Vessels [Asuna & Winterhauch]

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    • Sylea brauche jede einzelne Sekunde wertvolle Zeit, um sich zu aklimatisieren. Der Schmerz war furchtbar, der Anblick von Cain zu viel für ihr geschundenes Herz. Etliche male versuchte sie, ihren Worten eine Stimme zu verleihen, doch scheiterte jedes Mal. Bis die Tür aufgestoßen wurde und die Wächter in die Zelle fluteten.
      Die neben ihr knieende Gestalt nahm das Vessel nur am Rande wahr. Noch immer weinte sie bittere Tränen, doch diese rührten eher von dem Anblick, der sich ihr bot. Cain konnte sie nicht einmal mehr ansehen. Er hatte verstanden, dass dieser Überfall nicht war weil sie die Kontrolle verloren hatte. Es war weil Anifuris eigenbestimmt freie Hand gelassen hatte.
      Als kräftige Arme sich unter ihren Körper schoben und sie vom Boden aufhoben, strömte endlich Luft wie kaltes Wasser in ihre brennenden Lungen. Nach einigen überstürzten Atemzügen erlangte sie auch endlich ihre Stimme wieder.
      "Das wird ein Nachspiel haben, Desraeli." Die Worte drangen so klar an ihr Ohr, dass sofort die Panik wieder in ihr hochkochte.
      "Notwehr", flüsterte sie zunächst, nur um dann kräftiger hinterher zu setzen: "Hätte er es nicht getan, wäre ich nicht zur Besinning gekommen." Die Wachen konnten diesesen Punkt natürlich nicht unterschreiben.
      So gut es ging bewegte sich Sylea in den fremden Armen, jeder Schritt verdeutlichte ihr, dass es ein Fremder war, der sie gerade in den Armen trug. Sie wollte das nicht. Geplagt zwischen Schmerzen, seelischer Pein und der Angst, dass Cain etwas zustoßen könnte, riss sie das erste Mal mit einer schier unermesslichen Gewalt an dem Stückchen Bewusstsein von Anifuris, das sie spüren konnte.
      Sie warf ihm keine Worte entgegen. Und doch war das alte Bewusstsein vollends überrumpelt, als das Mädchen, das keine Ahnung von ihrer eigenen Geschichte hatte, mit einer unfassbaren Macht an ihm riss. Sie wollte nicht ihn - sie wollte seine Fähigkeiten. So unvorbereitet wie der Angriff auf ihn kam, hatte er keinen Moment, sich dagegen zu schützen. Mit einem Ruck hatte sie Zugriff auf seine Fähigkeiten, die sie ohne Umschweife in die Realität umsetzte.
      Syleas unkontrollierter Gemütszustand sorgte dafür, dass sie ihren Träger binnen Sekunden ausknockte. Sie wusste nicht, welche Emotion sie gerade gesammelt und dem Mann entgegen geworfen hatte, aber es ließ ihn augenblicklich in die Knie sacken und die Augen verdrehen. Mit einem Aufschrei landete das Bündel an Gliedmaßen auf dem Boden, ein schmerzerfülltes Aufkeuchen war zu hören. Da hatte sich Sylea bereits an der Wand des Ganges aufrichten können. Sie hatte ihre Hände als Stütze an der Wand platziert und das gesunde Bein angewinkelt. Ihr hektischer Blick schoss umher, bis sie Cain in den Griffen eines Wächters sah. Sylea ließ ihre Panik von dem längst angestauten Zorn überfluten, damit sie selbst für das Wachpersonal eine überaus bedrohliche Präsenz erzeugen konnte.
      "Lasst ihn los oder ich bring' euern Kollegen um", zischte sie mit einem hasserfüllten Ausdruck, den sie selbst vermutlich nicht erkennen würde. "Nur er fasst mich an und sonst niemand."

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Wirklich niemand schien Sylea mehr Beachtung als nötig zu schenken. Der körperlichen Verfassung nach stuften die Soldaten sie augenblicklich als eher gerringe Gefahr ein und da lag auch bereits der Fehler. Selbst mit der schweren Knieverletzung und einer ausgekugelten Schulter, war die junge Rubra noch eine Bedrohung. Das zeigte sich überdeutlich, als der Soldat, der den federleichten Körper trug, keuchend in die Knie ging. Es dauerte nur wenige Sekunden da kippte er bereits zur Seite und unter unkontrollierten Zuckungen einfach liegen blieb.
