ich auch arbeiten kann. Ein Schlafzimmer für uns, ein paar Zimmer für die Belegschaft, die wir mitnehmen. Ich dachte da an Esther und Simon? Das sollte ausreichen, oder? Dann können sich Noras Nerven beruhigen, während wir weg sind."
      Vincent verlor sich für ein paar Minuten in der Planung der Inneneinrichtung für ein Haus, dass er noch gar nicht gekauft hatte. Immer wieder fragte er nach, wie Thomas sich seine Waffenkammer vorstellte, welche Materialien er im Büro haben wollte, und erklärte gleichermaßen, was er alles für sein Studierzimmer bräuchte. Er debattierte mit sich selbst über die Farbe der Vorhänge, die Größe der Teppiche, das Holz der Möbel. Sie brauchten keinen großen Salon, um Gäste zu empfangen, aber Vincent wollte trotzdem einen haben und er erklärte, dass er gar nicht wusste, warum. Vielleicht würde er ein Piano hineinstellen? Vielleicht würde er es aber über die Zeit auch einfach nur mit noch mehr Büchern vollstellen. Sie könnten ja eine schäbige alte Rüstung für Thomas besorgen und sie auch dort reinstellen.
      Vincent plapperte geradezu vor sich hin, beinahe ungebremst von Thomas oder Vlad. Es juckte ihn in den Fingern, all seine Pläne in die Tat umzusetzen. Er nahm diesen erneuerten Tatendrang als gutes Zeichen auf. Er redete und plante so lange, bis sein Körper von einem herzhaften Gähnen durchgerüttelt wurde. Er schielte aus dem Fenster und Tatsache: der Himmel verfärbte sich bereits.
      "Herrje. Jetzt habe ich so lange geplappert bis die Sonne aufgeht. Verzeih."
      Er schenkte Thomas ein entschuldigendes Lächeln.
      "Heute Abend, gleiche Uhrzeit?"
    • Thomas stutzte ehrlich.
      "Van Helsing soll bekannt sein?"
      Das wäre ja etwas vollkommen neues für ihn. Dass Vampire in Cambridge sich vor ihm in Acht nahmen, das war ihm bekannt, aber andere Jäger? Und dann auch noch welche aus London? Das wäre ihm ja noch nie zu Ohren gekommen.
      ... Ob sie daran interessiert wären, sich mit ihm auszutauschen? Mit einem Mal hörte sich London ja doch gar nicht so schlecht an.
      Nicht, dass Thomas jetzt überhaupt noch die Chance gehabt hätte, Vincent von seinem Plan abzubringen. Wenn der Mann sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er es auch durch. Aber ganz so schlimm war es sowieso nicht, neben ihm zu liegen und dabei zuzuhören, wie er gerade einen vollständigen Umzug plante, einschließlich der genauen Inneneinrichtung und Logistik vor Ort. Das Funkeln trat dabei in seine trüben Augen, dieses Glitzern, in das Thomas sich so sehr verliebt hatte und das auch jetzt noch denselben Effekt auf ihn hatte. Er hätte ihm die ganze Nacht zuhören können - und genau das tat er auch. So wichtig war es ihm nicht einmal, dass sie ein Haus in London kauften, aber allein für Vincent wollte er es jetzt auch; damit sein Freund weiter mit einer solchen Begeisterung planen konnte.
      Die ersten Sonnenstrahlen und das damit zusammenhängende Gähnen riss ihn schließlich aus dem Wortfluss, während Thomas nur lächelte. Er setzte sich auf und drapierte die Decke über sie beide.
      "Morgen zur selben Zeit. Keine Sekunde später."
      Er küsste ihn flüchtig auf die Stirn, dann legte er sich zurück und wartete darauf, dass Vincents Atem sich verlangsamte. Schließlich zog er ihn vorsichtig an seine Brust und hielt ihn in seinen Armen fest, bis er selbst müde genug für Schlaf wurde.

      Am Tag darauf verschwendete er keine Sekunde, um mit den ersten rötlichen Sonnenstrahlen am Abend Vincent aufwecken zu gehen. Und auch nicht am Tag darauf oder die restliche Woche. Er kümmerte sich um seinen Freund mit der gleichen Hingabe wie schon anfangs und überhäufte ihn mit neu gewonnener Zuneigung. Mit einem Mal schienen sie wieder frisch verliebt und dazu auch noch wie ein viel jüngeres, trunkenes Liebespaar. Thomas begann ihn sogar vor Nora zu küssen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und sogar vor Esther. Manche Unsicherheiten ließen sich nunmal ablegen, wenn man sich rundum wohl fühlte.
      Sie fuhren gemeinsam nach London, um ein paar leer stehende Häuser zu begutachten, und als Vincent sich entschieden hatte, blieben sie gleich eine ganze weitere Woche in London, während der Mann des Hauses die Einrichtung plante und Thomas halbherzige Jagden betrieb. Sein Fuß war noch immer nicht verheilt und so besorgte er sich bald einen Gehstock, damit er ihn sich nicht kaputt laufen würde. Er hasste ihn, weil er sich damit vorkam wie ein alter Greis, aber Vincent fand ihn ganz reizend und schmeichelte ihm, wann immer er nur konnte. Womöglich spürte er die Unsicherheit, die von Thomas ausging, wann immer er sich damit in der Öffentlichkeit zeigen musste. Irgendwann fand er ihn dann doch nicht mehr ganz so schlimm; wie könnte er auch, wenn sein Freund ihn mit einem Strahlen empfing und ihm sagte, dass er der best aussehendste Mann in ganz London sei? Vincent wickelte ihn quasi um den Finger und das nicht zum ersten Mal.

      Der Sommer ging in den Herbst über und Nora stellte eine ganz essentielle Frage: Sollte sie mit den Vorbereitungen für Hallow's Eve anfangen? Immerhin musste sie dafür früh genug anfangen zu dekorieren und das Personal für 200 Gäste managen. Eigentlich bestand kein Grund mehr, dieses Fest auszuführen, denn Vincent hatte damit nur stets seinen Meister anlocken wollen und der befand sich nun als knöcherner Schädel in Thomas' Studierzimmer.
      Aber über die Jahre hinweg hatte es sich als eine Tradition eingebürgert und kaum, als die Tage wieder ein bisschen länger wurden, fingen die Leute auch schon wieder an, über das ominöse Fest zu sprechen. Wieso es dann also nicht noch einmal abhalten? Ganz für die guten alten Zeiten, meinte Thomas, der viel eher so begeistert war, weil sie sich damit langsam einem einjährigen Jubiläum nähern würden. Es war zwar ein schwieriges, anstrengendes Jahr gewesen, aber das war es auch wert gewesen. Er liebte Vincent und er war bei ihm so glücklich wie nirgendwo anders.
      Also schmissen sie das Fest. Und pünktlich am 30. Oktober öffneten sich die Tore zu Harker Heights, um all jene glückliche hereinzulassen, die eine zufällige Einladung zugestellt bekommen hatten.
      Oder eine weniger zufällige Einladung.
    • Neu

