Die Versammlung der Wenkhils fand im Steinsaal statt.
Trotz des marmornen Bodens und den dunklen Granitwänden, die sich hinter den Gemälden diverser vergangener Hausoberhäupter verbargen, rührte der Name nicht von der Verkleidung des Raumes her, sondern eigentlich von den hohen, thronähnlichen Sesseln, die in einem Kreis in der Mitte empor stachen und jeweils vorne und hinten über einen Satz Steinstufen zu erreichen waren. Die Ränder der Stühle bestanden aus unreinem Gold, das über die Jahre angefangen hatte Flecken zu werfen und die Farbe des Überzugs drohte bald auszubleichen, aber die Polster waren noch luftig und wenn am Morgen die Sonne auf der anderen Seite der Glasfront im Osten aufging, tauchte sie den Raum in ein einzigartiges, majestätisches Licht, bei dem sämtliche Sessel in all ihrer Pracht erstrahlten. Dann warfen ihre Lehnen lange Schatten in den Raum hinein, die wie die Geister vergangener Wenkhils in einem Kreis herum saßen und über die Zukunft ihrer Welt debattierten.Aber es war nicht Morgen, es schien auch nicht die Sonne und es wurde auch nicht über die Zukunft der Welt debattiert. Es war später Nachmittag, vor den Fenstern regnete es in Strömen und es wurde über die Zukunft des Hauses gestritten.
Nala Wenkhil, eine kräftig gebaute Frau mit breiten Schultern, einer breiten Brust, blonden, schulterlangen Haaren und stämmigen Armen, lehnte sich in ihrem Sessel nach vorne. Sie war das zweite Familienoberhaupt, beschäftigte sich mit der Verwaltung der Ländereien der Wenkhil und neigte dazu, allzu herrisch zu sein.
“Wir werden so nicht weitermachen wie bisher.”
Sie hatte eine kräftige Stimme, die es gewohnt war, dass man ihr anstandslos Folge leistete. Dazu passte auch ihre Haltung: Sie saß nach vorne gelehnt wie eine Raubkatze, die darauf lauerte zuzuschlagen, und versuchte dabei, jeden um sie herum mit ihrem Blick einzuschüchtern. Nalas Muster bestand aus einzelnen Schlangenlinien, die sich in unregelmäßigen Abständen um ihren Körper zogen und dazwischen manchmal Platz für glyphenähnliche Zeichen ließen, die so wirkten, als habe jemand auf ihren Körper geschrieben. Für diese besondere Art der Versammlung trug sie ein leichtes, langes Kleid, das vorne und hinten weit ausgeschnitten war und geradeso die wichtigsten Bereiche bedeckte. Ihr Muster hatte sie in stundenlangem Aufwand von der Dienerschaft mit goldener Farbe umrunden lassen und nun stach es unter dem leichten Stoff geradezu hervor.
Zu ihrer Linken saß Vathar, ihr Cousin aus dem zweiten Verwandtschaftsgrad, der genervt stöhnte. Er war ein Krieger durch und durch, hatte dicke, fleischige Hände und dazu passende, riesige Arme, die kaum Platz auf den schmalen Lehnen der Sessel fanden. Er saß in sich zusammengesunken, hatte die Beine gespreizt und stützte den Kopf auf seinen Pranken von Händen auf. Er trug eine maßgeschneiderte Weste, unter der sein Muster so wirkte, als würde es sich um die Weste schmiegen.
“Wir können uns aber nicht einfach mit den Sarif verbünden, da können sie noch so viele Versprechungen machen. Und die Marrils sind ebenso ausgeschlossen - entweder die Nethan oder keiner. Und da würde ich lieber die Nethan nehmen.”
Nala wandte sich ihm mit einem vernichtendem Blick zu, der ihn allerdings kaum beeindruckte. Nala war dafür bekannt, dass sie in ihrer Wut Familienmitglieder aus dem Anwesen schmiss, aber Vathar oblag die Führung ihrer Krieger und daher war er auch der einzige, der diese Situation ordentlich einschätzen konnte.
Idras saß den beiden schräg gegenüber. Es gab insgesamt acht Sessel, von denen allerdings zwei unbesetzt waren, und er hatte genau einen erwischt, bei dem die Glasfront der Ostseite fast im Rücken lag. Er hörte das Plätschern des Wassers hinter sich, konnte sich aber nicht danach umdrehen.
Diese “Situation” ging nun schon seit drei Wochen so. Im Norden war ein blutiger Krieg ausgebrochen, nachdem eine Kriegsmaschine der Menschen gefunden worden war und obwohl man sich noch nicht einmal davon erholt hatte, dass die Legenden über diese Maschinen der Wahrheit entsprachen, hatten doch alle damit angefangen, den Krieg zu planen. Dabei gab es nur eine Schwierigkeit: Es ging nicht mehr alle gegen die Menschen, sondern alle gegen alle, denn die Menschen hatten Verbündete und niemand war sich sicher, wer welche Seite ergreifen würde.
So auch nicht die Wenkhils.
“Die Nethan taugen zu nichts anderem als zu ihrem kleinen Steinbruch, den sie besitzen, Vathar”, fauchte Nala ihn an und lehnte sich dabei noch weiter vor, so als wolle sie ihn tatsächlich gleich anspringen.
