Vessels [Asuna & Winterhauch]

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    • „Wir werden gehen, Ennis.“
      Sylea fühlte sich fast wie losgelöst von der Situation. Sie konnten nicht gehen. Draußen wartete ein Gewitter auf sie und sie hatten nichts bei sich, um sich der Naturgewalt entgegenzusetzen. Sie kannten nicht einmal genau die Umgebung, um zu wissen, wo sie als nächstes einen Unterschlupf finden konnten. Auf der anderen Seite würden sie hier verbleiben, wo Ennis sie mit diesen geweiteten Augen ansah und im Hintergrund ein Mädchen fröhlich umhertanzte, die die gesamte Situation gänzlich nicht begreifen konnte.
      Es war ein Dilemma.
      Tatsächlich rückte Ennis kaum merklich ein Stück weit von ihnen ab. Allerdings nur so spärlich, dass es dem Vessel vollends entging. Sie wurde von Cains Arm eingefangen, der sie an seine Seite zog und somit unmissverständlich klarmachte, dass er seinen Flüchtigkeitsfehler wieder gutmachen würde. Er sah sie an, eindringlich, so als würde sie das letzte Wort haben wie ihre Reise nun weitergehen würde. Doch Sylea fand keine Worte, fand keinen Entschluss.
      „Wie…“, Ennis‘ Stimme war gesenkt und er räusperte sich. „Wie hast du überlebt? Man sagte, dein Geist wäre innerhalb Sekunden gebrochen worden.“
      Etwas in Syleas Schläfe begann zu pochen, als sie den Blick von dem Seeker löste und sich schwerfällig wieder dem Jäger zuwandte. Ihre Zunge fühlte sich bleiern an, als sie sprach. „Ich weiß es nicht. Es war, als wäre ich eingeschlafen für sehr lange Zeit und als ich aufgewacht bin, war ich wie ein Zuschauer in meinem eigenen Körper.“
      „Das heißt, es existieren zwei Seelen gleichzeitig in dir?“ Seine Augenbrauen zogen sich langsam zusammen.
      Sylea nickte. „Ich höre ihn ständig in meinem Kopf. Die Verbindung hat sich über die Dauer etabliert und nun sehe ich teilweise auch seine Erinnerungen.“
      Ennis stieß einen langen Atemzug aus und lehnte sich etwas nach hinten. Er war noch immer steif in seinen Bewegungen, aber bei Weitem nicht mehr so angespannt wie zuvor. „Bis heute weiß niemand, wer damals beschworen wurde. Weißt du es?“
      „Ja, ich weiß grob, wer er ist und was er kann. Und deshalb darf weder der Rat noch die Regierung uns kriegen. Er ist dafür zu gefährlich und wir suchen nach einem Weg, wie wir ihn von mir trennen können. Denn aktuell ist er fest mit mir verbunden.“
      Ennis schwieg einen Moment. Scheinbar wusste auch er, dass es bisher nicht untergekommen war zu versuchen, eine Seele wieder aus einem Vessel zu lösen. In den meisten Fällen gab es dafür schlichtweg keinen Grund. „Wenn sie dich in die Finger kriegen, werden sie dem auf den Grund gehen, warum du eine weitere Seele halten kannst. Ich kenne niemanden, der so jung nicht zerbrochen ist.“
      Syleas Mundwinkel zuckten in dem müden Versuch eines Lächelns. Sanft schmiegte sie sich etwas näher an den Seeker an ihrer Seite und genoss die Wärme, die er ihr zuteilwerden ließ. „Es gibt Hinweise darauf, die ich nur bei den Rubras finden kann, um ihn loszuwerden. Entweder es klappt, oder wir sterben bei dem Versuch. Aber ein ständiges Leben in Angst und auf Flucht ist kein Leben.“
      Noch immer schwebte eine Vorsicht im Blick des alten Mannes, doch die anfängliche Angst war deutlich weniger geworden. Vermutlich, weil er noch nicht wusste, zu was Ascan imstande war, und weil er nur ein junges Pärchen vor sich sitzen saß. Ein Vessel, das die andere Seele scheinbar im Griff hatte. „Selbst wenn ihr jetzt geht und man hat eure Spur schon hierher nachverfolgt, dann kommen wir nicht so einfach davon. So ist das nun mal, wenn man die Rubras alarmiert. Sie haben nach deinem Verschwinden den kompletten Wald auf den Kopf gestellt ehe man dich gefunden hatte.“ Dein Blick glitt zu Cain. „Warst du auch derjenige, der sie damals gefunden hat oder wo habt ihr euch getroffen?“
    • Der Seeker behielt Ennis im Auge während Sylea zögerlich mit einer Erklärung begann. Die goldschimmernden Iris erweckte den Eindruck als pulsierte sie mit jeder gesprochenen Silbe. Cain wollte den Augenblick nicht verpassen, in dem die Passivität des alten Mannes ein Ende fand und der Argwohn überwog. Den Moment, in dem Ennis beschloss seine geliebte Enkelin, die einzige Erinnerung an seine verstorbene Tochter, mit allen Mitteln zu verteidigen. Wenn die Stimmung kippte, würde Cain nicht zögern. Er würde sich zwischen Sylea und allem werfen, das der Jäger auf die abfeuerte.
      Allerdings passierte im Laufe des Gespräches etwas, womit der Seeker nicht gerechnet hatte. Anstatt sie im Sturm ihrem Schicksal zu überlassen und die fremden Besucher geradewegs vor die Tür zu setzen, entspannte sich Ennis' Haltung. Vielleicht leiß sich der alte Mann wirklich von dem Bild eines verzweifelten und verliebten Pärchens blenden. Für Cain war es weiterhin beinahe unmöglich eine brauchbare Gefühlregung von Ennis zuerspüren. Wieso, das wusste er immerhin jetzt. Es änderte nichts daran, dass es ihn nervös machte. Die einzigartige Beschaffenheit von Ennis' Aura rief Cain einer selten gefühlte Hilflosigkeit ins Bewusstsein. Es war vergleichbar mit einem Menschen, der von einem auf den anderen Moment sein Augenlich oder Gehör verlor.
      "...um ihn loszuwerden. Entweder es klappt, oder wir sterben bei dem Versuch. Aber ein ständiges Leben in Angst und auf Flucht ist kein Leben.“
      Cain nickte schweigend.
      Sanft drückte er Syleas Arm, um ihr zu signalisieren, dass er nicht von ihrer Seite weichen würde. Den Entschluss mit ihr bis zum Ende zu gehen, wankte keine Sekunde lang. Ungebrochen und ungefiltert transportierte Cain diese Emotionen über die Verschmelzung ihrer Auren. Das geflochtene Band pulsierte mit Wärme und Zuspruch, der keiner hörbaren Worte bedurfte. Die Möglichkeit zu bei dem Vorhaben zu sterben, wurde mit den Stunden zunehmend wahrscheinlicher. Er würde vielleicht sterben. Auf die ein oder andere Art.
      Durch den Rubra-Clan, aus dem Wunsch heraus Sylea zu beschützen.
      Durch den Bund, der seine Existenz in Fetzen reißen und ihn unweigerlich mit den Abgrund ziehen würde, sollte Syleas Bewusstsein, ihre Seele, aufhören zu existieren. Die Gewissheit hatte etwas Beruhigendes an sich. Es war ein Punkt, um den er sich keinerlei Sorgen machen musste.
      Sein Blick huschte kurz in Richtung der Tür, hinter der sich das Zimmer von Mairead verbarg. Er horchte in die angespannte Ruhe der Hütte hinein. Das Mädchen hatte ihr Zimmer bisher nicht verlassen. Cains Aufmerksamkeit glitt zurück zu Ennis.
      "Ja, ich habe sie gefunden. Meine ehemalige Einheit und ich sind extra für diese Suche hierher gebracht worden", anwortete er. Seine Fingerspitzen wanderte träge über Syleas Oberarm. Er weigerte sich das Wort Jagd in dem Mund zu nehmen. "Mein Name ist Cain, dabei habe ich nicht gelogen. Cain Desraeli. Ich gehörte zu einer Eliteeinheit aus Seekern und Huntern, die zu diesem Zeitpunkt in Hollow Point stationiert war. Ich genoss den Ruf sehr... effeizient zu sein. Während Syleas Zeit in Hollow Point hatte ich den Befehl jede Auffälligkeit meinen Vorgesetzten zu melden, da ich von Beginn an sehr sensibel auf sie reagierte."
      Er erinnerte sich daran, wie er zu Beginn in Syleas Nähe kaum seinen Mageninhalt bei sich behalten konnte.
      Ascans Aura hatte ihm sichtlich zuschaffen gemacht. Entweder, er hatte sich daran gewöhnt oder der Seelendieb hielt sich zurück. In der wohl besten Erklärung hatte Sylea einfach eine beeindruckende Kontrolle entwickelt.
      "Als ich langsam dahinter kam, was der Rat und das Forschungsteam in Hollow Point mit ihr vorhatten, habe ich ihr zur Flucht verholfen."
      Cain brach für keine Sekunde den Blickkontakt zu Ennis.
      "Ich habe meine Gründe mich gegen die Befehle des Rates aufzulehnen und ich hatte sie lange bevor Sylea in mein Leben trat, aber sie gab mir erst den Mut dazu das Risiko einzugehen. Wenn uns im Herzen des Rubra-Clans das Ende erwartet, dann werde ich keine Sekunde zögern. Der Rat hat mir alles genommen. Ich habe nichts mehr, das danach auf mich wartet."
      Ein Lächeln verzog seine Munwinkel und er senkte den Blick zu Sylea herab.
      "Nicht ohne sie."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ganz leicht zogen sich Ennis‘ Augenbrauen zusammen als Cain seinen Ursprung enthüllte und ebenfalls gestand, dass sie im Hollow Point gewesen waren. Wenigstens der Name der Einrichtung schien dem alten Mann geläufig zu sein.
      „Als in Umlauf geriet, dass das Vessel aus der Kathedrale mit dem Bannkreis entkommen war, brach hier eine mittelschwere Panik aus. Ich habe noch nie so viele Ratsangehörige sowie Hunter auf einem Fleck gesehen. Mairead war richtig verstört, als sie die Horden in Schwarz das erste Mal gesehen hatte. Aber schon erstaunlich. Ich hätte damit gerechnet, dass du seine komplette Einheit in Stücke gerissen hättest.“ Er sah zu Sylea, die nicht glücklich, aber durch das verwobene Aurenband nicht mehr ganz so stocksteif dasaß.
      „Nicht einen“, sagte sie leise, doch ein Phantomschmerz pulsierte kurzweilig durch ihr Bein, als sie an Marcus zurückdachte. „Ich habe nicht einen von ihnen getötet. Ich wollte nur weg, das war alles.“
      „Ich habe nur hier und da was von Hollow Point mal gehört. Eigentlich nur wegen Philly, wenn man sie dort kurzweilig hinbrachte für… Experimente.“
      Experimente? Bei dem Wort fröstelte Sylea unweigerlich. Wenn sie nicht so schnell aus Hollow Point entkommen wären, hätte man sie wohl dem gleichen Schicksal unterzogen. Nicht zu wissen, was dort auf sie gewartet hätte, war die grausigste Vorstellung darunter. Solange war sie gar nicht dort gewesen um wirklich sagen zu können, was man mit ihr noch vorgehabt hätte. Allerdings wurde ihr erst recht eiskalt, als sie weiterhin Cains Worten lauschte und er ganz unverblümt mitteilte, dass es neben ihr nichts mehr auf Erden gab, was ihn hier am Leben hielt. Sie schoss ihm einen vielsagenden Blick zu.