      Sich davon zu erholen, beinahe zu verhungern, stellte sich als überraschend anstrengend heraus. Aber Thomas half ihm an jeder Ecke, an jedem Ende, ohne zu zögern. Nach der ersten Woche fühlte sich Vincent genug in Kontrolle über sich selbst, damit sie die Handschellen weglassen konnten. In der gleichen Woche heilten seine selbst zugefügten Verletzungen unter dem genauen Auge von Thomas aus, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Eine Woche war alles, was es brauchte, um ihn körperlich wieder auf die Beine zu kriegen; auch wenn Thomas das Narbengeflecht nicht unbedingt gefiel, das sich auf Vincents Flanke festgesetzt hatte, nach seinem kleinen Tanz mit einem Silbermesser. Vincent gefiel es fast schon. Es erinnerte ihn daran, dass er eben nicht unkaputtbar war. Dass auch er sterben konnte. Das war etwas, was Vlad in seinem langen Leben vergessen hatte.
      "Es verleiht mir Charakter," scherzte Vincent eines Abends, als er sich selbst im Spiegel betrachtete. "Und heißt es nicht, dass Narben eine Aura von Verwegenheit hervorrufen?"
      Mit seinem Hemd in der Hand drehte er sich zu Thomas um und gab ihm den verwegensten Blick, den er zu Stande bringen konnte.
      Eine kalte Hand strich ihm von hinten über die ehemals verletzte Flanke, ein Kopf lehnte sich an den seinen.
      "Ich mochte dich makellos lieber. Das hier ist ein Zeichen deiner Schwäche. Du hast einen Jäger unterschätzt. Du hast dich falsch ernährt. Und du begehst die gleichen Fehler erneut," raunte Vlad ihm ins Ohr. "Das ist es, was du niemals vergessen solltest."
      Vlad hatte ihn in der letzten Woche nicht allein gelassen. Natürlich nicht. Warum sollte er auch?
      Vincent scherzte noch ein bisschen mit Thomas, während er sich anzog, damit sie endlich zu Abend essen konnten.

      Normalität kehrte in ihren Haushalt zurück. Sobald Vincent bemerkte, dass ihn Thomas' Herzschlag nicht mehr störte, erhöhten sie langsam aber sicher die Anzahl der Bediensteten im Haus, bis sie wieder zu ihrer ursprünglichen Nummer zurückkehrten. Nora zeigte es zwar nicht, aber sie war mehr als nur erleichtert, Vincent wieder in guter Gesundheit zu sehen. Und das lag nicht nur daran, dass er sich nun auch wieder um ihre Gesundheit kümmern konnte - etwas, was er sofort wieder aufnahm. Das Rauschen in ihrem Herzen war lauter geworden in der Zeit, in der er sich nicht um sie hatte kümmern können. Zum Glück war es nichts, was sein Blut nicht in ein paar wenigen Schlucken wieder lösen konnte. Schon bald ging es auch Nora wieder gut.
      Vincent ließ sich nicht lange Zeit mit seiner Suche nach einem Londoner Stadthaus. Er wollte unbedingt vermeiden, dass Thomas schon wieder die Decke auf den Kopf fiel. Der Mann hatte sich immer so um seine furchtbaren Launen gekümmert, hatte immer darauf geachtet, das Monster nicht in Versuchung zu führen, da wollte er jetzt etwas zurückgeben.
      Glücklicherweise hatte Vincent exzellente Verbindungen und fand schnell eine kleine Auswahl. Anstatt Thomas zu sagen, dass er etwas gefunden hatte, überfiel er ihn einmal mehr mit viel zu vielen Zeitungen aus der Gegend.
      "Pack deine Koffer, mein Herz! Wir gehen ein Haus kaufen!" verkündete er und ließ den zusammengeschnürten Haufen Papier auf den Schreibtisch fallen.
      Nur um sich dann gleich darüber hinweg zu beugen und sich einen Kuss von dem überrascht dreinschauenden Mann zu stehlen.
      "Du hast drei Tage."
      Grinsend tänzelte Vincent davon und ließ Thomas mit voller Absicht völlig verdattert zurück. Jetzt, wo er Vincent ohne rot zu werden vor dem Hauspersonal küsste, musste er sich immer neue Wege einfallen lassen, Thomas diesen entzückenden Gesichtsausdruck zu entlocken.

      Die Häuser waren alle wundervoll und am liebsten hätte sich Vincent alle gekauft, aber dank Thomas' kühlen Kopf wurde es dann doch nur eins. Mit einem Salon, der vielleicht ein bisschen größer war als nötig, aber sie einigten sich gemeinsam auf das Haus und das war der wichtige Teil.
      Nora handhabte die Termine mit allen möglichen Dienstleistern tagsüber, nachdem Vincent des nachts seine Pläne detailliert aufgeschrieben hatte. Thomas bekam eine ganze Wand, an die er seine Waffen hängen konnte. Er würde sich genauso wenig in einem Keller verstecken müssen, wie Vincent es tun wollte - und genauso wenig würden es seine ausgefallenen Waffen tun. Stattdessen ging Vincent sicher, dass die Art und Weise, wie sie gelagert wurden sowohl praktisch, als auch ästhetisch waren. So konnten sie den seltenen Gast auch einfach nach Hause einladen, ohne sich seltsame Blicke einzufangen. Jeder brauchte ein Hobby, und antike Waffen zu sammeln war genau exzentrisch genug, um in der High Society Anschlag zu finden. Auf Thomas' Nachfrage hin erklärte Vincent ihm, dass er das Haus in London für Thomas einrichten wollte, nicht für sich. Eine kleinere Sicherheitsmaßnahme um in der englischen Gesellschaft nicht auf die falsche Art aufzufallen - Vincent wusste, wie wichtig Thomas das war. Er wartete bis nach dem richtigen Einzug, bis wirklich alles fertig eingerichtet war und es absolut kein Zurück mehr gab, um Thomas mitzuteilen, dass das Haus ihm gehörte; dass Vincent es in seinem Namen gekauft hatte. Thomas Van Helsing war jetzt offiziell Besitzer eines Hauses in London. Was nur Sinn machte, nachdem sein Familienanwesen in Cambridge niedergebrannt war. Natürlich hielten sie nach außen hin auch weiterhin ihre kleine Geschichte über den Leibarzt von Lord Harker aufrecht, aber sie mussten an mehr als nur einer Front Geschichten erzählen. Vincent hatte Thomas gewarnt, dass er in London bekannt war. Und ein Jäger wir Thomas Van Helsing setzte sich nicht einfach zur Ruhe. Ein Haus in einem Vampir Hot Spot zu haben, passte also genau ins Bild.
      Und dass Thomas Simon regelmäßig mit auf eine Jagd nahm, spielte ebenfalls in die Geschichte des legendären Jägers hinein - und gab Vincent eine weitere Lage an Sicherheit. Er war jetzt der Lord, der einem Jäger die Mittel zur Verfügung stellte, neue Jäger auszubilden und sein Arsenal aufrechtzuerhalten.
      Zeitgleich gab Vincent Thomas eine Lage der Sicherheit in London: die Alten hielten sich aus seinen Angelegenheiten heraus. Seine Angelegenheiten waren Thomas' Angelegenheiten. Es gab keinen offenen Austausch und die meisten Alten hielten sich sowieso von London fern oder waren so alteingesessen, dass sie wussten, was sie tun und lassen konnten, aber es schien ein allgemeines Aufatmen zu geben, dass sich endlich jemand um diese ganzen Vampire kümmerte, die ihre Jugend irgendwie überlebt hatten, aber sich nicht den Regeln fügen wollten. Sie waren stärker als normale Jünglinge, cleverer, aber hatten allesamt ein Ego, das dem von Vlad gleichkam. Ein erfahrener Jäger wie Thomas Van Helsing war das genau das, was es brauchte.

      "Was machen wir mit All Hallow's Eve?" fragte Nora eines Abends, als Thomas und er beim Abendessen saßen.
      Sie servierte den beiden eine Runde Tee, dann setzte sie sich ganz einfach zu ihnen an den Tisch.
      "Feiern wir oder feiern wir nicht?"
      Vincent sah zu Thomas rüber. Weder er, noch Thomas waren große Freunde von solch großen Veranstaltungen. Der Grund für die Feier war tot. Warum sollten sie?
      "Für die guten alten Zeiten," meinte Thomas mit einem Schulterzucken.
      "Für die guten alten Zeiten, meinte Vlad, der hinter ihm an der Wand lehnte und aus dem Fenster blickte.
      "Für die guten alten Zeiten," meinte Vincent mit einem Lächeln zu Nora, die überzeugend nickte und sich die nächsten Tage voll in die Planung warf, immerhin war sie es, die die ominösen Einladungen Jahr für Jahr verschickte.
      Dieses Jahr würde vielleicht eine nach Cambridge gehen und bei einem Theater landen.