      Die Männer wirkten so überrumpelt, dass keiner seine Waffe zog. Wirklich geholfen hätte das allerdings niemanden von ihnen. Ein Soldat hinter Cain versuchte unauffällig nach seinem Funkgerät zu tasten, um Verstärkung anzufodern.
      "Mach keine Dummheiten, Mädchen.", knurrte ein recht bulliger Soldat, der gleichzeitig die Befehlsgewalt über den kleinen Trupp hatte. Mit gehobener Hand signalisierte er seinem Nebenmann, den Seeker fürs erste loszulassen. Betäubt schwankte Cain auf der Stille und sah aus, als hätte nur der harte Griff an seinem Arm ihn aufrecht gehalten. Die Worte der jungen Rubra ergaben nur langsam einen Sinn, während er sich fast automatisch in Bewegung setzte. Obwohl der Blick der goldenen Augen sich langsam wieder in der Realität befand, sah er sie immer noch nicht direkt an und vermied es vor allem ihr in die Augen zu sehen. Das war neu. Cain hatte sie immer mit einem offenen Blick betrachtet.
      "Was hast du vor?", murmelte er mit belegter Stimme und so leise, dass nur die Vessel ihn hören konnte. Jede Silbe erklang monoton und ohne Ausdruck auf seinen Lippen.
      Etwas ungelenk ließ er sich auf den Knien neben ihr am Boden nieder und zögerte deutlich, bevor er eine Hand an ihre Schulter legte. Wenn das hier vorbei war, würde er sie nie wieder anrühren. Selbst jetzt kostete es ihn eine gewaltige Überwindung, sie überhaupt zu berühren und wieder muste er ihr Schmerzen zufügen. Ein tiefer Atemzug den Cain tat, war alles an Warnung, die Sylea von ihm bekam. Mit einem kräftigen Ruck beförderte er die ausgekugelte Schulter zurück in das Gelenk. Es war das Wenigste, das er tun konnte.
      "Beeil dich," ertönte es hinter Cain, wo die Soldaten sichtlich nervös wurden.
      Sich innerlich wappnend, fasste er nach dem gesunden Arm der Vessel und legte diesen um seinen Nacken.
      "Festhalten...", wisperte er und schob einen Arm um ihren Rücken und den anderen unter ihren Knien durch, wobei er bemüht war das verletzet Bein zu wenig wie möglich zu bewegen. Ächzend kam Cain mit der federleichten Last in seinen Armen auf die Beine. Er fühlte sich müde. Anifuris Übergriff hatte seinen Verstand ausgelaugt. Er fühlte sich leer.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea antwortete nicht auf Cains leise geflüsterten Worte. Sie befand sich gerade in einem Disput mit Anifuris, der mittlerweile seine Kontrolle wiedererlangt hatte. Er hatte seinen Anteil wieder zu sich gezogen und betrachtete das Vessel mit einem interessierten Blick. In diesem Moment wirkte Sylea genau wie das, wozu er sie in jahrelanger Arbeit hätte formen müssen. Das war Grund genug für ihn, dem Mädchen zu gestatten, ihn zu nutzen.
      Unterdessen hatte sich Sylea auf die Lippen gebissen als Cain ihr die Schulter wieder einkugelte. Der Geschmack von Eisen flutete ihre Wahrnehmung und färbte ihren Verstand gleichermaßen rot. Sie hatte genug. Noch einmal würde sie sich nicht einsperren lassen. Niemand sollte ihr mehr den Schmerz zufügen, der ihr in den letzten Jahren widerfahren war. Und erst recht konnte sie es nicht mehr ertragen, dass der einzige Mensche, der ihr seit dem Zwischenfall als freundlich gegenüber getreten war, sie nun nicht mehr eines Blickes würdigte.
      Sylea fühlte ein seltsames Ungleichgewicht, als Cain sie in seinen Armen hochhob. Vage erinnerte sie sich daran, dass sie beim letzten Mal seine Berührungen nicht ertragen konnte. Auch jetzt brannte seine Haut auf ihrer trotz Kleidungsschichten dazwischen. Trotzdem wirkte Cain auf sie irgendwie kalt.