      Ennis beobachtete, wie der Seeker seinen Blick auf das Mädchen an seiner Seite richtete und ein undefinierbarer Ausdruck erschien in seinem Gesicht. „Das war das Beste, was ihr hättet tun können. Aus Hollow Point abhauen. Wobei die Sicherheitsvorkehrungen dort massiv sind. Ihr könnt nicht dort heraus gekommen sein, ohne eine ganze-„
      „Was ist Hollow Point?“ Mairead kam aus ihrem Zimmer geschlendert, dieses Mal in einen weinroten langen Pyjama gekleidet. Ihre Haare hatte sie in einem Handtuchturm auf ihrem Kopf drapiert und schlenderte mit den bekannten Einhornpuschen zurück zum Tisch. „Klingt ein bisschen wie diese Freizeitparks.“
      Syleas Gesichtsausdruck entglitt ihr, doch Ennis behielt seine Fassung bei und winkte seiner Enkelin nur ab. „Ist ein Horrorpark, ja. Da bist du aber noch nicht alt genug für, du musst volljährig sein. Die Veranstalter übernehmen keine Garantie für Verletzungen.“
      Er sagte das so nüchtern, dass Mairead es gar nicht infrage stellte, sondern nur mit den Augen rollte. Dann sah sie zu Sylea und Cain und deutete mit einem Daumen auf das Bad. „Wollt ihr jetzt noch oder nicht?“
      Das genügte, damit Sylea endlich von ihrem Stuhl aufstand. Sie konnte nicht ewig weiter hier festsitzen, den Sturm ausharren und über grausige Zukunftspläne sinnieren. Nein, ein Bad wäre vermutlich eine willkommene Abwechselung nach allem, was passiert war. Für einen winzigen Moment flammte ein Blondschopf in ihrem Geiste auf, den sie in all dem Stress schon beinahe vergessen hatte und Schuldgefühle schlugen ihre Klauen in ihre Seele. Aber sie gab sich stark, fasste Cain beim Oberarm und zog ihn mit sich. „Klingt gut. Dann können wir uns den Wald wenigstens abwaschen.“
      Sie lächelte ein schmales Lächeln und verschwand dann mit Cain im Badezimmer. Hinter ihr schloss sie die Tür, verriegelte sie und atmete die feuchte, warme Luft ein. Es war sehr minimalistisch eingerichtet, mit einer einfachen Badewanne und Duschkopf an einer Handbrause. Ein kleines WC war in der Ecke und ihm gegenüber das Waschbecken, auf dem zwei Zahnputzbecher mit Bürsten standen. Sylea hielt ihre Hand noch immer auf der Klinke, während sie Jace aus ihren Gedanken verbannte. Ihn konnten sie nun nicht gebrauchen.
      „Sag mal, angenommen, es gibt einen Weg, wie einer von uns unbehelligt wieder aus den Hallen entkommen kann… und ich wollte, dass du es bist… würdest du gehen, wenn ich das wünsche?“
    • Die Lüge kam leichte über Syleas Lippen. Wenn Ennis Verdacht schöpfte, zeigte er es zumindest nicht. Cain erinnerte sich sehr gut an die verstörenden Geschehnisse und doch fühlte es sich an, als wären Ewigkeiten seit diesem Tag vergangen. Ein Erinnerungsfragment durchzuckte ihn. Die Erinnerung an Marcus, der sein Schwert eiskalt durch das Bein der flüchtenden Sylea gestoßen hatte, um sie aufzuhalten. Marcus...Cain erinnerte sich an die blutige Tat im Hell Gate und an das Grauen, dass der Babylonier an seiner Seite verbreitet hatte. Er sah sich selbst über dem Hunter knien, das Schwert gegen die Kehle gedrückt, wie die Erinnerungen eines Fremden, die nicht da sein sollten. Cain hatte Marcus kaltblütig ermordet. Er fühlte es nicht, aber er wusste es.
      Ebenso, wie er wusste, was die Forschungsabteilung in Hollow Point mit Sylea angestellt hätte. Die Experimente waren grausam und abscheulich. Diese sogenannten Ärzte und Wissenschaftler hätte billigend in Kauf genommen die unschuldige Seele eines Mädchens in der Luft zu zerfetzen, solange es ihnen genug Profit und Anerkennung einbrachte. In wie viele leere Augen hatte Cain geblickt, nachdem er seine Zielobjekte pflichtbewusst in die Hölle geworfen hatte? In Grausamkeit standen sich beide Orte in Nichts nach. Der Seeker war nie ein gläubiger Mensch gewesen. Er glaubte nicht, dass es eine Form von Himmel gab, aber er konnte die Koordinaten der Hölle auf einer Landkarte einzeichnen.
      Syleas eindringlicher Blick ließ ihn alle weiteren Worte herunterschlucken.
      Was Ennis auch gesehen hatte, welche Gedanken ihm durch den Kopf schossen, blieb ungesagt. Doch Cain ahnte, dass er zu viel offenbarte. Das Ziel ihrer Reise so nah zu wissen, machte es leicht, sich von seinen Gefühlen übermannen zu lassen. Zurück zu der emotionslosen, leeren Hülle, die er einmal gewesen war, wollte er dennoch nie wieder zurück. Er war sich nicht einmal sicher, ob er das überhaupt konnte.
      Es war Mairead, die das Gespräch unterbrach bevor Ennis die Umstände ihrer Flucht in Frage stellen könnte. Sie wären sicherlich in Erklärungsnot gekommen, wie genau sie dem geschulten Sicherheitspersonal und einer Einheit von Elite-Huntern entkommen waren. Dennoch viel es Cain schwer augenblicklich die Neutralität zurück in sein Gesicht zu holen. Er fühlte die Dunkelheit der Erinnerungen, die auf seinem Verstand lasteten. Marcus, Helyon, Farina, Jace, der Babylonier...Unter dem Tisch zuckte sein gebrochenes und gleichzeitig geflicktes Bein. Er hatte vergessen den Babylonier zu fragen, wie lange die Wirkung anhielt.
      Sowie Mairead ihre Unterhaltung zu einem plötzlichen Ende brachte, in dem sie im richtigen Augenblick aus ihrem Zimmer kam, bot sie ihnen nun unbewusst eine Möglichkeit für den Rückzug. Ennis' Fragen würden für eine Weile warten müssen. Widerstandlos ließ sich Cain auf die Beine ziehen und folgte Sylea in das kleine, zweckmäßige Bad.
      Die Frage, die Sylea ihm stellte, traf ihn wie der eiskalte Ostwind mitten ins Gesicht.
      Mit einem tiefen, langgezogenen Seufzen setzte sich Cain auf den geschlossenen Toilettendeckel und bedachte Sylea mit einem eindringlichen, zweifelnden Blick.
      Ist das dein Ernst?, schienen seine goldenen Augen zusagen.
      Stattdessen sagte er nur Eines.
      Schlich und einfach.
      "Und dann? Wohin soll ich ohne dich gehen?"
      “We all change, when you think about it.
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      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Mittlerweile war Syleas Übung, was das Erfühlen von Auren betraf, sehr ausgeprägt. Vermutlich hätte sie das eng geknüpfte Band zur Aura des Seekers gar nicht benötigt, um dessen Fassungslosigkeit zu spüren. Ungesehen presste das Mädchen ihre Lippen fest zusammen und widerstand dem Drang, sich umzudrehen und den Mann anzusehen, der sich dem Geräusch nach zu urteilen gerade auf den Toilettendeckel gesetzt hatte. Das Seufzen, das er lang hinauszog, ersetzte sämtliche Worte, die er hätte anbringen können. Am Ende erhob er schließlich doch seine Stimme und Sylea bereute, ihm diese Frage überhaupt gestellt zu haben. Sein Tonfall war sachlich, nahezu distanziert, was nur noch weiter unterstrich, wie sehr er allein dem Gedanken schon absagte. Für ihn bestand diese Möglichkeit erst gar nicht und darüber diskutieren wollte er schon gar nicht.
      „Ich weiß es nicht.“ Es brachte sie nicht weiter, sich etwaige Ziele und Orte aus den Fingern zu saugen, von denen sie eh nicht wusste, ob sie überhaupt lohnenswert waren. „Irgendwo hin. Weg von allem, was mit diesem ganzen Übernatürlichem zu tun hat. Weg davon, was bis jetzt dein Leben war.“
      Ihre Finger schlossen sich etwas fester um die metallene Klinke. Irgendwo tief in ihrem Inneren hatte sie gehofft, dass Cain dem ganzen Thema gegenüber nicht so abgeklärt war. Dass er nicht sein Leben an ihres knüpfte und ohne sie keinen Sinn mehr darin sah. Wenn sie schon nicht imstande war, ihre Seele von Ascan zu trennen, dann wollte sie nicht auch noch ihn mit in den endlosen Abgrund reißen, der sich bereits in einiger Entfernung vor ihr auftat.
      „Ich will nicht, dass du mich vergisst oder so. Du hast im Gegensatz zu mir immerhin die Möglichkeit auf ein Leben, weißt du? Wenn wir einen Weg finden, wie wir deine Aura von meiner trennen und ich dir eine Flucht ermöglichen kann, dann würde ich es tun. Ich würde wollen, dass du ein Leben lebst, das ich nicht haben kann. Ist das so verwerflich?“
      Langsam glitt ihre Hand von der Türklinke und baumelte seitlich an ihrem Körper hinab. Dann drehte sie sich um und ließ sich mit dem Rücken gegen die Tür fallen, um an ihr zu Boden zu rutschen und dort in der Hocke sitzen zu bleiben. Sie suchte Cains Blick, die Zweifel noch immer überdeutlich in den bernsteinfarbenen Iriden niedergeschrieben. Sie hatte ihn nicht. Noch nicht.
      „Wenn wir bei den Rubras einmarschieren, dann werde ich dort entweder fallen oder sie kriegen Ascan und mich in die Finger. Bevor das passiert will ich sicher sein, dass man dir nichts antut. Weil ich deine Achillesferse bin.“
      Ich will nicht sterben. Alles, was ich will, ist ein Leben wie das, was wir in der Wohnung gehabt hatten. Ich würde auch auf der Straße leben, wenn das der Preis ist. Ich bezahle mit allem, was ich besitze, wenn das möglich wäre.
      „Weißt du eigentlich, wie sehr es mir weh tut wenn du sagst, dass es ohne mich keinen Sinn in deinem Leben gibt?“, fragte sie mit einem bittersüßen Lächeln und sie merkte, wie ihre Augen brannten. „So gesehen habe ich dir doch schon dein Leben genommen. Warum ist es so verwerflich, dass ich es dir zurückgeben will?“
    • Verständnislos und verletzt bohrte sich sein Blick in den schmalen Rücken. Sylea drehte sich nicht um. Obwohl Cain das Chaos an Emotionen in Wellen deutlich spüren konnte, sehnte er sich danach, in ihr Gesicht blicken zu können. Die Augenblicke verstrichen und der Gefühlssturm verwandelte sich in ein konstantes Rauschen, wie die Wellen im Meer, die sich an der zurklüfteten Küste brachen. Der Seeker hielt der Brandung stand, stemmte sich gegen die Gefühle, die ihn zu überrollen drohten. Syleas Worte berührten und umschlossen sein Herz mit einer zarten Wärme und bohrten sich gleichzeitig schmerzhaft in seine Brust. Diesen ganzen langen, beschwerlichen Weg war der Seeker mit ihr gegangen. Sie hatten Dinge gesehen, die über den menschlichen Verstand hinausgingen. Sie hatten Verletzungen erlitten, deren Narben sie für den Rest ihres Lebens daran erinnerten. Neben all dem Grauen existierte dabei so viel Gutes. Simple Augenblicke eines anderen Lebens, dass sie hätten haben können. Cain reflektierte ein Bild von Sylea vor seinem geistigen Auge, mit zerzausten Haaren und müden Augen, die gegen den Anbruch des Tages kämpften. Das träge, sanfte Lächeln auf ihren Lippen während Cain ihr beim Aufwachen zusah. Er erinnerte sich an die wunderschönen und vor Überraschung weit augerissenen Augen, jedes Mal, sobald Sylea etwas Neues probierte und sich über die Erfahrung freute. Es gab so viel mehr, dass Cain ihr noch zeigen und ermöglichen wollte. Die Welt war so groß und sie hatte bisher so wenig davon gesehen. Da war all das zwischen ihnen und nun wollte Sylea ihn fortschicken?