      Harker Heights war voller Aktivität. Während das stattliche Herrenhaus normalerweise in stiller Ruhe lag, war dieser Tag, der 30. Oktober, immer außerordentlich geschäftig. Mit Bediensteten, die hin und her eilten, Hausierer aus dem Dorf, die ihre Waren verkauften, und Frühankömmlingen, die Zimmer im Gästeflügel verlangten.
      In den elf Jahren, die er nun schon in Harker Heights lebte, war der 30. Oktober der Tag, den er am meisten hasste. Es war dieser Moment der Erwartung, den man spürte, bevor man in tiefes, kaltes, dunkles Wasser sprang. Das Gefühl, dass sich etwas unter den eigenen Füßen wand oder etwas Schweres im Wasser an einem vorbeistrich.
      Denn während sich der Haushalt auf eine Party vorbereitete, hatte er größere Probleme zu lösen.
      "Nora. Du siehst hinreißend aus. Also hör auf, so die Stirn zu verziehen! Das ist nicht besonders attraktiv."
      Nora verzog das Gesicht nur noch mehr. Irgendwie hatte es Vincent geschafft, sie in ein Kleid zu zwingen. Irgendwie hatte er es geschafft, sie dazu zu bringen, sich für die Dauer der Veranstaltung frei zu nehmen.
      "Ich kann nicht glauben, dass du mich dazu überredest hast," beschwerte sie sich.
      "Dann sind wir ja schon zwei. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich das geschafft habe. Jetzt halt still und lass mich deine Haare richten."
      Gesagt, getan. Nora sah wirklich hinreißend aus. Vincent hoffte, das eine ganz bestimmte andere Person ebenfalls so denken würde.
      "Muss ich das morgen auch noch einmal anziehen?"
      "Was? Nein! Natürlich nicht! Für den Maskenball habe ich dir einen anderen Aufzug besorgt."
      "Vincent!"
      "Nora!"
      Sie schüttelte den Kopf, dann drehte sie sich um, um sich im Spiegel zu betrachten. Ihre Züge wurden weicher. Sie wusste, dass sie gut aussah. Sie wusste, das Vincent das nur für sie getan hatte.
      Sanft legte Vincent ihr die Hände auf die Schultern.
      "Gern geschehen," flüsterte er, dann drückte er ihr einen Kuss auf die Schläfe. "Genieße den Abend, ja? Das ist mein viel zu kleines und lange überfälliges Dankeschön."
      "Für was?"
      "Für alles. Jeden einzelnen Tag, den du mich ausgehalten hast."
      Sie umarmten sich kurz, dann schob Nora Vincent von sich.
      "Husch husch jetzt," scheuchte sie. "Du musst doch dramatisch zu spät kommen."
      Vincent salutieret spielerisch, dann verschwand er aus dem Gästezimmer, dass er extra für sie hatte herrichten lassen. Esther war nur zu begeistert gewesen, das zu übernehmen. Generell hatte Esther alles übernommen, was das Fest anging. Nora hatte nur in der Planung geholfen, die eigentliche Ausführung hing an der jungen Frau. Sie nahm das sehr ernst.
      "Das ist also das legendäre Fest, mit dem du mich Jahr um Jahr anzulocken gedachtest? Ich muss gestehen, ich bereue es, nie hergekommen zu sein. Du wusstest schon immer, wie man eine Feier schmeißt."
      Vlad stieß auf dem Flur zu ihm.
      "Ich habe sie auch früher schon immer nur für dich gemacht. Überrascht es dich da wirklich, dass ich genau weiß, was du an einer Feier magst?"
      Vlad lachte leise.
      "Als ob sie dir nicht auch gefallen hätten," meinte er.
      "Ich war süchtig nach deiner Aufmerksamkeit. Und nach deinem Biss. Die Feiern waren mir egal."
      "Lügner!"
      Vincent zuckte zusammen, als Vlad ihn so anschrie. Einmal mehr musste er sich selbst daran erinnern, dass Vlad ihm nichts tun konnte. Auf einem von Thomas' Jagdausflügen nach London, denen er selbst nicht beigewohnt hatte, hatte er ausprobiert, wie weit Vlad gehen konnte. Er konnte ihn berühren, ja, aber er konnte ihm nichts tun. Konnte ihm nicht wehtun. Er war bloß in seinem Kopf. Leider wollte er da augenscheinlich auch nicht weg.
      Doch obwohl er wusste, dass Vlad ihm nichts tun konnte, ließ er sich von dem Mann an die Wand zurückdrängen. Vlad stemmte einen Arm neben seiner Schulter gegen die Wand und beugte sich zu ihm, ganz dicht.
      "So langsam geht es mir wirklich auf die Nerven, wie sehr du dich selbst belügst, Steaua mea. Es wird Zeit, dass wir das ändern. Und deine kleine Feier ist perfekt dafür."
      "Boss?"
      "Ja?"
      Simon kam um die Ecke geschlittert. Er war in den letzten Wochen ordentlich gewachsen. Nicht nur in Höhe - er war jetzt der größte im Haushalt - sondern auch in Sachen Muskeln. Der junge war ordentlich durchtrainiert, nachdem Thomas sich seiner angenommen hatte. Simon wollte ihn eben beeindrucken, also legte er sich so richtig ins Zeug.
      "Esther hat eine Frage wegen dem Besteck für heute Abend," informierte Simon ihn.
      Vincent schüttelte lächelnd den Kopf.
      "Sie soll nehmen, was sie für richtig hält."
      "Wenn sie will, dass du nachguckst?"
      "Dann sagst du ihr, dass ich ihr vollkommen vertraue, dass sie weiß was sie da tut."
      "Wird gemacht."
      Simon verschwand wieder. Vincent seufzte, atmete tief durch, und machte sich auf den Weg in sein Schlafzimmer. Vlad war verschwunden.

      Vincent schlüpfte in sein maßgeschneidertes, burgunderrotes Jackett und betrachtete sich selbst im Spiegel. Er sah verdammt gut aus, das musste er selbst zugeben. Er fühlte sich auch gut. Zum ersten Mal in seinem langen, langen Leben, schmiss er eine Feier für sich selbst. Für die Liebe seines Lebens. Für seine beste Freundin. Da war kein Druck, absolut perfekt zu sein, denn niemand wusste, wer Lord Harker eigentlich war. Da war kein Druck, absolut perfekt zu sein, denn da war keine Beute, die es anzulocken galt. Heute musste er gar nicht Lord Harker sein. Heute musste er gar nicht der Abkömmling eines Monsters sein. Heute konnte er einfach Vincent sein. Heute konnte er einfach Spaß haben.
      "Wie sehe ich aus?" fragte er voller Enthusiasmus und drehte sich schwungvoll zu Thomas um, bewaffnet mit seinem charmantesten Lächeln - einem echten.
    • Neu