      Ich habe einen nicht unwichtigen Teil seiner Aura absorbiert. Seine Seele liegt quasi halb nackt da. Leichtes Ziel für andere. Du solltest etwas unternehmen.
      Stillschweigend nickte Sylea diesen Fakt gedanklich ab. In der Lage zu sein, Anifuris Macht zu nutzen verlieh ihr einen unheilvollen Machtkick. Ihr Verstand sagte ihr jedoch, dass genau dies es war, was ihr am Ende das Rückrat brechen konnte. Dem durfte sie niemals vollends nachgeben.
      Sylea schloss kurz die Augen und atmete ein paar Mal durch. Ihr Silberstreif, der ihre persönliche Aurensignatur darstellte, verzerrte sich und floss langsam auf den Seeker über. Sie füllte die Lücken, die in dem Gold seiner Aura klafften. Erst dann richtete sie ihren Blick, der ungewöhnlich kalt war, auf die Hunter.
      Zwei von ihnen gingen in den nächsten Sekunden ähnlich wie der Mann neben ihnen zu Boden. Der Dritte, der auch das Kommando hatte, war standfester. Auch er wankte getroffen, stand aber noch auf seinen Füßen. In einer Mischung aus Abscheu und Wut starrte er die beiden Flüchtlinge an, um dann einen Fuß nach vorn zu setzen. Instinktiv zuckte Sylea einen Hauch nach vorne. Sie würde jeden einzelnen Hebel in Bewegung setzen, damit er keinen Schritt näher an sie heran kam. Da nahm sie in ihrem Geist eine zwarte Berührung war.
      Anifuris war kurzerhand an ihr vorbei geglitten. Wenn ich dürfte.
      Die Atmosphäre veränderte sich abermals. Vor Sylea schien sich alles zu drehen, als Anifuris Aura in einer gigantischen nachtblauen Welle aus ihr heraus und über den bulligen Hunter schwabbte. Was auch immer die alte Seele da gerade getan hatte, hatte den Hunter direkt KO geschickt. Er verdrehte lediglich die Augen noch bevor ein Wort seinen Mund verließ. Dann war Anifuris samt seiner Aura fort, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Er war wieder stiller Beobachter in ihrem Geist.
      Keine er Hunter war gestorben. Das war die einzige Bedingung, die sich die junge Rubra selbst auferlegt hatte.
      Schwere Atmezüge verließen Syleas Körper. Sie würde diese Gewalt allzeit bereit in Griffweite lassen für alle jene, die sich ihnen nun in den Weg stellten. Sollte kommen, wer wollte - sie würde sie hier raus schaffen. Endlich besaß sie die zweifelhaften Mittel, um etwas auszurichten.
      Anifuris in ihr lächelte.
      "Wir gehen jetzt", hauchte Sylea entschlossen, all dies würde einen hohen Tribut von ihr fodern. "Ich finde deine Schwester. Und dann bekommt ihr das Leben, das euch gehört." Ihre Worte ließen keinen Raum für Zweifel.
      Nicht jetzt.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Etwas Sanftes streifte beruhigend seine Aura und Cain begriff, dass Sylea sich nach seinem Wesen ausstreckte. Das Ungelichgewicht und die Leere, die er allgegenwärtig spürte, verklang jeder Sekunde ein wenig mehr, während sie die Lücken in seiner Aura ausfüllte. Die junge Rubra stabilisierte ihn auf Auraebene und dem Seeker wurde das erste Mal schmerzlich bewusst, dass Anifuris nicht nur an ihm gerissen hattte sondern ihm Teile seiner selbst gestohlen hatte. Seine Finger zuckten überrascht, wo sie ihren Körper sicher und fest hielten, während sein Gesicht wieder ein wenig Farbe annahm. Und doch blieb ein zartes Summen auf seiner Haut, wo der Silberstreif ihrer Aura zum Teil seiner eigenen geworden war. Das Gefühl war beinahe zu viel und zu intensiv.