“Wenn du nicht die letzten Wochen auf den Hügeln verbracht hättest, wüsstest du, was wir von ihnen halten!”
“Bist du wieder schwanger, Nala? Oder warum bist du so unglaublich beschränkt?”, knurrte er zurück.
Nalas Kopf drohte fast zu platzen, als sie sich aufrichtete und bereit zu sein schien, hier und jetzt mit Vathar über den Boden zu rollen. Ihr Cousin war fast doppelt so breit wie sie und Nalas Bauch war, nunja, tatsächlich ein bisschen runder geworden in letzter Zeit.
Idras setzte sich ein wenig auf und hob beschwichtigend die Hände.
“Jetzt ist's genug. War das wirklich notwendig, Vathar? Sie ist meine Schwester.”
Sein Cousin wandte sich ihm zu.
“Schwester? Nein. Ungeheuer? Das trifft's eher.”
Nala zischte ärgerlich und Idras stand auf, bevor Nala selbst aufspringen und Vathar vor der Versammlung aller des Saales verweisen würde.
“Wir machen eine Pause. Sind alle einverstanden?”
Die Versammelten brummten ihm zu, darunter Vathars Eltern und der schweigsame Khibrim, der auf Nalas anderer Seite saß. Idras' Schwager hatte zu der ganzen Sache nicht viel mehr beizutragen, als gelegentlich zu brummen und mit seinem wirren und wirbelndem Hautmuster wichtig auszusehen.
Nala und Vathar lieferten sich einen Kampf mit ihren Blicken ab, bei dem es so wirkte, als würde die Luft um sie herum anfangen zu knistern. Nur gut, dass sie die Übereinkunft getroffen hatten, in diesem Saal kein Wandeln einzusetzen. Vathars Eltern beobachteten sie dabei, aber ihre Mienen blieben unergründlich.
Idras schlug sich die Schleppe seines Umhangs aus dem Weg und stieg die Steinstufen dieses grotesk hohen Sessels hinab auf den Boden. Nur eine Sekunde später war die Solis Albus da, um ihm seinen Weinkelch zu bringen. Die Dienerschaft stand größtenteils an die Wand gedrängt, um schon seit Stunden auf das Ende der Besprechung zu warten und ihre Meister danach in Empfang zu nehmen. Die Diener waren das einzig verbliebene Wertvolle auf diesem von den Raschai verfluchten Anwesen.
Idras nahm den Wein nicht entgegen, sondern ging stattdessen in Begleitung von Eldyra zu der Fensterfront hinüber, von der aus er auf den Garten ein Stockwerk unter sich blicken konnte. Die Sträucher hatten wieder angefangen zu blühen und so sah es sogar unter dem Sturm, der im Moment über ihnen vorbeizog, recht idyllisch unten aus.
Jetzt nahm er sich doch den Kelch und leerte den Inhalt in einem Zug.
“Wenn wir einen Saal ohne Dach hätten, würden wir sicherlich nicht so lange herumsitzen”, brummte er verdrießlich und drehte sich halb zu Eldyra um, bevor er sie doch ansah. “Wie lange sind wir schon hier?”
Eldyra war eigentlich zu wertvoll, um stundenlang im Saal zu stehen und eine - selbst für Sklaven - niedrige Aufgabe zu verrichten. Eigentlich hätte Idras sie irgendwo eingeteilt, wo man sie sehen konnte, im Garten zum Beispiel oder wenigstens in der Küche, aber Vathar war vor drei Tagen von seinen wochenlangen Scharmützeln zurückgekehrt und es hatte bereits einen Vorfall in der Dienerschaft gegeben. Es war sogar die Köchin gewesen; Manchmal hatte Idras das Gefühl, dass Vathar sich absichtlich an Sklavinnen verging, von denen er wusste, dass sie teuer gewesen waren. Als hätte er einen Riecher für sowas.
Und Eldyra war sogar sehr teuer gewesen. Idras hatte eine lange Schimpftirade von Nala über sich ergehen lassen müssen, bis sie endlich einsehen wollte, dass die Solis Albus nicht nur als gewöhnliche Sklavin zu nutzen war, sondern als Verkörperung des verbliebenen Reichtums der Wenkhils galt. Bei ihrer geringen Familiengröße war es das einzige, was ihnen noch Achtung bei den anderen einbringen konnte.
Aber genau wegen diesem hohen Wert konnte er nicht riskieren, dass sie Vathar in die Hände fiel - also hatte er sie kurzerhand zu seinem persönlichen Dienst eingetragen. Er konnte es zwar nicht leiden, ständig jemanden um sich herum zu haben, aber es hatte auch seinen Vorteil: Heute morgen hatte sie ihm für die Versammlung seine langen Haare geflochten, sodass sie in Zöpfen auf das Zeichenmuster auf seinem Rücken fielen, und hatte dabei ausgezeichnete Arbeit geleistet. Allerdings konnte man das unter dem Umhang nicht mehr sehen, den er sich vor einer halben Stunde angezogen hatte.
Idras warf einen Blick auf die anderen, die erst langsam von ihren Sesseln herabstiegen, ehe er wieder auf Eldyra hinab sah.
"Wie geht's eigentlich der Köchin, Seria? Ich habe gestern doch nicht mehr nach ihr gesehen."
Er wollte etwas von seinem Kelch trinken, ehe ihm missmutig auffiel, dass er schon leer war.
@Countess