      Am eigentlichen Tag des Festes befand Thomas sich einmal nicht in einer Kutsche. Er trug auch nicht seinen typisch unauffälligen, wenngleich maßgeschneiderten Anzug, sondern eine neumodische Kombination höchster Schneiderkunst, die einzig und allein Vincent zu verdanken war. Den einzigen Kompromiss, den er sich hatte heraushandeln können, war die dunkle Farbe seines Aufzugs, die ihn wiederum etwas untergehen ließ. Thomas wollte nie im Leben mit seinen Farben herausstechen, so wie es wohl Vincents Plan war.
      Dafür sah sein Freund aber umso besser aus. Wenn es einen Mann gab, der ein solches Burgunderrot tragen konnte wie ein König, dann war es dieser blondhaarige, dessen strahlend blaue Augen sich jetzt fröhlich auf Thomas' legten. Ein Lächeln breitete sich dazu auf seinen Lippen aus, das ihm die Knie geradezu weich werden ließ. Vincent kannte seine Schwachstelle und wusste damit umzugehen wie Thomas mit seinen Messern.
      "Gott im Himmel, du siehst hinreißend aus."
      Er trat zu ihm heran und strich ihm die Schultern, die Ärmel und die Brust glatt, nicht weil er es musste, sondern einfach nur, weil er es konnte. Vor einem Jahr wäre es noch gänzlich undenkbar gewesen - und jetzt?
      Thomas lächelte gänzlich entzückt, schlängelte den Arm um Vincents Hüfte und zog ihn an sich. Dabei zerknautschte er das Jackett ein bisschen, aber er passte schon auf, dass es keine permanenten Falten werfen würde.
      "Geradezu zum anbeißen."
      Grinsend lehnte er sich zu ihm vor und küsste ihn fest genug, dass Vincent sich dabei nach hinten biegen musste. Beim Aufrichten strich er das kostbare Jackett aber auch gleich wieder glatt.
      "Du schöner, schöner Mann."
      Liebevoll richtete er ihm eine Haarsträhne.
      "Ein bisschen bereue ich diesen Abend. Wir sollten es uns lieber zu zweit gemütlich machen."
      Aber auf derselben Seite - genau das könnten sie wohl. Vincent hatte jetzt keine Verpflichtungen mehr, er musste keinen Ruf aufrecht erhalten oder den Leuten etwas vorspielen. Wenn sie wollten, könnten sie sich jederzeit ein paar Stunden zurückziehen. Das Haus war groß genug, um sich irgendwo darin zu verstecken.
      Deswegen war das Fest vielleicht doch nicht so schlecht. Und immerhin könnten sie später, mit ihren Masken, wieder gemeinsam tanzen. Nur wegen Vincent könnte Thomas an so etwas langsam Gefallen finden.

      Trotzdem ließen sie es sich nicht nehmen, beim Eintrudeln der Gäste vor Ort zu sein, und so standen sie eine Stunde später zu zweit im Salon, wo Vincent im letzten Jahr noch alleine gestanden hatte, und begrüßten bekannte, aber auch neue Gesichter. Der Großteil davon waren Vincents Bekannte, langjährige Gäste, die es wohl irgendwie zustande brachten, sich jedes Jahr eine Einladung zu ergaunern. Bevor sie es sich versehen konnten, waren sie schon mit Smalltalk beschäftigt und standen in einer ganzen Gruppe von Personen.
      Aber nicht alle waren nur Vincent bekannt. Da war zum Beispiel eine einsame Frau mit schwarzen, langen Haaren, die schon auf Vincent zuhielt, bevor sie ihn überhaupt gesehen hatte. Erstaunlicherweise trug sie diesmal ein ausfallendes, pompöses Kleid und war in keine Herrenkleidung gesteckt. Thomas war nicht wenig überrascht, sie zu sehen.
      "Lord Harker", trällerte sie, als sie mit der Selbstverständlichkeit von mehreren Jahrzehnten Lebenserfahrung sich in der Gruppe einfügte. Sie grüßte die Runde mit höflichen Floskeln, bevor sie die Aufmerksamkeit des Gastgebers erhaschte und ihn mit überzogener Freundlichkeit anlächelte.
      "Was für ein hübsches Jackett, die Farbe steht Ihnen. Sie haben das Personal gewechselt, wie ich mitbekommen habe."
      Natürlich wusste er ganz genau, worauf sie hinauswollte, und lotste sie in die richtige Richtung. Denize Ruby Jane Clare Mary Ophelia Melbwin die IV. zog ab, erblickte das Subjekt ihrer Begierde und schnappte gar theatralisch nach Luft.
      "Madame Nora! Was für eine glückliche Begegnung! Sie sehen fantastisch aus!"
      Die Vampirin maß ihre Freundin mit Blicken, die jedem anderen entgingen, kam mit ausladenden Schritten auf sie zu und schloss sie in die Arme. Nur Vincent mochte hören, was die Dame Nora ins Ohr flüsterte, aber anhand des bröckelnden Gesichtsausdrucks der Haushälterin war Thomas sich sicher, dass er es gar nicht so genau wissen wollte. Ophelia richtete sich schon auf, ein breites Grinsen im Gesicht, und legte die Hand auf unschuldig freundliche Art auf Noras unteren Rücken.
      "Ich habe so einen Durst von der langen Fahrt. Vielleicht können Sie mir noch einmal zeigen, wo sich die Küche befindet?"
      Die beiden Frauen zogen ab und Thomas machte sich eine mentale Notiz, an diesem Abend keinen Raum zu betreten, ohne nicht vorher von Vincent das Okay bekommen zu haben. Er gönnte Nora diesen freien Abend und außerdem noch die Gelegenheit, ihn mit ihrer Freundin verbringen zu können.

      Später kam dann auch noch eine zweite Frau herein, deren Anwesenheit ihn durchaus überraschte. Sie hatte sich nicht absichtlich nach ihm umgesehen, aber ihre Blicke trafen sich und nach einigem Zögern kam Darcy Brooks auf Vincent und ihn zu. Neben ihr ging ein blondhaariger Mann in adrettem Aufzug.
      "Hallo, Vincent. Thomas."
      Darcy lächelte ein wenig verlegen. Dann machte sie eine Geste zu ihrer Begleitung.
      "Das hier ist Benjamin. Er arbeitet bei Stephen als Personalleiter."
      "Benjamin Osborne, sehr erfreut", stellte der Angesprochene sich vor und reichte beiden freundlich lächelnd die Hand, während Darcy sie vorstellte.
      "Das ist Lord Harker und das ist Thomas."
      Thomas schüttelte höflichkeitshalber seine Hand. Er hatte keine Ahnung, was Darcy über ihn erzählt haben mochte, aber Benjamins Lächeln blieb freundlich, als er ihn ansah.
      "Sehr erfreut. Ist etwas mit Ihrem Bein?"
      Er deutete auf Thomas' Gehstock, den er ehrlicherweise nicht mehr so dringend brauchte. Heute Abend wollte er ihn aber als Tarnung benutzen.
      "Mit dem Fuß", korrigierte er mit einem kurzen Blick auf Darcy. "Ein, ähm, Jagdunfall."
      "Ach, Sie jagen? Etwa hier, auf Harker Heights?"
      "Nein, nicht hier. Ich fahre dafür nach London raus."
      "Oh wirklich?" Benjamin schien ehrlich interessiert. "Wo kann man denn dort gut jagen? Und was jagen Sie? Freiwild?"
      Thomas war fast schon ein bisschen erleichtert. Er hatte schon befürchtet, der Mann wäre ein weiterer Jäger, aber Darcy musste ihn nicht darüber eingeweiht haben - genauso wenig wie sie ihm gesagt haben musste, weshalb sie und Thomas genau sich getrennt hatten.
      Thomas lächelte ein wenig.
      "Nicht ganz. Ich jage Raubtiere."
      "Ach! Was Sie nicht sagen. Etwa Bären? Und Wölfe?"
      "Auch nicht ganz."
      "Jetzt ist gut, Benji", unterbrach Darcy, bevor der Mann noch weitergefragt hätte, und tätschelte ihm den Unterarm. "Lass uns nicht über sowas reden. Eigentlich wollte ich auch nur kurz Hallo sagen."
      Sie zögerte und sah zwischen Vincent und Thomas hin und her.
      "... Ich bin nicht wegen... euch gekommen. Das möchte ich auch hiermit klarstellen."
      Ihr Blick blieb auf Thomas liegen.
      "Hallow's Eve war letztes Jahr so etwas wie ein Reinfall, weil du kaum tanzen wolltest. Benjamin hier tanzt besser. Deswegen bin ich hier."
      Damit wandte sie sich ab und ihrer neuen Flamme blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
    • Neu

      Vincent ließ sich von Thomas mitreißen, ließ sich von ihm halten, ließ sich von ihm küssen. Als der Mann sich wieder von ihm trennte, richtete er ihm die Fliege - auch wenn sie perfekt saß. Das Lächeln blieb.
      "Du kannst mir ja später gern dabei helfen, diesen wundervollen Anzug wieder auszuziehen," raunte er.
      Er legte Thomas die Arme um den Hals und küsste ihn erneut, nur um sich über die nächsten Stunden hinwegtrösten zu können. Sie konnten nicht einmal Händchenhalten, solange sie in Gesellschaft waren. Heute war wohl eine dieser Nächte, in denen Vincent die sozialen Konventionen Englands einmal mehr verfluchen würde - mehr als sonst.