      "...Ich würde wollen, dass du ein Leben lebst, das ich nicht haben kann. Ist das so verwerflich?"
      Cain schaffte es kaum dem Blick standzuhalten, obwohl er sich gewünscht hatte, dass Sylea ihn endlich ansah. Auf den Schmerz darin war er trotz allem nicht vorbereitet gewesen. Die Selbstlosigkeit erschütterte ihn. Die Wahrheit darin brach ihm das Herz. Die Zweifel bröckelten unter der schieren Größe und Tragweite des Schicksals, das drohend über ihren Köpfen hing. Das sprichwörtliche Damoklesschwert hing lediglich an einem seidenen Faden, der stetig dünner wurde.
      Der Seeker sah zu, wie Sylea langsam an der Tür herabrutschte und rührte sich selbst keinen Zentimeter.
      "...Weil ich deine Achillesferse bin."
      Und ich bin deine, dachte Cain und schluckte das Gegenargument herunter wie eine sehr, sehr bittere Pille. Der Rubra-Clan konnte ihn ebenso gut als Druckmittel gegen Sylea missbrauchen. Der Rat könnte ihn durch Hunter quer über den Globus hetzen, um Sylea zur Kooperation zuzwingen. Sie brauchten das Mädchen. Jedenfalls so lange, wie sie Ascan daran hinderte, die vollständige Kontrolle zu erlangen. Cain versiegelte diese Gedanken vor Sylea. Tief in seinem Inneren ahnte der Seeker, dass sie längst keine Kontrolle mehr besaß und Ascan ihnen diese Momente nur vergönnte, weil es gerade keinen anderen Nutzen für sie gab. Er wartete. Er lauerte. Sylea und Cain lebten mit geliehener Zeit, die ihnen nie gehören würde.
      Als Sylea verstummte, schien die Zeit für einen kurzen Augenblick still zustehen.
      Wie in Zeitlupe fühlte Cain, dass er langsam auf die Beine kam. Er fühlte sich seltsam getrennt von seinem Körper, während die Gedanken durch seinen Kopf rasten. Er ging zu der jungen Frau herüber, die an der Tür kauerte und ihn mit einem Lächeln ansah, dass ihm die Luft aus den Lungen drückte. Vorsichtig ging er in die Hocke, ignorierte das Ziepen in seinem Bein dabei, und suchte den Blick von Sylea. Die Ellbogen lagen locker auf seinen Knien, während er auf den Ballen balancierte, ohne dabei sichtlich zu schwanken. Die Hände präsentierte er Sylea offen und mit den Handflächen nach oben. Er überließ es ihr zu entscheiden, ob sie den Kontakt, die angebotene Berührung wollte oder nicht.
      "Du weißt es."
      Natürlich wusste sie es. Cain und Sylea hatten nie darüber gesprochen, dass sie wirklich sterben konnten. Mit oder ohne die Verschmelzung ihrer Auren. Es war einfach keine Zeit gewesen. Er hatte den Gedanken, dass Sylea tatsächlich sterben könnte - oder Schlimmeres - und ihn dabei mit sich nahm, weit von sich geschoben. Allein die Möglichkeit zerriss seine Seele beinahe ein zweites Mal. Nichts, das Ascan ihm jemals antun könnte, würde solche Schmerzen hervorbringen.
      Mit einem milden Protest schüttelte Cain den Kopf.
      "Mein Leben war längst vorbei, als meine Eltern entschieden, dass sie mich nicht mehr wollten. Die letzten Jahre, Sylea, das war kein Leben. Sie hatten mir doch schon alles weggenommen. Meine Schwester. Meine Freiheit. Meinen Willen. Meine Zukunft. Ich hätte im Dienst sterben sollen. Das Blind Eye hätte mich irgendwann in den Wahnsinn getrieben. Was für ein Leben wäre das gewesen?"
      Er sah sie an.
      Entschlossen.
      Ruhig.
      "Ich liebe dich."
      Verstehend.
      Ehrlich.
      "Du könntest mich darum bitten für dich zu sterben und ich würde bis zum bitteren Ende bei dir bleiben, aber du bittest darum, dass ich für dich lebe. Und ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich habe keine Ahnung, was ich mit dem Leben anfangen soll, das du mir schenken willst."
      “We all change, when you think about it.
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    • Jedes Wort und jede Silbe, die Sylea über die Lippen kamen, fühlten sich fremd an. Sie verstand den Sinn hinter jedem einzelnen von ihnen, aber zeitgleich wirkte es so, so weit weg. Als sie dem nichts weiter hinzufügte, sondern weiter angelehnt an der Tür hockte und Cain ansah, schien sie immer mehr den Bezug zum Hier und Jetzt zu verlieren. Die bernsteinfarbenen Augen, die ihren Blick jetzt erwiderten, waren nicht mehr voller Zweifel. Der Schmerz lag so tief in ihnen verwurzelt, dass sie nur sachte ihre silbrige Aura nach dem Geld ausstrecken musste und ihn sofort bleiern darin vorfand. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie hart ihre Worte geklungen hatten. Wie sie sich für jemanden anhören mussten, dem ebenfalls die Hände gebunden waren und sich damit auseinandersetzen musste, wie die Liebe seines Lebens sich mit ihrem Ende befasste.
      Syleas Kehle war staubtrocken, während eine kleine, klare Wasserperle sich ihren Weg über ihre Wange bahnte. Das Lächeln, das sie immer noch auf den Lippen hatte, erreichte ihre Augen nicht und wirkte wie eingebrannt auf ihrem Gesicht. Sie konnte es nicht lösen. Denn wenn sie es löste, brach damit nicht nur der Schein zusammen, dass sie völlig reflektiert an die Sache heran ging. Wenn sie es löste, dann würde eine ganze Schlammlawine abgehen.
      Dann erhob sich Cain und sie wünschte sich umgehend, so manch ein Wort doch ungesagt machen zu können. Sein Gesicht trug außerordentlich wenig Emotion mit sich, sodass sie nur wortlos zu ihm aufsehen konnte und einfach nur hoffte, dass er sie nicht bat, beiseite zu gehen, um ihm die Tür freizumachen. Ihr Herz wurde schnell, immer schneller, als ihr die Möglichkeit siedend heiß einfiel, dass er sie jetzt auf der Stelle verlassen können würde. Wenn er ihre Worte so deutlich in die Waagschale legen würde.
      Das Lächeln begann zu wackeln. Ihre Lippen begannen zu zittern, als sie sich trennten, um Worte zu formulieren. Doch das Mädchen blieb stumm, auch dann noch, als sich der Seeker vor ihr in die Hocke begab und ihr die offenen Handflächen präsentierte. Die sie nicht annahm.
      „Du weißt es.“
      Was weiß ich? Wie es enden kann? Wie es mit uns beiden enden kann? Was passieren wird, wenn mein oder dein Herz aufhört zu schlagen? Was mit UNSEREN Seelen passieren wird?
      Ihre Worte blieben unausgesprochen, jedoch nickte Sylea kaum merklich. Ohne Ascan würde sie noch immer im Dunkeln tappen, aber durch seine Erinnerungen, durch sein Wissen, hatte sie Lücken schließen können, die ihr erst gar nicht aufgefallen war. Vielleicht war sogar sie diejenige, die am Besten wusste, was der Tod mit sich brachte. Nicht vielleicht. Sicherlich war sie diejenige. Der Schmerz, der den Seeker ein weiteres Mal wie ein gleißendes Licht durchfuhr, erreichte fast im selben Moment Sylea, die nach Luft schnappen musste. Ihr Silber hatte sich in sein Gold vergraben, eine schillernde verwobene Decke hatte sich um sie beide ohne ihr Zutun gelegt.
      So viele Worte schlugen ihr entgegen, von denen sie jedes einzelne hatte entkräften wollen. Sein Leben war nicht vorbei, als ihn seine Eltern weggegeben hatten. Sein Ziel war Cordelia gewesen, er hatte eine Motivation gehabt und war doch nur in falsche Hände gefallen. Man hatte ihn zu etwas gemacht, was er nicht war und doch durch sie einen Weg aus diesem Trott hinausgefunden. Er hatte sich selbst gewandelt und losgeeist, selbst von dem Blind Eye, das ihn gefügig hätte machen sollen. Wäre Sylea nicht gewesen, dann hätte er nie erfahren, dass Cordelia längst tot war. Dann wäre jemand anderes in sein Leben getreten und hätte ihm dabei geholfen, eigenmächtig von der Droge wegzukommen. Das wäre sein Schicksal gewesen.
      Ihres hingegen wäre der Tod mit nur acht Jahren gewesen.
      „Ich liebe dich.“
      Nun begann Sylea mit dem Kopf zu schütteln. Erst leicht, dann immer bestimmter. Das Lächeln wurde breiter, zog sich an den Mundwinkel nach unten und brach schließlich vollständig ein. Was ein kontrollierter Atemzug werden sollte, wurde zu einem Stottern, als sich doch noch Worte lösten: „I…ich versteh... das ni… nicht.“
      Sie verstand die Konsequenzen ihres Handelns. Sie verstand die Wahrscheinlichkeit ihres Todes mit dem Eintreten in die Hallen der Rubras. Sie verstand, dass sie unweigerlich mit Ascan und Cain verbunden war, ob sie wollte oder nicht. Aber sie verstand nicht, wie ein einfaches, nicht greifbares Gefühl so stark sein sollte, dass man sein eigenes Leben dafür in die Flammen warf. Wie man für einen anderen Menschen einfach alles, was einen ausmachte, opfern konnte. Sie verstand nicht, wie es sie selbst so zerreißen konnte, der Liebe ihres Lebens zu sagen, dass er ohne sie existieren sollte.
      „Darf ich nicht einen einzigen Wunsch haben, Cain?“, fragte sie und gab sich die größtmögliche Mühe, damit ihre Stimme nicht brach. „Ich will eine einzige, gute Sache in meinem Leben getan haben. Und das bist du.“
      Es gab nicht die Option, ihn getrennt von ihr zu retten. Es gab keinen Weg, wie man den Pfad, den sie gemeinsamen eingeschlagen waren, aufteilen sollte. Ohne es zu wissen hatte Sylea Cain den Sinn in seinem Leben gegeben und war zu seinem Leuchtfeuer in einer dunklen, ewigen Nacht geworden. Er würde sich bis zum letzten Funken an eben jene Fackel klammern, ehe die Dunkelheit ihn vollständig verschlang. Diese Erkenntnis, die sich ihr bis ins Mark und Bein setzte, schlug erst jetzt richtig bei dem Mädchen ein. Sie hatte nicht nur sich, sondern auch ihn dem Tode geweiht. Sylea ergriff keine von Cains geöffneten Händen. Sie warf sich ihm mit ihrem ganzen Körper entgegen, krallte die Finger in sein Shirt und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er fiel nach hinten mit ihr über, aber das störte niemanden von ihnen.
      Und dann ließ sie das Stoffband, dass die Scherben ihrer Selbst gehalten hatten, einfach locker und beweinte das Schicksal, das man ihnen aufgezwängt hatte. Das Leben, das man ihnen nicht gegönnt hatte. Die Liebe, die sich fatalerweise zwischen ihnen entfaltet hatte. Jace, den sie einfach in den Abgrund gerissen hatten. Und die Zukunft, obwohl sie gar keine Zukunft hatten.
    • Das Nicken glich einem endgültigen Urteilsspruch. Um diesem Dilemma zu entkommen, gab es nur eine Lösung. Während Sylea langsam nickte, schüttelte Cain gleichzeitig den Kopf. Über das zuvor beinahe emotionslose Gesicht huschten binnen des Bruchteils von Sekunden die unterschiedlichsten Gefühle: Trotz, Unverständnis, Widerstand, Hoffnungslosigkeit.