      Der Seeker fokussierte das erste Mal seit Anifuris von ihm abgelassen hatte wieder den Blick auf Sylea. Die Kälte in ihren Augen jagdte ihm einen Schauer über den Rücken und fast befürchtete er, dass Anifuris ihn erneut ansah. Es war zutiefst beunruhigend Zeuge zu sein, wie Sylea selbstverständlich über die Gabe der fremden Seele verfügte und die Hunter in seinem Rücken umfielen wie leblose Marionetten.
      Eine eisge Kälte streifte aufgrund ihrer körperlichen Nähe ebenfalls sein Aura als Anifuris seine Macht ein letztes Mal entfesselte und den breitschultrigen Hunter zu Fall brachte. Die Worte, direkt an ihn gerichtet, lösten eine angespannte Reaktion aus. Die Schultern des Seekers strafften sich und er festigte den Halt um ihren zierlichen Körper.
      "Nicht.", in seinem Wispern lag ein unterschwelliges Flehen. "Erwähn nicht meine Schwester. Nicht jetzt."
      Die Wunde, die Anifuris in die Tiefen seiner Seele gerissen hatte war zu groß. Der nagende Zweifel hatte sich wie ein Parasit in seinem Kopf festgesetzt. Ein falscher Gedanke an Cordelia und er würde keinen einzigen Schritt mehr gehen können. Welchen Sinn hatte es, all das auf sich zu nehmen, wenn sie schon längst fort war? Aber er würde sein Versprechen gegenüber Sylea halten und sie hierhaus bringen. Die plötzliche Flucht würde sie vor große Probleme stellen. Cain hatte eine grobe Idee wohin sie gehen würden, aber dort angekommen würde es hässlich werden. Der Seeker hatte sich nicht vorbereiten können. Er hatte keine Notreserven den Blind Eye dabei. Nichts außer die Kleidung, die er am Leib trug.
      Also nickte er nur schweigend und zwang seine Füße, sich in Bewegung zu setzen. Zielstrebig ging er durch die verwaisten Korridore, bis sie den Fahrstuhl erreichten.
      "Ich weiß nicht, was uns oben erwartet. Vermutlich mehr Hunter.", murmelte er immer noch mit einem blassen Ton in seiner Stimme. Das Signal des Aufzuges ertönte und Cain trat hinein. Mit dem Ellbogen stieß er gegen die Steuerkonsole und der Aufzug ruckelte, als er los fuhr.
      Als die Türen sich wieder öffnete, erwartete sie der Anblick einer großen aber kargen Empfangshalle. Die Anwesenden Hunter und Angstellte blickte mit großen Augen auf die Neuankömmlinge. Sämtliche Muskeln in seinem Körper spannten sich an, bereit zu rennen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Den Weg zum Fahrstuhl und hinauf glich einem Fiebertraum. Erst als sich die Türen oben zu der Empfangshalle öffnete und Sylea spürte, wie sich Cains Körper unter ihrer Last anspannte, wachte sie aus ihrem Dämmertraum auf.
      Bei all den Augenpaaren, die plötzlich auf sie gerichtet waren, glaubte sie gleich wieder ohnmächtig zu werden. Die drei Hunter unten auszuschalten war schon extrem anstrengend gewesen. Wie sollten sie es durch die schiere Masse an Menschen schaffen? WENN es denn alles Menschen waren?
      Du bist immer noch eine Rubra. Nutze es.
      Ich hab das noch nie gemacht! Ich wusste gar nicht, dass wir das können!
      Schön. Ich zeig dir eine, die zusammen mit mir euch hier rausholt. Dafür musst du dich aber auf deinen kleinen Seeker verlassen.
      Sylea zögerte keine Augenblick. Kaum hatte sie sich entschieden, setzten sich auch die Leute in der Halle in Bewegung. Es brach regelrecht Panik aus, als Cain auf einmal losrannte, die Menschen in der Halle konfus in alle Richtungen explodierten und Sylea ihr Blut von der Platzwunde an der Stirn mit ihren Fingern aufsammelte. Während dieses Chaos zeichnete sie fünf Runen auf ihren geschundenen Unterarm und zog abschließend eine gerade Linie durch alle Zeichen hindurch. Anifuris Aura brach kurz hervor, sie explodierte regelrecht und verteilte sich im ganzen Raum. Sie überspülte alle Anwesenden hier mit unbändiger Macht. Zeitgleich verlor Sylea das Bewusstsein und sackte kraftlos in Cains Armen zusammen. Just in dem Moment blieben alle Fremden im Raum stehen.