      Vincent schüttelte mehr Hände, als er zählen konnte. Sein Lächeln war mittlerweile ein aufgesetzteres - noch immer echt, aber nicht immer wegen der Person oder Situation mit der er sich konfrontiert sah. Viele der Leute, die er begrüßte, schleimten sich so offensichtlich bei Lord Harker ein, es war geradezu anstrengend, das Lächeln aufrecht zu erhalten. Wann immer er jemandem die Meinung geigen wollte, erinnerte er sich einfach an einen Moment mit Thomas, in dem er glücklich gewesen war. Das gestaltete den Teil dieses kleinen Spießrutenlaufes weitaus angenehmer.
      "Lady Ophelia! Ich hoffe, die Anreise war nicht allzu unangenehm."
      Er begrüßte die Vampirin - die einzige, die Vincent auf seinem Grundstück tolerieren würde - herzlich, als seien sie alte Freunde, nicht bloß Bekannte.
      "Nicht ersetzt, nur... umstrukturiert. Eine bessere Verteilung von Stärken und Schwächen, Ihr wisst schon. Ich wünsche einen schönen Abend."
      Vincent schielte und lehnte seinen Kopf in die Richtung, in der er Nora geparkt hatte. Sie fühlte sich immer so deplatziert auf Veranstaltungen dieser Art, wenn sie nicht arbeiten durfte. Er wollte ihre Freundin also nicht zu lange aufhalten, auf dass sie Nora von ihrem Leiden erlösen konnte. Was Ophelia auch sogleich in Angriff nahm. Vincent musste ein Grinsen unterdrücken, als er die Worte der Schauspielerin hörte.

      Ganz im Image von Lord Harker schnappte sich Vincent schon bald seinen ersten Drink. Er schüttelte noch ein paar Hände, doch schon bald ebbte der Strom an neuen Gästen ab und er wurde von diversen Gesprächen mitgerissen. Hier wollte jemand mit ihm Kunst reden, da wollte jemand etwas über seine Geschäfte wissen und wie man seine Dienste erwerben konnte. Es wurden sogar die Gewalttaten in Cambridge angesprochen - jeder wollte wissen, was genau passiert war. Vincent hüllte sich in Mysterien, gab den Klatschmäulern genug, um fasziniert zu sein, aber nicht genug, um sich ein vollständiges Bild von allem machen zu können. Vielleicht war sein Auftritt allerdings ein bisschen zu gut - irgendwann machte er sich doch tatsächlich Sorgen um den Handel in der Stadt, wenn er all die Reichen und Mächtigen davon überzeugte, die Stadt zu meiden. Er streute ein paar Komplimente über den historischen Teil des Ortes ein und über die Universitätsbibliothek.
      Er roch Darcy, bevor er sie sah. Er sah Darcy, bevor er sie hörte.
      "Ah! Darcy! Zwei Jahre hintereinander? Welch Glück du mit den Einladungen hast," kommentierte Vincent schlicht.
      Zum Aufrechterhalten des Scheins ergriff er ihre Hand in einem hauchzarten Griff und küsste ihre Knöchel. Selbstverständlich ließ er sie sofort wieder los. Nur um gleich die Hand dieses Benjamins zu schütteln.
      "Hm. Harmloses Menschlein oder Wolf im Schafspelz? Er arbeitet für Stephen. Stephen weiß, dass er sich hier nicht zu zeigen braucht. Hat er jemanden an seiner Statt geschickt, mit seiner Schwester? Oder ist Benji nur der nächste arme Gockel, der Darcy's konstantes Gequatsche aushalten muss? Fragen über Fragen."
      Vincent bemühte sich, Vlad zu ignorieren. Er bemühte sich auch, den Zweifel, den er zu säen versuchte, zu ignorieren. Er schaffte es leider nicht, beides zu tun.
      "Nicht wegen uns gekommen?" schaltete sich Vincent wieder in die Unterhaltung ein, um sich selbst von Vlad abzulenken. "Das will ich doch auch hoffen! Diese Feier ist ja schließlich nicht für mich oder den guten Herrn Doktor."
      Er lächelte freundlich und trat beiseite, um Darcy und ihre Begleitung in Richtung Tanzbereich zu entlassen. Dabei machte er Augenkontakt mit Vlad, der einfach nur mehrdeutig die Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte, als könne er kein Wässerchen trüben. Vincent wandte sich von dem Anblick ab und tauschte sein leeres Glas mit einem vollen aus, als jemand mit einem Tablett an ihm vorbeilief. In der gleichen Bewegung wandte er sich wieder Thomas zu.
      "Was halten wir von Benji?" fragte er und nippte an seinem neuen Drink.
      Er ließ den Blick weiter durch den Raum schweifen. Gewohnheitsbedingt hielt er Ausschau nach den Geistern des Anwesens. Auch wenn sie weitestgehend harmlos waren, irgendetwas sorgte dafür, dass Vincent nervöser war als sonst.
    • Neu

      Vincent blieb ganz im Bild des schnöseligen Lords, selbst gegenüber einer... nun, was war Darcy eigentlich? Eine alte Bekannte? Eine ehemalige Freundin? Oder noch immer eine Freundin? Genau deshalb überließ Thomas ihm den größten Teil des Gesprächs, anstatt sich selbst einzumischen. Vincent beherrschte das Spiel der Gesellschaft so ausgezeichnet, dass ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte. Da war es einfacher, dabeizustehen und seine Künste stillschweigend zu beobachten.
      Die beiden Gäste zogen bald weiter und Thomas wandte sich zu seinem Freund um, dessen Glas sich wie durch Zauberhand neu aufgefüllt hatte. Dabei waren sie gerade mal eine Stunde hier.
      "Was wir von Benji halten?"
      Thomas sah in Richtung des Paares, das sich wie ganz natürlich in eine Traube von Menschen einfädelte und dort Gespräche aufnahm. Darcy sagte irgendwas, Benji ergänzte etwas mit einem charmanten Lächeln dazu und die Leute um sie herum lachten. Anscheinend schienen sie sich ganz wohl zu fühlen.
      "Er passt gut zu ihr. Er kann mit Leuten umgehen und ich möchte wetten, dass er sogar freiwillig mit hierher gekommen ist. Nagut, ich bin auch freiwillig gekommen, aber nur für die Jagd. Der da ist kein Jäger mit seinen dünnen Ärmchen. Hier", er hob die Hand und erhaschte Simons Aufmerksamkeit, der gleich zu ihnen herüberkam. "Das hier ist ein Jäger."
      Mit einem stolzen Grinsen umfasste er Simons kräftigen Oberarm, wie um ihn Vincent zu präsentieren.
      "Das sind die Arme eines Jägers. Nicht wahr, Simon?"
      Beide grinsten sich gegenseitig an. Simon war zwar technisch gesehen im Dienst, aber natürlich trug er trotzdem sein treues Silbermesser bei sich und wenn Thomas daran dachte, mit ihm die Tage wieder zu trainieren, beflügelte das gleich seine Stimmung.
      Simon musste aber weiterziehen und da genehmigte sich auch Thomas seinen ersten Drink. Er konnte schließlich den Herrn des Hauses schlecht alleine trinken lassen.
      "Ich würde also sagen, wir halten Benji für harmlos und damit finden wir ihn gut."