      Selbst der Grimm in seiner Brust besaß genug Anstand die missliche Lage nicht auszunutzen, um seinen unstillbaren Hunger zu lindern. Die Fülle an Emotionen musste ein verführerisches Bankett für ihn darstellen, aber der finstere Schatten verkam zur einem monotonen Brummen unter seinen Rippen. Vielleicht schmeckte ihm Verzweiflung und Trauer nicht mehr so gut, seit er einmal von Lust und Glückseligkeit gekostet hatte.
      Cain beobachtete das Zittern ihrer Unterlippe, das hektische Blinzeln der Augenlider und wie ihre hübschen, braungrauen Augen sich langsam aber stetig mit Tränen füllten. Sie lächelte dagegen an. Es war kein ehrliches Lächeln, nur der verzweifelte Versuch die Fassung noch ein wenig länger behalten. Sylea schüttelte vehement den Kopf. Dem Seeker zerriss der Anblick das Herz, nicht der Umstand, dass sie die Worte nicht erwiderte. Das war auch an diesem Punkt gar nicht mehr notwendig.
      „I…ich versteh... das ni… nicht.“
      "Ich denke das tut niemand wirklich", antwortete Cain.
      Liebe hatte nichts mit Logik gemein. Ebenso wenig war Liebe ausschlielich bedingungslos, leidenschaftlich oder gar rein. Liebe war grausam, rachsüchtig und trieb Menschen in den Wahnsinn, wenn sie nicht aufpassten. Eigentlich, dachte Cain, ist Liebe ein einzieges, riesiges Meer aus Chaos, in das sich Menschen stürzten und einfach hofften, dass sie es lebendig und ohne Blessuren ans andere Ufer schafften. Dennoch verzehrten sich die Menschen nach der Liebe. Auf ein hohes Podest gestellt, war sie alles, was sie sich wünschten und begehrten. Geliebt zu werden, selbst lieben zu können. Dabei hatte Jace diese Liebe gar nichts genützt. Ascan und Estryreh ebenso wenig, falls es dort jemals ein Gefühl dieser Art gegeben hatte. Cains Liebe hatte seine Schwester nicht retten können. Sylea würde sie auch nicht retten.
      Trotzdem. Cain wusste, ohne jeglichen Zweifel, dass er diesen Weg nicht bereute. Sylea mochte ihn gebunden haben, aber es war sein freier Wille gewesen ihr zufolgen, lange bevor das Band geknüpft worden war.
      Zu einer Antwort bekam der Seeker keine Chance.
      Das Nächste, das Cain spürte, war ein Ruck der durch seinen Bruskorb fuhr. Sylea ignorierte seine Hände. Stattdessen flog ihm das Vessel förmlich in die Arme. Reflexartig schlang Cain die Arme um den bebenden Körper und besaß die Geistesgegenwärtigkeit eine Hand schützend an ihren Hinterkopf zu legen, damit sie nirgends anstieß. Dabei war es sein Kopf, der Bekanntschaft mit den kühlen Badezimmerfließen machte. Ein kurzer Schmerz durchzuckte seinen Schädel, aber da fokussierte sich seine ganze Existenz bereits auf das Mädchen in seinen Armen. Heiße Tränen sickerten durch den dünnen Stoff seines Shirts. Cain blieb einfach liegen, drückte Sylea an sich während stille Schluchzer ihren Körper durchschüttelten. Er hob den Kopf ein wenig an und vergrub das Gesicht in dem braunen Haarschopf, atmete den vertrauten Duft ein und mit einem langen Ausatmen fiel die Kontrolle von ihm ab. Gold öffnete sich bereitwillig für Silber und machte sich verwundbar. Cain fühlte Sylea, ganz und gar.
      Und der Grimm blieb still als der Seeker die ersten Tränen spürte, die sich aus seinen eigenen Augenwinkeln lösten und über die Schläfen hinabperlten bis sie im beinahe schwarzen Haaransatz versickerten. Cain weinte still, weil er es nicht anders gelernt hatte. Lediglich seine Aura überschlug sich in einem Wirbel aus Gold und Silber.
      Seine Stimme war dünn, ein Flüstern an Syleas Ohr.
      "Ich hätte dir alles gegeben. Bis nichts mehr von mir übrig ist", murmelte Cain niedergeschlagen, fast resignierend.
      Er drehte den Kopf leicht zur Seite und drückte seine Lippen gegen den Puls hinter ihrem Ohr.
      "Wenn es das ist, was du wirklich willst, reicht ein Wort und ich gehe, aber sollte die geringste Chance bestehen, dass wir es gemeinsam schaffen können, wird mich nichts auf dieser Welt dazu bringen, dich zurückzulassen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Cut my life into pieces
      This is my last resort
      Suffocation, no breathing
      Don’t give a fuck if I cut my arm bleeding
      This is my last resort


      Der Augenblick, in dem Sylea den Halt in der Realität verlor, war fließend gewesen. Von dem Augenblick der Einsamkeit allein an der Tür hin zu der Gemeinsamkeit an Cains warmer Brust war für sie nicht einmal Sekunden vergangen. Ebenso wenig wusste sie, wie lange sie auf dem jungen Mann gelegen hatte und bittere Tränen vergossen hatten, die irgendwo aus den dunkelsten Untiefen ihrer Seele kamen. Nur ihr eigenes Schluchzen reichte bis zu ihren Ohren, selbst die zweite Stimme in ihrem Kopf war gnadenloser Stille gewichen.
      Dafür fühlte sie umso stärker, wie sich Cains Aura vollkommen für ihren Silberstreif öffnete. Es fühlte sich an, als bekäme sie schlagartig eine weitere Lunge, mit der sie nach Luft ringen konnte und zeitgleich legte sich ein Stein auf ihr Herz, der ihrem eigenen Konkurrenz machte. Der Schmerz, ihr höchstpersönlicher Schmerz, wog so schwer, dass sie dachte, nichts würde sie so schnell daraus hervorholen, doch das Gefühl seitens des Seekers mischte sich mit ihrem und ließ ihre Schluchzer nur noch tiefer werden. Er bedauerte nicht den Umstand, dass sein Leben mit ihrem praktisch verwirkt war. Er bedauerte, dass er endlich etwas gefunden hatte, was ihm die Welt bedeutete und nun gezwungen wurde, es früher als gewollt aus den Händen zu geben. Dass ihm die Zeit genommen wurde, die er nun zu gern eingefordert hätte. Sylea hörte nicht, dass Cain ebenfalls weinte. Aber sie spürte das Stocken seiner Atmung, wenn er doch einmal nicht gegen die Gefühle ankämpfen konnte.

      Vor der Tür senkte sich eine erhobene, kleine Hand. Zwei weitere Handtücher klemmten unter jeweils einer Achsel Maireads, die eigentlich nur anklopfen und mitteilen wollte, dass sie die Handtücher vor der Tür ablegen würde. Ganz im Gegensatz zu ihrer üblichen Art war das Mädchen still geworden mit einem betretenen Ausdruck auf dem Gesicht. Leise konnte man das andere Mädchen auf der gegenüberliegenden Seite der Tür weinen hören und es klang so bitterlich, dass es selbst Mairead traf. Wortlos legte sie die Handtücher ordentlich gefaltet vor der Tür auf den Boden und wandte sich ab. Das war nicht ihre Zeit.


      'Cause I’m losing my sight, losing my mind
      Wish somebody would tell me I’m finde
      Losing my sight, losing my mind
      Wish somebody would tell me I’m fine


      „Ich hätte dir alles gegeben. Bis nichts mehr von mir übrig ist.“
      Ein Geräusch, das sich wie eine Mischung aus Schluchzer und Würgen anhörte, entkam Sylea. Das wollte sie nicht hören, nicht fühlen, wie seine Aura mit jedem Partikel die Wahrheit in ihren Körper sandte. Es war ein unumstößlicher Fakt und die Gewissheit, dass dieser Mensch alles, was er war, nur für sie allein opfern würde, war ein solches Zugeständnis, dass sie es nicht begreifen konnte. Ihr Körper schüttelte sich nur noch, als keine Tränen mehr kommen wollten, und ihr Kopf war so heiß, dass sie Cains Lippen gar nicht spürte. Seine weiteren Worte setzten etwas in dem Mädchen in Gang, sodass sie ihre Atmung zwar noch nicht wieder vollends unter Kontrolle hatte, allerdings die Kraft mustern konnte, sich mit den Händen von den kalten Fliesen aufzudrücken und ihre Körper voneinander zu trennen. Das Haar hing ihr in unordentlichen Strähnen vom Scheitel herab, als sie mit feuerroten Augen den Seeker betrachtete. Prompt stockte ihr Atem ein weiteres Mal als sie sah, dass auch er geweint hatte. Nicht nur ein, zwei Tränchen. Mehr.
      „Dann“, sie räusperte sich aufgrund ihrer kratzigen Stimme, „gehen wir zusammen. In die eine, oder die andere Richtung.“
      Ihre silberne Aura schlang sich um sein Gold, so als wolle sie ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Schwerfällig setzte sie sich nach hinten auf ihren Hosenboden, packte über Kreuz den Saum ihres Oberteils und zog ihn sich über den Kopf. Das hier war immer noch ein Badezimmer und keine Schandkammer. Ein kurzer Zusammenbruch war verkraftbar, und langsam merkte sie, dass ihr das Atmen wieder leichter fiel. Sie warf ihr Oberteil zur Seite ehe sie die kalten Finger ohne zu zögern unter Cains Oberteil am Bauch schob.
      „Waschen“, bekräftigte Sylea ihr Vorhaben und machte sich daran, ihren Partner von seinen Klamotten zu befreien. Hin und wieder schniefte sie noch, die letzten Zeugen der vergangenen Minuten.
    • Cain hielt Sylea fest bis er den seichten Druck gegen seinen Halt spürte. Träge rutschten der Arm von ihrem Rücken und die Hand aus ihrem zerzausten Haarschopf, aber noch war er nicht gewillt, sie vollkommen freizugeben. Seine Händen fielen auf ihre Schultern und mit jedem Stückchen, das Sylea sich aufrichtete, rutschten sie ein wenig tiefer. Zunächst über die Oberarme bis zu den Ellbogen, dann bis zu ihren schmalen Handgelenken. Cain spürte den holprigen Pulsschlag unter seinen Fingerspitzen, der sich von Minute zu Minute mehr beruhigte. Für einen kurzen Augenblick schloss der Seeker die Augen, spürte das heiße Brennen unter seinen Lidern und eine warme Aura, Syleas Silber, die ihn einhüllte. Erst als der Goldschimmer sich beruhigte und sich sein Brustkorb nicht länger ruckartig bei jedem Atemzug anhob, gab Cain ihre Hände widerwillig frei. Es war der Moment, in dem der Seeker wieder mehr Vertrauen in seine brüchige, kratzige Stimme legte. Er nickte.
      "Zusammen", wiederholte er flüsternd.
      Ein Überbleibsel der aufgewühlten Aura strömte in Form eines goldenen Nebels aus seinen Augenwinkeln, als Cain die Augen öffnete. Er rieb sich über die bereits geröteten Augen, ein Drang mehr verursacht durch das Salz der Tränen. Der Seeker konnte den Nebelartigen Strom seiner Aura nicht sehen. Er spürte wie der Druck nachließ, der dafür sorgte, dass sich seine Körper zu klein für all die Emotionen anfühlte. Als Sylea das Oberteil über ihren Kopf zog, zwang Cain das Leben zurück in seine Arme und Beine. Er stützte sich auf den Ellbogen auf bevor er sich aufsetzte. Sein Blick folgte dem Kleidungsstück, das Sylea achtlos wegwarf, bis er zurück zu der jungen Frau schnappte. Kühle Fingerspitzen schoben sich über seinen Bauch und ließen Cain scharf die Luft einziehen. Der Kontrast zu der Hitze seiner Haut war ein kleiner Schock. Offensichtlich ein Schock, den er dringend gebracht hatte, denn endlich kam mehr Bewegung in den Seeker.
      Das Badezimmer blieb still, lediglich gefüllt von ihren Atemzügen und einem gelegentlichen Schniefen von Sylea. Cain hatte zuerst sich selbst und dann Sylea wieder auf die Füße gezogen. Während sie ein Kleidungsstück nach dem Anderen von seinem Körper streifte, ruhte sein Blick auf ihr. Er prägte sich all die kleinen Details ein: Lange, dunkle Wimpern, die einen fächerähnlichen Schatten über ihre Wangenknochen warfen. Die feinen, unterschiedlichen Nuancen von Braun in ihren Haaren, die geradeso mit den Spitzen über ihre Schultern streiften. Den konzentrierten Zug um ihre Mundwinkel, als die Gürtelschnalle nicht sofort nachgab. Den Schwung ihrer Lippen, die zarte Kurve ihrer Nase, jedes Winkel, jedes Details ihrer Haut, jede einzelne Sommersprosse...
      Nach und nach gesellten sich Stiefel, Socken, Hose und all die Schichten aus wärmender Kleidung zu dem kleinen Stapel, der sich auf den Fließen bildete. Geduldig ließ er sich von Sylea ausziehen und trat ein Stück an sie heran, um dasselbe für sie zu tun. Überall dort, wo seine Hände über ihre Haut glitten, nahmen sie Kleidungsstücke mit sich. Als sich seine Hände an den Hosenbund legten, ging Cain vor ihr auf die Knie. Anstatt ihr die Hose von den Hüften zu schieb, fielen seine Hände tiefer. Sanft aber mit sicherem Griff umfasste er zunächst ihren rechten Fuß, dann den linken Fuß. Er befreite sie von den schweren Trekkingstiefeln und von den dicken Wollsocken.
      Durch die dunklen Strähnen blinzelte er zu Sylea auf ehe er die Hände an ihre Hüften legte, und die Prozedur mit ihrer Hose wiederholte. Er half ihr aus den Hosenbeinen. Erst rechts, dann links. Cain drückte die Handflächen gegen die etwas zu kühle Haut, wahrscheinlich vom langen Marsch durch die kalten, feuchten Wälder, und fuhr an der Außenseite über die gesamte Länge ihrer Beine nach oben bis er seine Finger in den Bund ihrer Unterwäsche hakte. Das Spiel wiederholte sich ein letztes Mal.
      Der Seeker speicherte alles im Gedächtnis ab.
      Die Wölbungen ihres Körpers, das Gefühl ihrer Haut unter den Fingerspitzen, die zarten Erhebungen von Narben und Muttermalen, die Art wie sich eine Gänsehaut bildete, das unwillkürliche Zucken der Muskeln sobald er eine besonders empfindliche Stelle berührte. In den Berührungen und seinen Augen lagen keine Erwartungen. Er wusste, dass sie nichts allein waren. Darum ging es dem Seeker auch keine Sekunde lang und ihre Gastgeber würden diese kostbaren Minuten erübrigen können. Cain berührte Sylea und sah sie an, als wäre es das erste und gleichzeitig das letzte Mal.
      All ihre Facetten brannten sich in seine Erinnerungen ein.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Es glich beinahe einem Ritus, wie Sylea Cain entkleidete und er dasselbe bei ihr tat. Keiner von ihnen sagte etwas, Worte waren in diesem Augenblick nicht von Nöten. Sie besaßen nicht mehr die Leichtfertigkeit wie damals, als sie die vorbereitete Wohnung übernommen und sich kurzzeitig entspannen konnten. Bitterkeit war nun ihr konstanter Begleiter, aber sie weigerten sich, sie als solchen zu akzeptieren. Und so beobachtete das Mädchen den Seeker dabei, wie er ihrem Körper huldigte, jeden Zentimeter gedanklich festhielt und sie von ihren stofflichen Hüllen befreite. Wenn sie ihre Aura nach ihm ausstreckte, fühlte sie nicht die hemmungslose Lust wie im Wohnzimmer, bevor sie den Tisch ruiniert hatten. Da war nichts von dem Verlangen, das seine Augen in Form von Bernstein zum Glühen brachte. Trotzdem verschlug es ihr eine Sekunde lang den Atem, als er von unten herab zu ihr herauf blickte und etwas Anderes in seinem Blick lag. Noch immer schämte sie sich nicht, dass sie nackt vor ihm stand, sein Gesicht auf einer durchaus pikanten Höhe ihres Körpers. Wie von allein fanden ihre Finger sein weiches, dunkles Haar, wo sie zwischen Haarsträhnen verschwanden und sanft über seine Kopfhaut strichen.
      „Warum siehst du mich so an?“, fragte sie leise und legte den Kopf ein wenig schräg. „Sonst tust du es anders.“
      Sylea folgte Cains Beispiel und ging vor ihm in die Hocke. Ihre Hände glitten aus seinem Haar über seine Wangen hinab, wo noch leichte Salzkrusten davon zeugten, dass auch ihm die Tränen gekommen waren. Ihre Augen sprangen zwischen seinen hin und her, ehe sie sich zu ihm beugte und ihm sanft die Lippen auflegte. Zeitgleich fuhr das Silber tiefer in das Gold seiner Aura hinein, fand winzige Lücken und füllte sie auf. Machte aus Zwei Eins.
      „Meinst du, dass du mich ganz ohne Hintergedanken waschen kannst?“, neckte sie seine Lippen zwischen zwei sanften Küssen und ließ ihre Hände tiefer wandern, bis sie auf seiner Brust zum Halten kamen. Unter ihrer rechten Hand spürte sie seinen Herzschlag, gleichmäßig und kräftig. „Unsere beiden ungewollten Gäste sind auffällig ruhig, findest du nicht?“
      Seit den wenigen Malen, in denen sich Ascan zu Wort gemeldet hatte, war einiges an Zeit verstrichen, in der eine geruhsame Stille in ihrem Geist vorherrschte. Als hätte er sich zurückgezogen, um über etwas anderes nachzudenken. Ebenfalls fand sie den schwarzen Schatten in Cains Aura nur noch dezent vor, so als wäre auch der Grimm entweder mit anderen Dingen beschäftigt oder einfach nicht sonderlich aktiv. Eigentlich hätte ihn die Trauer genauso hart treffen müssen wie das Gefühl der Freude oder der Liebe. Vielleicht war er mittlerweile einfach im Stande, zu unterscheiden. Einen Geschmack zu entwickeln.
    • Ein zufriedenes Brummen ertönte in seinem Brustkorb. Ein sanftes, grollendes Echo mischte sich in der Klang tief hinter seinen Rippenbögen und bevor Cain flatternd die Augenlider senkte, mischten sich dezente Tupfen von Schwarz in das glühende Bernstein seiner Iris. Ganz von allein drückte sich Cain gegen den behutsamen Zug an seinem Haarschopf und den Fingerspitzen entgegen, die zart über seine Kopfhaut fuhren. Unter der Berührung sackten seine Schultern ein winziges Stück nach unten, die Muskeln darin zuckten und entspannten sich allmählich. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als Syleas geflüsterte Worte seine Ohren erreichten.
      "Ich möchte, dass sich die Erinnerung an dich in mein Gedächtnis einbrennt, damit sie mir niemand mehr wegnehmen kann. Egal, wie das hier ausgeht. Das wird mir niemand wegnehmen können."
      Cain spürte eine Veränderung in der Luft. Behutsam streichelten Fingerspitzen über seine Wangen, tanzten über die Tränenspuren auf seiner Haut. Der Seeker blinzelte und entdeckte Syleas Gesicht, das vor seinem schwebte. Sie hatte sich auf seine Höhe begeben und bedachte ihn mit einem fragenden, aber warmen Ausdruck in den Augen. Bevor der Kuss hauchzart seine Lippen berührte, streifte warmer Atem über seinen Kiefer und ließ ihn erwartungsvoll schaudern. Cain streckte die Hände aus und umfasste die verführerische Kurve ihrer Hüften, die weiche Haut unter seinen Handflächen war merklich wärmer als an den Beinen. Sylea begann ein unfaires Spiel, als sich das Silber zielsicher zwischen die Lücken im Goldschleier drang und vervollständigte, was jahrelange Verstümmlung durch genötigten Drogenmissbrauch, Verlust und Zurückweisung zerstört hatten. Cain fühlte, wie sich das Gleichgewicht tief in seinem Inneren ausbalancierte. Unbewusst zog er Sylea stetig ein wenig mehr an sich, doch bevor ihre Körper sich vollständig berührten, legte sich eine Hand auf seine Brust. Das Gefühl bescherte dem Seeker einen Ankerpunkt und er schlug die Augen auf, um sie mit einem beinahe ertappten Gesichtsausdruck anzusehen. Für einen Sekundenbruchteil blitzte der unverkennbare Wunsch auf, sie möge die Hand noch tiefer führen.
      "Vermutlich nicht, wenn du weitermachst. Glaub nicht, ich weiß nicht, was du da tust", brummte Cain schmunzelnd. "Vergiss nicht, dass wir Gäste sind."
      Der Anflug von Schalk funkelte in seinen Augen und vertrieb ein wenig der Bitterkeit darin.
      Die Erinnerung an die hitzigen Neckereien in einem kurzen Moment ohne ihre Gastgeber kämpften sich an die Oberfläche.
      Er genoss die träge, glühende Hitze, die sich langsam durch seine Adern schob. Gemächlich löste er eine Hand von ihren Hüften und führte diese an ihr Gesicht, das seinem so unendlich nah war. Die grauen Flecken in der braunen Iris glitzerten im Licht der Lampe über ihren Köpfen wie winzige, silberne Sterne. Mit einer liebevollen Geste schob er eine verirrte Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
      Cain horchte in sich hinein.
      "Er wartet", antwortete Cain nach kurzem Zögern. "Was du gerade tust, weckt seine Aufmerksamkeit. Stell dir einen ausgehungerten Bären vor, der in seinem Käfig auf und abläuft. Er ist... neugierig, was du als nächstes vorhast. Er beobachtet dich. Es ist schwer zu beschreiben."
      Was Ascan zur Still bewegte, war ihm allerdings ein Rätsel.
      Immerhin gehörten die Zärtlichkeiten, die sie austauschten, nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
      Ein zweites Mal seit Betreten des Badezimmers zog er sie beide auf die Beine. Dabei lagen seine Hände ununterbrochen auf Sylea, als könnte er sich nicht dazu durchringen, sie auch nur eine winzige Sekunde nicht zu berühren. Er riskierte nur einen kurzen Blick zur Seite, um die Dusche anzustellen und eine angenehme Temperatur zu finden.
      "Spürst du etwas?", fragte er, dieses Mal sprach er von dem Seelendieb, und hob Sylea kurzerhand über den Rand der Wanne, ehe er hinterher stieg. Zugegeben, eine heiße Dusche war eine Wohltat nachdem langen Fußmarsch durch Wald und Kälte. Auch er spürte Ascan kaum in der Verschlingung ihrer Auren sondern lediglich ein unaufdringliches Hintergrundrauschen seiner stetigen Präsenz.
      Cain neigte den Kopf und stahl einen kurzen, aber sehnsüchtigen Kuss von ihren Lippen und bugsierte Sylea als erste unter den Wasserstrahl, der auf sie niederprasselte.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • „Was mache ich denn?“
      Syleas Tonfall bekam langsam den Schalk zurück, den sie so gerne bei Cain einsetzte, und auch ihre Augen waren nicht mehr von endlosem Schmerz verschleiert. Sie waren wieder aufgeklart und hatten die Last, die ihr zu Kopf gestiegen war, sukzessiv in tiefere Abteile ihrer Seele zurückgeschoben, wo sie sich in die Schublade zu all den anderen Gefühlen gesellte. Niemand von ihnen brauchte es betonen, dass er sie unweigerlich immer enger an sich herangezogen hatte und nur ihre Hand auf seinem Herzen ihn davon abhielt, sie gänzlich an sich zu pressen. Als er die Augen aufschlug, sah sie sofort die Wirkung, die ihr Handeln bei ihm hatte. Der Bernsteinton hatte sich ins dunklere verfärbt, bekam andere Sprenkler und wirkte bei Weitem nicht mehr so klar und aufrichtig wie davor. Unter ihren Händen wuchs er scheinbar Millimeter um Millimeter in die Höhe, so als wolle er, dass ihre Berührung tiefer ging. Das verstand sie auch nonverbal.