      Im letzten Jahr hatten sie sich für ein Gespräch in den angrenzenden Salon zurückgezogen und auch jetzt stand dem nichts im Weg. Sie konnten beide dem Alkohol frönen, während sie darauf warteten, dass der erste Abend sich dem Ende neigte und die Gäste sich langsam in ihre Unterkünfte zurückziehen würden. Das eigentliche Spektakel, der Maskenball am Tag darauf, war schließlich das, worauf es hier wirklich ankam.
      Thomas spielte bei dem Gedanken daran ein bisschen zu viel an seinem Jackett und seinen Ärmeln herum.
    • Neu

      Vincent lächelte Simon hinterher. Die Beziehung, die der junge Mann mit Thomas aufgebaut hatte, war geradezu herzerweichend. Es freute ihn, dass Simon endlich jemanden gefunden hatte, der mit seiner überschüssigen Energie mithalten konnte.
      "Darauf trinke ich," meinte Vincent und prostete Thomas zu.

      Im Laufe der nächsten Stunde schafften sie es irgendwie, sich durch die Masse zu arbeiten und sich schließlich im angrenzenden großen Salon niederzulassen. Dieser private Gentlemen Club war geradezu unsichtbar, sobald die Festivitäten vorüber waren. Vincent nutzte diesen Raum einfach nicht, weil er schlicht zu groß war, wenn man allein lebte. Oder zu zweit.
      Vincent ließ sich gespielt erschöpft in einen ledernen Sessel fallen und orderte sich selbst gleich eine Flasche hochprozentigen Alkohols. Ausnahmsweise wollte er tatsächlich einmal die Auswirkungen davon spüren, was hieß, dass er große Mengen konsumieren musste. Aber der gute Lord Harker war ja ein bekannter Trinker auf seinen eigenen Festen und durchaus trinkfest, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte.
      Hin und wieder kam jemand vorbei und unterhielt sich mit ihm, doch Vincent gab sich Mühe, diese Gespräche kurz zu halten - hauptsächlich weil er schlicht keine Lust darauf hatte, sich all diese Schmeicheleien anzutun und auszuteilen. Er unterhielt sich viel lieber mit Thomas über alle möglichen Nichtigkeiten, um Vlads Blicke ignorieren zu können, die ihn aus allen Richtungen im Raum erreichten. Der Mann wanderte durch die Gänge und betrachtete die Menschen hier als sei er auf dem Markt und suche nach dem saftigsten Steak. Vincent bekam Hunger.

      "Ich hätte die Flasche vielleicht doch nicht leer machen sollen," grummelte Vincent einige Zeit später im Schutze seines Schlafzimmers.
      Die Gäste waren alle in einem anderen Flügel untergebracht, es hatte also niemand eine Chance zu hinterfragen, warum Thomas ihm gefolgt war. Oder viel mehr warum er Thomas gefolgt war. Der Mann hatte ihn durch die Gänge seines eigenen Hauses leiten müssen. Vincent war sogar gegen eine Vase gestolpert und hatte ein paar sehr interessante Flüche in gleich drei Sprachen von sich gegeben.
      "Ich habe überhaupt keine Lust, morgen vor Sonnenuntergang aufstehen zu müssen," beschwerte er sich weiter, während er mit den Ärmeln seines Jacketts kämpfte. "Die wollen immer alle was von mir. Als ob niemand sonst da ist, um sich zu unterhalten. Je ne suis pas si intéressant que ça après tout*?"
      Mit einem Schnaufen gab er den Kampf auf und ließ sich auf die Bettkante sinken; seine Arme steckten immer noch halb in den Ärmeln seines Jacketts.
      "Dois-je être là demain**?" fragte er Thomas, ohne zu bemerken, dass er die falsche Sprache sprach, um sich mit dem Mann zu unterhalten. "Die können sich doch einfach selbst beschäftigen. Das ist ein Maskenball! Die kriegen doch gar nicht mit, wenn ich nicht da bin!"
      Er beschwerte sich noch ein bisschen auf Französisch, während er seine Schuhe auszog. Thomas half ihm schließlich aus dem Jackett und auch aus seinem Hemd, bevor Vincent voller Elan verkündete, sich selbst um seine Hosen kümmern zu können. Tat er auch, aber Thomas musste ihm dabei helfen, das Gleichgewicht zu halten, um nicht sofort wieder umzufallen.
      "Ich bin betrunken..." stellte Vincent fest, während er mehr oder weniger elegant in Thomas' Armen hing. "Schuldigung..."

      Trotz seines enormen Alkoholkonsums in der vorangegangenen Nacht, erwachte Vincent ohne Kater. Was seine Situation nur wenig verbesserte, denn er wachte noch immer vor seiner Zeit auf und musste sich mit Schweineblut zufriedengeben, während sein Haus voll mit Menschen war, die Vlad am liebsten alle geleert hätte wie Vincent gestern die Flasche Alkohol.
      Vincent gab sich zehn Minuten, um sich ein bisschen zu beschweren, dann riss er sich zusammen. Er warf sich das Hemd von gestern über und vergaß, die obersten paar Knöpfe zu schließen. Er schlüpfte in ein paar bequeme Salonhosen, die man eher nicht in Gesellschaft trug, um sein Outfit zu vervollständigen. Um seine Haare machte er sich überhaupt keine Gedanken. Sollten seine Locken doch fallen, wie es ihnen gefiel. Es war perfekt, um den verkaterten, exzentrischen aber zurückgezogen lebenden Lord zu spielen.
      "Tu mit einen Gefallen, ja?" bat er Thomas, bevor der das Schlafzimmer verließ.
      Sie hatten ausgemacht, dass sie zeitlich versetzt in der Gesellschaft auftauchten.
      "Sorg dafür, dass ich nicht einschlafe, ja? Es ist furchtbar anstrengend, nach einem Nickerchen wieder wach zu werden, anstatt nach einem verschlafenen Tag."

      Den Nachmittag verbrachte Vincent damit, seinen angeblichen Kater wegzutrinken. Er bediente sich an diversen Obstschalen, um sein juckendes Zahnfleisch zu beruhigen und stürzte sich in noch mehr Unterhaltungen, um Vlad ignorieren zu können. Er schnappte sich Nora irgendwann, entführte sie kurz von Ophelia und nahm sie mit in sein Arbeitszimmer.
      "Was soll das, Vincent? Die Leute werden reden."
      "Sollen sie doch. Als ob ich mir darum jemals Gedanken gemacht habe."
      Er huschte durch den Raum und präsentierte Nora gleich darauf eine große Kiste. Er grinste von Ohr zu Ohr, als er sie überreichte.
      "Vincent..."
      "Ruhe! Mach es erstmal auf, bevor du dich beschwerst."
      Nora schüttelte den Kopf, kam der Aufforderung aber nach. Sie öffnete die Schleife, dann hob sie den Deckel an. Ihre Augen wurden groß, als sie den Anzug betrachtete, den Vincent ihr für den Maskenball schenkte.
      "Ich habe dir doch gesagt, dass ich etwas anderes für heute besorgt habe," sagte er sanft.
      Nora stellte die Schachtel auf seinem Schreibtisch ab und hob das Jackett heraus. Der Anzug war von einem tiefen smaragdgrün und perfekt auf ihre Proportionen zugeschnitten, auf dass er nicht zu männlich aussah - trotz ihrer Abneigung gegenüber teuren Kleidern. Nora bevorzugte nun einmal praktische Klamotten und was war praktischer als Hosen? Das dazugehörige Hemd war tiefschwarz und ebenfalls figurbetont geschnitten. Das Bild wurde komplettiert von einer Maske, die keine Kreatur imitierte, sondern viel mehr das Herz eines dichten Waldes mit kleinen Ästen und Blättern. Diese Zeichen der Natur fanden sich auch in den kleinen Details des Outfits wieder: die Knöpfe des Jacketts waren kleine, goldene Blätter; das Hemd hatte ein kaum sichtbares muster, das nach Ranken einer unbekannten Pflanze aussah. Vincent hatte an alles gedacht.
      "Esther wartet darauf, dir die Haare zu machen," setzte Vincent nach. "Hau sie um, ja? Ich weiß, wie du tanzen kannst."
      "Vincent..."
      Nora ließ das Jackett fallen und warf ihre Arme um seinen Hals. Einen solchen Ausbruch an Emotionen war Vincent von der Frau nicht gewöhnt, weswegen er ihn nur noch mehr schätzte. Er erwiderte die Umarmung.

      Am Abend stellte sich Vincent die gleiche Frage, die er sich jedes Jahr in der vergangenen Dekade gestellt hatte: sollte er zuerst oder zuletzt auf seinem Maskenball auftauchen? Zuletzt, entschied Vincent, nachdem er letztes Jahr als erstes aufgetaucht war. Also ließ er sich ordentlich Zeit damit, sich fertig zu machen. Er warf sogar Thomas raus, bevor er überhaupt an seinen Anzug für den heutigen Abend dachte. Der Mann solle sich mit allen anderen Gästen im Ballsaal einfinden und die Überraschung genießen.
      Esther sagte ihm Bescheid, sobald alle Gäste im Ballsaal aufgetaucht waren. Sie alle schienen angeregt darüber zu tuscheln, wo denn Lord Harker abgeblieben war, was Vincent ein Grinsen entlockte.
      Er wartete noch weitere zehn Minuten, dann machte er sich auf den Weg.

      Die Flügeltüren des Ballsaals von Harker Heights wurden feierlich von Simon und Eric geöffnet, als der Herr des Hauses ankam. Dieses Jahr hatte sich Vincent für ein römisch-inspiriertes Kostüm entschieden: Sein Anzug war weiß und imitierte im Schnitt schon beinahe eine Toga. Er trug eine blutrote Schärpe über der rechten Schulter, die dort und an seiner linken Hüfte mit teuren, goldenen Broschen befestigt waren. Auf seinem Kopf ruhte ein güldener Lorbeerkranz. Die Maske, die Vincent trug, war perfekt in das Outfit eingearbeitet und deutete an, dass er Jupiter, der Anführer der römischen Götter war.
      Mit einem Lächeln auf den Lippen schritt er auf die kleine Bühne zu; die Masse der Anwesenden teilte sich von ganz allein vor ihm. Auch in dieser Nacht war er der König seines kleinen Reiches hier in Harker Heights.
      "Du siehst hinreißend aus, Steaua mea," raunte Vlad, der neben ihn auf der Bühne begrüßte. "Lass die kleinen Püppchen tanzen."
      Vincent wandte sich mit einem Lächeln bewaffnet um und breitete die Arme aus. Binnen weniger Sekunden kehrte Stille unter den Gästen ein.
      "Auf eine friedliche Nacht der Geister," verkündete er. "Trinkt! Tanzt! Vergnügt euch! Genießt das Leben, denn eines Tages ist es vorüber!"
      Er klatschte laut in die Hände. Im gleichen Augenblick, in dem er das Tat, erschallte die Glocke im Hof. Die Musiker schlichen hinter ihm auf die Bühne, während die Glocke läutete. Kurz darauf kehrte eine geradezu gespenstige Stille im Raum ein, die Vincent erlaubte. Er wartete auf etwas, das niemand sonst zu erkennen schien. Doch dann kam sie, die Brise, auf die er gewartet hatte. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie seine weniger lebendigen Gäste erschienen.
      "Feiert!" rief er und die Muskier begannen, zu spielen.
      Vincent sprang von der Bühne und mischte sich unter die Leute. Doch dieses Jahr suchte sich seinen Weg zielstrebiger als je zuvor. Er ignorierte das stolze Lächeln, das Vlad ihm von der Bühne aus zuwarf.









      *Ich bin doch nicht so interessant
      **Muss ich morgen da sein?
    • Neu

      Am Ende des Abends war Vincent absolut betrunken. Betrunken. Der Vampir hatte genug getrunken, um einen normalen Menschen umzubringen, oder zumindest ins Koma zu befördern, aber bei dem Vampir äußerte sich das nur in starker Betrunkenheit. Naja, "nur". Ein betrunkener Vincent hatte in etwa die motorischen Fähigkeiten einer alten Dame.
      Gemeinsam schafften sie es irgendwie ins Schlafzimmer und das auch noch, ohne einen Skandal dabei auszulösen - ein wahrer Balanceakt. In den sicheren vier Wänden dann, durfte Thomas wahrhaftig helfen, seinen Freund aus seinem wundervollen Anzug wieder auszuziehen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass Vincent diese Tat am Abend noch reizender klingen gelassen hatte, als sie jetzt war. Thomas musste ihn sekündlich festhalten, damit er nicht zur Seite wegschwankte.
      "Ich weiß gar nicht, was dich dazu geritten hat, dir eine Alkoholvergiftung zuzuziehen. Ich weiß, dass du keine hast, aber das werden alle anderen denken und als dein Leibarzt werde ich dich dementsprechend behandeln. Nun halt einmal still, Jesus Maria und Josef."
      Er half ihm aus dem Jackett, während Vincent ins Französische verfiel. Thomas hatte keine Ahnung, was er da vor sich hin brabbelte, aber er ahnte nichts zielführendes dabei.
      "Komm her, das Hemd musst du auch loswerden. Zerknitter das nicht so sehr. Hände weg und lass mich das machen. Wie hast du denn - Hände weg sag ich! Kriegst du die Hose selbst noch hin? Du bist mir ja ein schöner Lord, morgen Abend gibt's nichts zu trinken, hörst du?"
      Natürlich hörte er nicht, aber die Hose bekam er dafür schon hin. Ins Bad schleifte Thomas ihn auch noch und dann kringelte der Mann sich um seinen Oberkörper, als sie es sich im Bett bequem gemacht hatten. Thomas fummelte noch mit der Decke herum, als Vincent schon halb am Schlafen war. Schließlich gab er sich der Unordnung in ihren Laken seufzend geschlagen und ließ seinen Freund seine Brust als Kissen benutzen.
      Am nächsten Tag war sämtliche Mühe, Vincent dazu zu überzeugen, sich wenigstens halbwegs zurecht zu machen, völlig vergebens. Thomas war machtlos, als er den exzentrischen und eigentlich verkaterten Lord aus dem Schlafzimmer gehen sah. Nicht einmal die oberen Knöpfe hatte er ihm gestattet zu schließen.
      Dafür verlief der Tag eigentlich recht reibungslos, denn wenn Thomas einmal sichergestellt hatte, dass Vincent nicht im Stehen einnickte, versuchte er sich in die Gesellschaft einzufügen, um von dem Ausbleiben des verkaterten Lords abzulenken. Dabei durfte er sich natürlich sämtliche Gerüchte darüber anhören, dass Lord Harker ein Bordell führte, seine Angestellten umbrachte und heimlich Babyblut trank. Diesmal hatte er allerdings die Macht des offiziellen Leibarztes und konnte ganz wahrheitsgemäß verbreiten, dass Vincent kein Babyblut trank. Als er das Gerücht aber schon zum dritten Mal zu hören bekam, überlegte er sich, ob er es nicht einmal bestätigten sollte, nur um zu sehen, was dann geschehen würde. Er tat es nicht, denn im Gegensatz zu Vincent besaß er keine derartigen Freiheiten in der englischen Gesellschaft, um für solchen Klatsch herzuhalten. Thomas war eher der Typ, der viel lächelte und erst dann antwortete, wenn man ihn direkt ansprach.