      „Ich glaube, dass auch Gäste Zärtlichkeiten austauschen dürfen, oder etwa nicht? Sag nicht, du hast Angst, dass einer von den Beiden plötzlich ins Bad stürmt und uns bei irgendwas… erwischt“, zog sie ihn weiter auf und kräuselte die Nase, als der Seeker ihr eine Strähne hinters Ohr schob. Sie musste nicht nach unten sehen um zu wissen, dass sich ihre Nähe auf ihn bereits niederschlug. Stattdessen ließ sich sie auf die Beine ziehen, ein schwaches Schmunzeln noch immer auf den Lippen.
      „Wieso beobachtet er mich? Er sollte vielmehr daran interessiert sein, dich dahingehend zu manipulieren zu fühlen, was er will“, dachte sie laut und überlegte, ob sie sich schuldig fühlen sollte, wenn sie der Auslöser für das Erwachen des Grimms war. Die ganze Zeit über war er schon so herrlich still gewesen, dass es sich fast wieder wie zuvor anfühlte.
      „Nicht wirklich. Außer vielleicht, dass das Wasser gerade meine Füße kocht“, bemerkte Sylea, nachdem sie in die Wanne gestiegen und den Blick auf ihre Füße gerichtet hatte. Das Wasser, das Cain zweifellos passend eingestellt hatte, brannte an ihren kalten Füßen wie Feuer, sodass sie unangenehm von einem Fuß auf den anderen trat. „Seit dem Gespräch am Tisch ist er auffällig le- AHHHH!“
      Sie quietschte laut auf, als Cain sie unter den Wasserstrahl schob und die Wärme sie wie einen gleißenden Hitzestrahl traf. Sofort sprang sie aus dem Wasserstrahl und gegen Cain, der ihr gefolgt war und sich trügerischerweise vorher noch einen Kuss gestohlen hatte. Ein Schütteln durchlief sie, als sie sich das Wasser aus dem Gesicht wischte und den Mann vor sich wild anfunkelte. Dass sie nun doch eng gepresst an ihn stand, musste definitiv seine Absicht gewesen sein.
      „Oh, stell dich doch erst mal selbst drunter! Das ist total heiß!“, lachte sie empört und drückte sich noch enger als ohnehin schon möglich an seinen maskulinen Körper, ihre Arme hatten sich um seinen Leib geschlungen und die Hände über seinen Rücken waren immer weiter abwärts gewandert, bis sie locker auf seinen Pobacken lagen.
      „Wenn du dafür sorgst, dass ich nochmal so laut schreie, dann kommt Ennis bestimmt noch nachsehen!“
    • Die unschuldige Frage entlockte Cain ein wenig überzeugtes Schnauben. Die Unschuldsmiene kaufte der Seeker ihr nicht ab und doch gab es keine Lösung gegen das unmissverständliche Glimmen in der bernsteinfarbenen Iris seiner Augen. Sein Körper stellte sich schnell als mieser Verräter heraus, der sich unwiderstehlich von der jungen Frau angezogen fühlte. Sylea hatte sich den wohl ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht um mit seinen Begierden zu spielen, die er nie allzu lange vor der Rubra verstecken konnte. Eigentlich sollte es ihm peinlich sein, wie schnell Sylea gelernt hatte, ihn völlig um den Finger zu wickeln. Stattdessen sehnte er sich nach den Gefühlen, die sie in ihm auslöste. Nach der Intensität, die er sich sein ganzes Leben lang verboten hatte. Das Blind-Eye hatte er aus seinen Adern verbannt, dafür erschütterte ihn das Verlangen nach Sylea bis ins Mark. Die Emotionen, die sie spielerisch befeuerte, bescherten ihm ein unbeschreibliches Hochgefühl.
      Er konnte spüren, wie der Schalk über das Seelenband vibrierte. Die silbrige Aura schimmerte mit Belustigung, die langsam die Schwermütigkeit daraus vertrieb. Das bedrückende Gefühl verschwand nicht vollständig, aber verhallte zu einem dumpfen Hintergrundrauschen.
      Träge schüttelte Cain den Kopf, doch die silbrige Aura verankerte sich stetig tiefer in dem glühenden Gold. Einen gefühlten Katzensprung vom Hauptsitz der Rubras entfernt, war Sex sicherlich das Letzte woran das Paar im Augenblick denken sollte. Die Gefahr saß ihnen im Nacken, doch Cain verfolgte einen verirrten Wassertropfen, der gemächlich über Syleas perlte und in der zarten Senkung ihres Schlüsselbeines stoppte. Wie hypnotisiert starrte Cain auf das glitzernde Tröpfchen. Aus einem Impuls heraus leckte sich Cain über die Lippen, während der Grimm in einem Verließ sich vermutlich gierig die Lefzen leckte – wenn er denn eine physische Form besäße – aber war nur eine schwarze, schattenartige Leere.
      „Du weißt genau, was passiert, wenn du das tust“, knurrte Cain mit einem echoartigen Doppelklang in dem Grollen, das aus den tiefen seines Brustkorbes kroch. "Ehrlich, ich bin wirklich nicht scharf darauf, dass Ennis oder Mairead ins Bad platzen. Bist du sicher, dass du..."
      Ein Quietschen klingelte in seinen Ohren bevor Sylea förmlich an seine Brust sprang und ihn aus der Trance riss.
      Sicherheitshalber schlang er einen Arm um ihre Hüften, damit sie auf dem feuchten Boden der Badewanne nicht ausrutschte. Natürlich war es ganz uneigennützig, dass Cain sie dabei fester an sich zog. Nur zur Sicherheit. Der Seeker vergrub das Gesicht im nassen Haarschopf und neigte die Lippen an ihr Ohr.
      "Der Grimm beobachtet dich, weil du gerade keine Angst ihm gegenüber verspürst. Furcht war das intensivste Gefühl, dass er seit seiner Geburt wahrgenommen hat. Bis auf dich."
      Cains Stimme war ein tiefes, vibrierendes Brummen geworden, als sich ihre Arme um ihn schlangen und Hände vorwitzig immer tiefer wanderten. Er knurrte direkte unter ihrem Ohr.
      "Wir sind Teil eines Ganzen, Sylea. Der Grimm ist ich. Und ich bin der Grimm. Das heißt, er begehrt dich genauso sehr wie ich. Wir wollen dasselbe, er muss mich nicht manipulieren."
      Bei ihrem Einwand, um ihn wohl damit aufzuziehen, lachte Cain leise.
      "Hm, ein nicht ganz unwichtiges Argument", antwortete er und richtete sich auf, nur um demonstrativ die Hände von ihrem Körper zu nehmen und hochzuhalten. "Vielleicht sollte ich die lieber bei mir behalten und du wäscht dich selbst, um ganz auf Nummer Sicher zu gehen."
      Es war ein kleiner Widerstand gegen die Verlockung, die sich ihm bot. Ein letzter Versuch, sich an der Vernunft festzuklammern. Der Zusammenbruch war kaum fünf Minuten her und jetzt triezten sie sich gegenseitig - nackt, unter einer heißen Dusche, in einem fremden Haus. Ein kleiner Impuls von Zweifel wirbelte das Gold auf. Der Stimmungswechsel ging schnell vonstatten, vielleicht zu schnell. Sie sollten duschen, sich anziehen und die weiteren Schritt besprechen.
      Trotzdem grinste Cain und seine Finger zuckten.
      Die Augen mit schwarzen Tupfen besprenkelt.
      Der Grimm war anderer Meinung.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea kam vom Regen in die Traufe. Eigentlich hatte der Ausruf mit dem heißen Wasser die Situation auflockern sollen, stattdessen stand sie nun dicht gedrängt an dem Seeker, der ihr besitzergreifend seinen Arm um die Hüfte gelegt hatte und sie nur noch enger an sich heranzog. Die Hitze des Wassers wich der Hitze ihrer Körper, ihre Atmung glich sich an den jeweils anderen an bis sie schließlich im Takt Luft holten. Seine Stimme dicht an ihrem Ohr rumpelte, kratzte in diesem ganz bestimmten Tonfall, der sie jedes Mal aufs Neues bis ins Mark traf. Umgehend versteifte sich das Mädchen und die Hände, die sie soeben noch auf sein Gesäß gelegt hatte, verharrten ebenso.
      „Wenn er ein Teil von dir ist, kann ich keine Angst vor ihm haben“, erwiderte sie so leise, dass es beinahe im konstanten Rauschen des Wassers untergegangen wäre. Doch sie wusste besser, dass der junge Mann über deutlich geschärfte Sinne verfügte und jede Silbe, jedes Stocken, hören konnte. „Das wäre ja fatal, wenn ihr zwei einer Meinung wärt…“
      Sein Lachen erschütterte Sylea an seiner Brust, wodurch sich ihre Anspannung wieder verlor. Just in dem Moment, in dem sie sich eh von ihm wegschieben wollte, kam er ihr zuvor und suchte eigenmächtig die Distanz, indem er beschwichtigend seine Hände anhob. Ungläubig funkelte Sylea Cain an, dann drehte sie sich mit einem Schnauben wieder um und näherte sich dem Wasserstrahl erneut.
      „Wenn du deine Hände bei dir behalten kannst …“, fügte sie spöttisch hinzu und ließ die eigenen Hände über ihr Gesäß gleiten. Natürlich nur zu Waschzwecken.
      Mit ihrem Rücken ihm zugewandt sah Cain nicht, wie sich der leichtfertige Gesichtsausdruck aus ihrem Gesicht wieder abschälte. Als blätterte alte Farbe von einem Möbel ab, erschien darunter eine nichtssagende, blanke Oberfläche mit Augen, die irgendetwas in der Ferne sahen, nur für sie bestimmt. Sie hatte in seiner Aura gespürt, dass er zweifelte, an dem, was sie sagte, fühlte und tat. Ehrlicherweise konnte sie es ihm auch nicht verübeln, denn es wirkte stückweise gestellt oder gar ausweichend. Damit hatte er auch nicht ganz Unrecht, denn den konstanten Druck, dass jederzeit etwas widerfahren konnte, hielt sie auf Dauer nicht aus. Sie brauchte Luft zum Atmen, und sei es nur diese kurzweiligen Spielereien, ungesehen von Dritten. Ab dem Augenblick, wo sie die Hallen aufsuchten und dem Wächter vorstellig wurden, war ihr Leben so, wie sie es kannten, schlagartig vorbei. Diese Gewissheit war unumstößlich und bevor Cain von all diesen Gedanken etwas mitbekam, hatte sie ihre silbrige Aura bereits weitgehend aus seinem Gold gelöst und ihm seine Freiheit zurückgegeben.
      „Ich möchte während meiner wohlverdienten Dusche nicht daran denken, wie wir weiter vorgehen. Wenn die uns angreifen wollten, dann wohl eher im Schutz der Nacht und nicht jetzt schon. Vielleicht warten sie ja auch darauf, dass das Gewitter nachlässt, oder, oder, oder“, überlegte Sylea laut weiter, bevor sie ihren Kopf unter das Wasser hielt und ihre Haare durchnässte.