      Am Abend dann schmissen sie sich in ihre Kostüme. Vincent hatte einen römischen Flair an sich, während Thomas einen Löwen darstellte. Dazu trug hauptsächlich ein brauner Anzug mit ausgefallener Weste bei, dessen Muster sich einige kreative Freiheit erlaubt hatte, und eine Maske, die eine blödsinnige Löwenmähne drangeklebt hatte. Allerdings war das Kostüm in dieser Fassung raffiniert, denn: Nicht einmal Thomas hätte sich selbst wiedererkannt. Ohne den Gehstock, den er weglassen würde, würde nur einer im Saal ihn ausmachen können. Und genau das war sein Ziel.
      Er ging als erstes herab, während Vincent noch oben wartete, um einen dramatischen Auftritt anzupeilen. Sogleich mischte er sich unter die Menge und versuchte, seinen nervösen Herzschlag zu beruhigen.
      Denn er war nervös, sehr nervös sogar. Der Saal kam ihm viel zu voll vor und die Leute viel zu dicht gedrängt. Vermutlich wäre es irgendwie einfacher gewesen, wenn Hallow's Eve kein solches Spektakel war. Ein bisschen verfluchte er Vincent dafür.
      Dann war der Moment gekommen und ein sehr stattlicher, eleganter Römer leitete die Festlichkeiten ein. Wie eine Zeremonie läuteten die Glocken und kurz darauf war Hallow's Eve angekommen mit all seiner Musik und seinem Lärm.
      Der Römer kam herabgesprungen und bahnte sich seinen Weg zum Löwen hindurch, der ihm bereits einen Drink organisiert hatte und nur für seine Ohren flüsterte, was für eine fantastische Einlage das war und wie sehr er ihn liebte. Sie tauschten eine kurze Berührung aus, aber nichts auffälliges. Thomas' Herz drohte, ihm aus der Brust zu springen.
      Im Verlauf der weiteren Nacht tanzte er mit drei unbekannten Damen, rein aus dem Grund, die Zeit schneller verstreichen zu lassen, und wurde als viertes von einer Dame zum Tanz aufgefordert, die ihn gänzlich in den Bann zog. Verona sah genauso aus wie letztes Jahr und amüsierte sich beim Tanzen ganz prächtig darüber, was mit Vlad geschehen war. Thomas fand das irgendwie unterhaltsam, besonders weil er genau wusste, dass Vincent mithörte.
      Die Nacht schritt voran und aus den vormals gesitteten Gästen wurden nach und nach weniger gehemmte, betrunkene Persönlichkeiten, die sich völlig dem Rausch des Festes hingaben. Da war ein Tanzpärchen auf der Tanzfläche, das sich schon bestimmt seit Stunden umeinander drehte und nie zu ermüden schien, angespornt von dem Zauber des 31. Oktobers. Da war ein ungleiches Paar auf einem der Bänke am Rand, die sich über die ganze Bank erstreckten, weil der Mann das Gesicht in den überstreckten Nacken seiner Partnerin gedrückt hatte. Er trug ein sehr stilvolles, künstlerisches Kostüm, das sehr an einen tiefen Wald erinnerte, während seine Frau aussah, als gehöre sie als Verkörperung einer historischen Person auf eine Bühne. Dafür entblößte sie ihm ihren Hals und schien in seinen Armen geradezu zu schmelzen.
      Thomas war nicht betrunken. Thomas war höchst nervös und versuchte es irgendwie vor Vincent zu verschleiern.
      Als er den Zeitpunkt für richtig hielt, entschuldigte er sich von seinem Freund und bahnte sich einen Weg zur Tanzfläche und von dort weiter zur Bühne. Er kletterte hinauf und einen Augenblick später wurde die Musik leiser und verstummte dann vollkommen.
      Esther sei Dank, die sich schon nahe der Bühne positioniert hatte und die Musiker angewiesen hatte. Thomas hatte sie eingeweiht als einzige Komplizin.
      Er wandte sich der unglaublichen Menge und dem Saal zu und räusperte sich verlegen. Sein Herz raste so schnell, dass es ihm in den Ohren schlug.
      "Meine Damen und Herren, dürfte ich Ihre Aufmerksamkeit bekommen!"
      Vincent ließ sowas immer so einfach und lässig aussehen, aber Thomas fühlte sich stocksteif, während er da oben stand und sich die Meute ihm nach und nach zuwandte. Sein Mund war ganz trocken und seine Handflächen schwitzig. Das hier war schlimmer als sämtliche Jagden zusammengenommen.
      "Ich muss ein paar Worte loswerden und ich möchte, dass Sie alle meine Zeugen sind. Nur ganz kurz."
      Der Lärm erstarb langsam. Das Paar auf der Tanzfläche hörte auf sich zu drehen und das Paar auf der Bank wandte ihm die Masken zu. Irgendwo dort unten stand ein allein gelassener, wenn auch nicht einsamer Römer.
      Der Löwe räusperte sich noch einmal.
      "Es gibt nicht viele Gelegenheiten, derartige Worte auszusprechen und ich fürchte, ich werde sie niemals wieder in einer derartigen Öffentlichkeit aussprechen können. Aber deswegen möchte ich es jetzt tun, denn diese Worte liegen mir sehr am Herzen."
      Wieder ein Räuspern.
      "Ich habe das Glück erfahren, vor einem Jahr eine ganz unglaubliche, herausragende Person kennengelernt zu haben und mich ihrer Gesellschaft erfreuen zu dürfen. Wir haben viel geschrieben und sind uns sehr schnell nähergekommen. Ich war fasziniert von ihrem Intellekt und ihrer unglaublichen Schönheit. Wir waren, wie jedes frischgebackene Paar, wie eine Klette zueinander."
      Manch einer lachte ganz höflich, aber nicht sehr laut.
      "Dabei wurde unsere Beziehung erst sehr viel später... offiziell und ich kann ehrlich behaupten, dass das die beste Entscheidung meines Lebens gewesen war. Wir hatten einige... schwierige Wochen und Monate, aber nichts, was wir erlebt haben, konnte uns jemals ganz auseinander reißen. Wir haben immer zueinander gefunden und auch, wenn wir vieles... anders hätten machen müssen, war es doch wichtig so. Und es war gut so. Denn jetzt weiß ich, mit ganzer Überzeugung..."
      Thomas straffte sich ein wenig. Als er weitersprach, vor Aufregung fast zitternd, war seine Stimme aber laut und deutlich.
      "... dass ich ihn liebe. Ich liebe diesen Mann."
      Unwilliges Gemurmel erhob sich. Der Löwe sprach lauter.
      "Ich liebe ihn und nichts auf der Welt kann mich davon abbringen. Es gibt keinen Menschen, den ich jemals", es wurde ein bisschen lauter, "mehr begehren könnte als ihn. Er ist meine Sonne und mein Engel, er ist alles, was ich mir je gewünscht hätte und noch viel mehr. Ich möchte nie wieder einen Tag ohne ihn verbringen. Er macht mich glücklich wie kein anderer und es fühlt sich so gut an, ihn zu lieben. Er ist der Grund, weshalb ich morgens aufstehe und abends zu Bett gehe. Nach ihm richte ich mein Leben, denn er ist ein Teil davon und soll es nie wieder nicht sein. Und deshalb bitte ich Sie, meine Damen und Herren, meine Zeugen zu sein, wenn ich sage..."
      Da griff er in die Innentasche seiner Weste und zog eine kleine Schatulle hervor. Er klappte sie zu einem schillernden Ring auf, der im Licht blitzen zu schien.
      "Dass ich ihn heiraten möchte. Und es wäre mein größtes Glück, wenn er mein Ehemann werden möchte."