    • Augenblicklich fühlte sich seine Kehle staubtrocken an, als ihre Hände verführerisch in südlicher Richtung nach unten und über die zarte Wölbung ihres Gesäßes glitten. Es rumpelte zustimmend in seiner Brust. So verlockend die Aussicht auf die blasse, feuchte Haut auch war, etwas verschob sich in Cains Wahrnehmung. Die Veränderung kam nicht schleichend, sondern völlig unerwartet. Die silbrige Aura löste ihre lockende Verankerung aus seiner Aura und zog sich beinahe gänzlich zurück. Ein kühler Schauer rann seiner Wirbelsäule hinab und selbst der heiße Wassernebel der Dusche schlug sich eisig und prickelnd auf seiner Haut nieder. Cain hatte sich immer noch nicht an das Gefühl gewöhnt, sobald sich Sylea von ihm abschottete. Sie ließ ihn mit einer hauchdünnen Verknüpfung zurück, die ihm aber weder Trost spendete noch eine unumstößliche Gewissheit gab. Sylea zog sich vor ihm zurück, um zu verbergen, was in ihrem hübschen Kopf vor sich ging. Halbblind für ihre einzigartige Verbindung und ohne einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen zu können, schlug sich Ratlosigkeit in seinem Gesicht nieder. Der Wunsch ihn zu schützen, ihm den scheinbar benötigten Raum zugeben, war Cain keine Hilfe.
      Die Verspieltheit verpuffte endgültig im Nichts, als Sylea laut ihre Gedanken äußerte.
      Cain blinzelte und schüttelte den Kopf, als könnte das seine durcheinander gewürfelten Gedanken neu ordnen. Der Grimm in seiner Brust sträubte sich gegen die plötzliche Kühle, die sich im Raum ausbreitete. Er nahm genauso wenig von Sylea war, wie der Seeker...ein Umstand, der dem Grimm nicht schmeckte. Cain spürte das Verlangen der schattenartigen Bestie, neue Emotionen aus dem Mädchen zu kitzeln, dass ihm vertrauensvoll den Rücken zuwandte. Lust, Furcht, Schmerz...irgendetwas, das seinen Hunger stillte.
      Ungelenk und ohne die vertraute Geschmeidigkeit eines Jägers trat Cain einen kleinen Schritt zurück um seinen Rücken gegen die kalten Fließen zu pressen. Der Temperaturschock schoss wie ein Blitz durch seinen Körper und half dabei, seine Gedanken im Zaum zu halten. Für den Augenblick begnügte er sich damit, dass Sylea das Duschwasser für sich beanspruchte. Wassertropfen perlten aus ihren Haaren und folgten der Kurve ihres Rückens während sie die Finger im eigenen Haarschopf vergrub. Die beißende Kälte in seinem Rücken mochte seinen Kopf klären, die untere Hälfte seines Körper zeigte sich allerdings herrlich unbeeindruckt.
      Es gab viele Dinge, die Cain hätte sagen können.
      Er hätte Sylea widersprechen oder zustimmen können. Die Argumente besaßen zweifelsohne Hand und Fuß. Er hätte an die Vernunft appellieren können. Dass sie es sich nicht leisten konnten, in dieser Situation den Kopf zu verlieren.
      Stattdessen seufzte er.
      Die Dusche war schmal genug, das sich kaum eine Armlänge an Platz zwischen ihnen befand. Der Abstand war sogar so gering, dass Cain mühelos eine Hand ausstrecken konnte, um ihre Schulter zu berühren ohne dabei aber direkt hinter Sylea treten zu müssen.
      "Tu das nicht", brummte er. "Schließ mich nicht aus, Sylea."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Das Rauschen des Wassers über Syleas Kopf schien gar übermächtig.
      Nicht so wie das Rauschen des Regens, der draußen das Gewitter begleitete, das noch immer grollte und mit Blitzen um sich warf. Es war gleichmäßig, nicht vom Winde zerpeitscht und absolut monoton. So sehr, dass dem Mädchen irgendwann die Lider schloss, die sie trotz des Wassers noch geöffnet hatte, und dem Prasseln nicht nur lauschte sondern nachfühlte.
      Du wirst ihm keinen Raum geben können, egal wie sehr du dich zurückziehst. Eure Verschmelzung ist permanent, das weißt du besser.
      Das bedeutet nicht, dass ich es nicht versuchen kann. Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.
      Du hast doch bei dem Mädchen gespürt, dass da rein gar nichts war. Sie sprechen die Wahrheit und dennoch bist du hochgradig misstrauisch. Deine Vorsicht sollte eher anderen Dingen gelten, wie beispielsweise-
      Niemand hat dich nach deinem Urteil gefragt. Verzieh dich wieder in deine Ecke und lass mich in Frieden.
      Syleas Augen öffneten sich, als sie den Kopf aus dem Wasserstrahl zog und die kurzen Haare nach hinten strich. Es war erschreckend, wie sehr sich diese Unterhaltungen mittlerweile normal anfühlten und wie sehr sie Ascan als ein Teil von ihr selbst anerkannt hatte. Die ursprüngliche Distanz zwischen ihnen schien ebenso so sehr zu verwischen wie die Abgrenzung der beiden Auren von ihr und Cain. Manchmal – und das hatte sie dem Seeker auch noch nicht gesagt – wusste sie nicht mehr, ob die Handlungen Ascans wirklich ausschließlich seine waren oder nicht.
      Das Seufzen hörte sie noch bevor auch nur eine winzige Berührung stattfinden konnte. Noch immer hatte sie ihm den Rücken zugewandt, während ihre Arme schlaff an ihren Seiten herabhingen. Er hatte das gänzlich falsch aufgefasst. Sie schloss ihn nicht aus. Sie distanzierte sich nur.
      „Ich spreche doch mit dir, oder nicht?“, fragte sie wobei ihre Augen dem Lauf des Wassers folgte, das im Ausguss verschwand. „Du kannst mich anfassen, ich weise dich nicht ab. Du kannst aber nicht ständig mit meiner Aura verbunden sein. Du wirst… abhängig.“
      Wollte sie ihn wappnen für die Möglichkeit, irgendwann allein ohne sie klarzukommen? Nicht direkt, nicht offensichtlich. Aber manchmal, da wünschte sie sich, dass sie wirklich allein in ihrem Geiste war. Dass dort niemand war, der ihre Gefühle erspüren konnte oder jemand, der jeden einzelnen Gedanken mitanhören konnte. Nüchtern betrachtet war sie noch gar nicht so lange aus dem Kreis der Kathedrale ausgebrochen gewesen. Gar nicht so lange hatte sie Zeit gehabt, um sich mit dem anderen Bewusstsein in ihrem Körper auseinanderzusetzen. Und noch weniger Zeit hatte sie bekommen, um die Verschmelzung ihrer Aura mit der des Seekers wirklich zu prozessieren. Ja, eigentlich hatte Sylea für nichts wirklich genug Zeit gehabt. Träge hob sie ihre rechte Hand an und betrachtete die Handinnenfläche. Das Rauschen wurde wieder lauter. Die Kälte breitete sich von innen wieder langsam weiter aus. Bilder schwemmten durch ihren Geist, Abfolgen von Zeichen, nein, Runen, drängten sich hervor. Rostrot hoben sie sich von fahler Haut ab, als jemand sie auf einen Körper zeichnete und sie zu glühen begannen, als ihre Wirkung ausbrach. Sie verstand die Runen nicht, konnte sie nicht lesen, und doch ahnte sie zu verstehen, was sie besagten. Es war wie eine Sprache, die nur sie lesen konnte. Eine Sprache, geschrieben aus Blut. Vielleicht sogar aus ihrem eigenen Blut. Sie müsste es nur testen, mittels…
      Sylea. Verlier nicht den Bezug zu dir selbst.
      Sylea blinzelte einmal.
      Du darfst dich nicht lösen. Bleib hier und dreh dich um. Anker dich mit dem Seeker und lass nicht los.
      Ein weiteres, verzögertes Blinzeln. War ihr Puls schon immer so langsam gewesen?
      Fühl, was auch immer du gerade willst, aber lass. Nicht. Los. Hast du mich verstanden?
      Die Hand fiel kraftlos herab. Ihre Augen wurden immer größer, als sie gar nicht mehr wirklich blinzeln musste. Ihre Atmung wurde langsamer, der Herzschlag langsamer. Die Gedanken flossen träge, das Gefühl der Kälte löste in ihren Fingern ein Kribbeln aus.
      JETZT DREH DICH UM!
      Der hasche Tonfall Ascans, den Sylea noch nie so gehört hatte, schoss wie flüssiges Feuer durch ihren zähen Verstand und ließ ihre Körper beinahe autonom handeln. Steif machte sie auf dem Absatz kehrt und wankte leicht, die Augen noch immer geweitete als sie Cain anstarrte, der sich bis an die kalten Fliesen zurückgezogen hatte. Ihre Brust war eng und sie hatte das Gefühl, nicht wirklich atmen zu können. Das Gefühl für ihren eigenen Körper war verschwunden, ihre Gedanken waren erfüllt von Nichts und Panik zugleich. Ihre Lippen formten geräuschlose Worte, so als wäre sie gerade dabei zu ersticken, obwohl es rein gar nichts dergleichen gab. Mit einer Hand an ihrer Brust streckte sie die freie Hand nach Cain aus und tat, wie ihr aufgetragen wurde.
    • Eine eigenartige Distanz lag in den wenigen Sätzen, die Syleas über die Lippen brachte. Trotz des heißen Wassers, das auf die zierlichen Schultern prasselte und die Haut voller Narben und alter Geschichten benetzte, fühlte sich ihre Haut kühl unter seinen Fingerspitzen an. Sein Blick bohrte sich in ihren Rücken, als wollte er die im Geiste dazu überreden, sich endlich umzudrehen. Die Distanz breitete sich aus und erzeugte das irrationale Gefühl, dass sich selbst die physische Entfernung zwischen ihnen stetig vergrößerte obwohl weder Seeker noch Vessel sich bewegten. Die goldschimmernde Aura zuckte vor Unsicherheit und Verwirrung über den harschen Verlust der Balance, die Sylea und die Aurenverschmelzung ihr schenkten. Das Gefühl der Unvollständigkeit breitete sich wie ein tiefschwarzes Loch in seiner Brust aus. Er fühlte körperlich wie Sylea sich immer weiter von ihm entfernte. Trotzig schüttelte Cain den Kopf, obwohl er bereits die Wahrheit in ihren Worten am eigenen Leib spürte. Er hatte das Blind Eye durch eine anderen Droge ersetzt, die viel stärker und gefährlicher war. Dieses Mal würde es niemanden geben, der ihm durch die Tortur half.
      Die Stille zog sich hin und mit den verstreichenden Sekunden wuchs seine Sorge ins Unermessliche.
      "Sylea."
      Keine Antwort.
      "Sylea, bitte."
      Seine goldene Aura wölbte sich von seinem Leib ab, reckte und streckte sich zu dem vermissten Silberstreif.
      "Was..."
      Zarte Verästelungen des Goldschimmers peitschten irritiert zu den Seiten aus, als sie eine Blockade vorfanden. Cain spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellte, als sich etwas gänzlich anderes in seinen Fokus schob. Es war eine lange Zeit vergangen, seit er diese besondere Präsenz das letzte Mal mit voller Wucht gespürt hatte. Ein vertrauter, mächtiger Puls vibrierte durch seine Aura und hinterließ ein beklemmendes Gefühl in seinem Brustkorb. Seine Nasenflügel bebten, als er das erste Mal seit Wochen den erstickenden, süßlichen Geruch von Verwesung witterte. Anifuris Aurasignatur war unverkennbar, aber darunter hatte sich etwas anderes gemischt. Eine sengende Hitze überzog seine Haut, so eindringlich, dass er glaubte, beim Hinabsehen Blasen an seiner Haut finden zu müssen. Die Resonanz darauf war ein pulsierender, scharfer Schmerz in seinem verheilten Bein. Ascan fühlte sich anders an, denn unter der Hitze blieb nichts als Kälte und Leere zurück.
      Unwillkürlich zuckte Cain leicht zurück, als Sylea sich träge umdrehte.
      Die Bewegungen hatten nichts Lebendiges an sich sondern ähnelten denen einer Marionette. Augen, so unendlich groß, starrten ihn an. Sylea schwankte und der Seeker löste sich aus seiner Starre. Er kam ihr entgegen, noch bevor sie die Hand anhob. Eine eiskalte Hand presste sich gegen seine Brust und jagte einen beinahe schmerzhaften Schock durch seinen Körper. Weder das heiße Wasser noch die Behaglichkeit der Hütte hatten die Kälte aus ihrem Körper vertrieben. Eine Kälte, die Sylea in ihren unnachgiebigen Klauen festhielt seit sie die Hütte betreten hatten.
      Sie mochte ihn nicht in ihre Seele blicken lassen, aber er verstand den Blick der weit aufgerissenen Augen.
      ...und warum Ascans Präsenz wie eine Wolke über ihnen schwebte.
      Mit beiden Händen umrahmte Cain ihr Gesicht, streichelte mit den Daumen sanft über ihre Wangen während der Ausdruck in ihren Augen in unbekannter Ferne lag.
      "Sieh mich an, Sylea", bat er. "Komm schon, sieh mich an."
      Fahrig aber dennoch zärtlich schob er die feuchten Haare aus ihrem Gesicht.
      "Bleib bei mir. Du hast mir das Versprechen abgeknüpft, dich gehen zu lassen, wenn die Zeit gekommen ist."
      Cain legte eine Hand auf seine Brust, um ihre Handfläche fester gegen sein pochendes Herz zu drücken.
      Er zwang sich zu einem Lächeln.
      "Du bist eine Kämpferin, Sylea. Ich weiß, dass du müde bist, aber nicht hier. Nicht so."
      Das Lächeln verwandelte sich in ein mühevolles Grinsen während er ihre Finger drückte und seine Stirn gegen ihre lehnte.
      Sie war so kalt.
      "Nicht nackt unter der Dusche eines Fremden, okay? Ich möchte, dass du den Menschen vorher gehörig in den Arsch trittst, die dir das angetan haben."
      So kalt.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea bekam keine Luft mehr. Kein Atemzug tat sich und sie fühlte, wie die Panik das Blut in ihren Adern ersetzte. Beinahe verzweifelt versuchte sie, ihre Lungen davon zu überzeugen, auch nur einen einzigen Atemzug zu nehmen, aber ihr gesamter Brustkorb fühlte sich an wie mit Eisenketten behangen. Schwer und träge ließ er kein Weiten mehr zu und die Angst, einfach hier und jetzt zu ersticken. Die Hände, die sich daraufhin regelrecht an ihre Wangen festbrannten, bildeten einen dermaßen starken Kontrast, dass es fast ausgereicht hätte, um nach Luft zu schnappen. Doch nur fast. Ihre Augen zuckten hin und her, dann endlich fand sie Cains Blick und fokussierte sich darauf. Ihre eigene Hand an seiner Brust fühlte sich taub an, doch mit jedem Schlag seines Herzens gewann sie das Gefühl in ihren Fingern zurück. So als schluge sein Herz einzig und allein für sie.
      Ja, sie war müde. Sehr sogar. So sehr, dass sie nichts dagegen gehabt hätte, einfach in die Knie zu gehen, noch in der Wanne zur Seite zu sacken und einfach die Augen zu schließen. Die Worte, die Cain an sie richtete, drifteten allmählich wieder fort und mischten sich mit dem Rauschen des Wassers. Ihre Lider flatterten und senkten sich, als sich ein Druck an ihrer Stirn bemerkbar machte. Mehr als das registrierte sie nicht, als ihre Knie schließlich nachgaben und sie sanft auf den Boden der Wanne glitt, einzig und allein gehalten durch Cains starken Griff. Er folgte ihr, umfasste ihren Körper nun zur Gänze und presste ihn an sich. Es war nicht das Wasser, was ihr in den Sinn kam. Es war die unglaubliche Hitze, die der Körper des Seekers ausstrahlte und die dafür sorgte, dass sie endlich doch nach Luft schnappte. Sie schluckte Wasser, begann zu husten und sich in den kräftigen Armen zu krümmen. Das Husten schwächte ab und wich einem schockierten Wimmern, als sie ihre kalten Finger in seine Schulter grub und sich an ihm festhielt.
      Was auch immer das geraded gewesen was; es hatte von ihr abgelassen. Auch die Stimme Ascans ebbte in Syleas Kopf ab und nach einer Weile schafften sie es, nicht mehr deprimierend und geschafft auf dem Boden der Wanne zu sitzen, sondern die Dusche erfolgreich abzuschließen.

      Draußen vor der Tür hatten separate Handtücher gelegen, die Sylea und Cain genutzt hatten. Nun wieder warm und besser riechend kamen sie zusammen aus dem Badezimmer heraus und liefen dabei postwendend Mairead in die Arme, die zuerst Sylea und dann Cain eindringlich musterte.
      "Ihr wart ganz schön lange da drin. War's... schön?", fragte sie mit einem seltsam klingenden Unterton.
      Sylea blinzelte das Mädchen an, nickte dann aber. "Viel besser als sich mit irgendeinem Fluss zu begnügen."
      "Fluss?" Sylea stutze bei dem fragenden Blick des Mädchens und schüttelte heftig den Kopf. "Ah, das wäre nur gewesen, wenn wir lange unterwegs gewesen wären! Nichts besonderes, wirklich."
      "Hm, hm....", machte Mairead, offensichtlich nicht überzeugt. Aber sie gestikulierte zurück zum Tisch, wo mittlerweile für vier Personen aufgetischt worden war und Ennis scheinbar in der Küche aktiv war. "Ich glaub, er macht da Eintopf oder so... Wahnsinnig gut kochen kann er nicht, aber das ist schon ok."
      Mairead stolzierte in ihrem pinken Alptraumaufzug zurück zum Esstisch und nahm ihren angestammten Platz ein. Sylea konnte daraufhin nur erschlagen weiter mit dem Kopf schütteln. "Das Mädchen macht mich fertig", sagte sie leise zu Cain, die Müdigkeit war ihrer Stimme deutlich anzuhören. "Ich hoffe, ich schaffe das Essen noch und dann will ich eigentlich nur noch schlafen... Wie geht's dir?..."
    • Cain bedachte Mairead mit einem prüfenden Gesichtsausdruck und fragte sich, ob das Mädchen die letzte halbe Stunde ungeduldig vor der Tür gehockt hatte bis ihre Gäste endlich mit der Dusche fertig waren. Die Misstrauen in seinem Blick milderte sich beim Anblick kindlicher Ungeduld. Wenn sie wirklich nicht oft Besucht bekammen, war es kein Wunder, dass das Kind den Besuch nicht eine Sekunde aus den Augen lassen wollte. Sein Blick huschte zu Sylea, die tapfer versuchte, sich gegenüber Mairead nichts anmerken zu lassen. Vielleicht hatte seine Vorsicht ihn das Wesentliche vergessen lassen. Das, was wirklich zählte. Er hatte die ganze Zeit gespürt, das etwas nicht stimmte, nur hatte er dabei keine Sekunde an Sylea gedacht. Cain runzelte dir Stirn während er zwischen beiden hin und her sah. Seit Wochen war der Seeker darauf getrimmt einfach alles in seiner Umgebung in Frage zu stellen. Vertrauen war ein Luxus, den er glaubte, sich nicht erlauben zu können. Seine Mundwinkel zuckten, denn er war sich der fatalen Ironie bewusst. Immerhin, vertraute er Sylea, die ein gefährliches und unberechenbares Bewusstsein als blinden Passagier beherbergte. Vielleicht hatte er die Kritik verdient, dass er, sobald es um die Rubra ging, gänzlich andere Maßstäbe anlegte.
      Behutsam legte er Sylea den Arm um die Schultern und drückte einen Kuss auf den noch feuchten Scheitel. Er selbst hatte sich eines der kleineren Handtücher um den Nacken gelegt, während das Wasser aus seinen Haarspitzen in den flauschigen Stoff sickerte. Er widerstand dem Drang, sich zu schütteln wie ein nasse Hund und das Wasser in alle Himmelrichtungen zu verteilen. Aus dem Augenwinkel sah er Mairead nach.
      "Sie weiß es nicht besser", murmelte er.
      Weil er ein Auge zudrückte, bedeutete das nicht, dass er seine Skepsis komplett ablegte. Vielleicht mochte Mairead tatsächlich ein vollkommen unschuldiges Kind sein. Ein Opfer der Umstände, wie Sylea und auch Cain selbst. Eines hatten sie jedenfalls gemeinsam: eine verschrobene Kindheit. Mairead wuchs zwar behütet auf, bis zu einem gewissen Alter war das jedem von ihnen vergönnt gewesen, aber der Sinn und Zweck überschattete die Bemühungen eines zweifelsohne liebenden Großvaters. Wenn er bereit war seine eigene Enkelin an an die Rubras zu verkaufen, wie vertrauenswürdig war dann der alte Mann? Der Seeker konnte eben doch nicht aus seiner Haut.
      Cain hob den Kopf und sein Blick sank zu Syleas Gesicht.
      Das Lächeln, um das er sich Mairead zuliebe bemüht hatte, fiel ein wenig in sich zusammen.
      "Hmhm...", brummte Cain. "Müde, aber ich habe das Gefühl ich sollte dich das fragen."
      Nicht körperlich müde, aber sein Gedanken flossen zäh dahin. Sein Verstand wie in Watte gepackt. Er wusste, dass er sich durch sein Training durchaus die ganze Nacht wachhalten konnte. Ob das sinnvoll war, stand auf einem anderen Blatt.
      Er dachte einen Augenblick über ihre Frage nach während er zusah, wie Ennis einen dampfenden Topf in der Mitte des Esstisches platzierte und seiner Enkelin den Teller aus der Hand nahm. Das Mädchen winkte sie ungeduldig herüber und ihre Füße baumelten auf eine Art in der Luft hin und her, als könnte sie kaum still sitzen. Die Szenererie wirkte so natürlich und vertraut, dass er sich einmal mehr wie ein Eindringling vor kam. Wann hatte er das letzte Mal eine Mahlzeit zusich genommen, die an ein gemeinsames Familienessen erinnerte?
      "Du hast mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt", gestand er. "Für einen Moment habe ich befürchtet, du entgleitest mir. Ich konnte ihn so stark spüren, wie schon lange Zeit nicht mehr. Hat mich ziemlich durchgeschüttelt. Du. Er. Das Alles."
      Sein Blick kehrte erneut zu Sylea zurück, angezogen von einer Kraft, die nur Cain spürte.
      "Ich bin wütend, weil du mich fortschicken willst...", flüsterte er leise. "...und fühle mich hiflos, weil ich dir nicht helfen und offensichtlich rein gar nichts tun kann, um etwas an deinem Wunsch zu ändern. Ich habe dir ein Versprechen gegeben, aber ich muss nicht glücklich darüber sein. Wir werden uns ausruhen, so gut es eben geht, und Morgen unsere weiteren Schritte besprechen."
      Ewig konnten sie sich nicht in dieser Hütte verstecken. Falls es jemals ein Versteck gewesen war, denn das setzte vorraus, dass niemand wusste, wo sie waren. Er löste sich von Sylea und ging ein, zwei Schritt vor ehe er sich umdrehte und ihr die Hand entgegenstreckte. Cain lächelte, warm und versöhnlich.
      Die junge Frau, die diese gewaltige Last von Schicksal auf den Schultern trug, sorgte sich ebenso um ihn, wie Cain sich um sie. Nur kamen sie damit nicht weiter. Sie verloren sich nur schneller. Cain hatte einmal über ihren Kopf hinweg entschieden und es hatte sie in die arme eines listigen Gottes getrieben. Es hatte ihnen Kummer und weitere Verstrickungen beschert, die sie nicht gebrauchen konnten. Eine Begegnung an die sich Cain durch den Grimm kaum noch erinnern konnte. Wie entkam man einem Gott?
      "Wir essen. Wir schlafen", wiederholte er mit gedämpfter Stimme. "Und wenn wir wieder unter uns sind, erzählst du mir die Wahrheit. Keine Geheimnisse und keine Alleingänge mehr."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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