      Dann brach das wahre Chaos aus.
      Ohrenbetäubende Schreie erfüllten die Höhen der Halle, als die Soldaten aufeinander losgingen. Die Rune für Trugbilder gepaart mit Anifuris Manipulation brachte die Soldaten dazu, Freund von Feind nicht mehr unterscheiden zu können. Die Geräusche waren unmenschlich, das Chaos perfekt, als sich die Männer und Frauen gegenseitig bekriegten. Der einzige Weg, wie sie es unbeschadet hier raus schafften.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Die Lungen brannten gequät bei jedem Atemzug. Ohne den Blick schweifen zu lassen, rannte Cain durch die Empfangshalle und versuchte die grausigen Geräusche und Schreie auzublenden. Er konnte sich den Gedanken nicht erlauben, dass auch Unschuldige nun die Macht der alten Seele zu spüren bekamen. Um ihn herum herrschte das blanke Chaos, aber es sicherte ihnen den Fluchtweg. Mit der Schulter stieß er schwungvoll gegen die schwere Glastür, die nach draußen führte. Endlich atmete er frische und ungefilterte Luft, kühl und klar, da die Nacht bereits hereingebrochen war.
      Die junge Frau in seinen Armen hatte das Bewusstsein verloren und obwohl sie in seinen Armen so federleicht erschien, begannen seine Arme unter der erschlafften Last zu zittern. Zu Fuß würden sie keinesfalls entkommen können, also nutzte Cain das gegenwärtige Chaos und eilte zu den geparkten Fahrzeugen herüber. Ein schwarzer Jeep, der erste in der Reihe und zu seinem Glück nicht abgeschlossen, wurde ausgewählt. Mühevoll bugsierte er den leblosen Körper der Rubra auf den Beifahrersitz und legte den Gurt an, damit sie nicht umfiel oder vom Sitz rutschte.
      Kurz fiel sein Blick auf das Blut an ihrer Stirn. Seine Finger schwebten wenige Millimeter vor ihrem Gesicht, als wollte er das Rot von ihrer Haut wischen, aber er tat es nicht und zog die Hand zurück. Wenn es stimmte, was Sylea sagte, würde der Schaden den er angerichtet hatte sich bald von selbst beheben. Als er die Beifahrertür schloss, lehnte sich der Seeker kurz gegen den Wagen. Er schob sich das verschwitzte Haar aus der Stirn und schluckte die aufkommende Panik herunter. Der Schock ließ immer mehr nach und die Realität traf ihn wie ein Vorschlaghammer mitten ins Gesicht. Ruckartig richtete sich Cain auf und setzte sich wieder in Bewegung.
      Wie auf Autopilot ließ er sich auf den Fahrersitz gleiten und griff unter das Armaturenbrett. Mit ein wenig grober Gewalt entfernte er die Kunsstoffabdeckung und zog eine kleine Konsole heraus. Das kleine rote Licht darauf blinkte ihn fast spöttisch an, ehe er es vonden Kabelsträngen abriss und aus dem Fenster warf. Bei all ihrer Technik waren die Peilsender arg veraltet. Geschickt zog er ein paar weitere Kabel hervor und hielt die Stränge prüfend aneinander. Nach wenigen Versuchen sprang der Motor an und der Seeker atmete erleichtert auf.
      Plötzlich ertönte ein Schuss neben dem Fahrzeug. Ein kleiner roter Punkt bewegte sich durch die Heckscheibe und richtete sich auf den Rückspiegel. Automatisch blickte Cain nach hinten und erkannte Jocelyn auf dem Dach des Gebäudes.
      Es war ein Warnschuss gewesen. Ein weiteres Mal würde sie nicht daneben schießen. Mehr konnte die Soldatin nicht für ihren Freund tun. Zumindest konnte ihr niemand so vorwerfen, dass sie es nicht einmal versucht hatte.
      Ohne ein weiteres Zögern trat der Seeker auf das Gaspedal und ließ den Motor aufheulen. Das Tor am Ende des Weges durchschlug er mit voller Geschwindigkeit, als sie dem Gefängnis aus Beton den Rücken zu kehrten. Bis zu ihrem Ziel würden sie ein paar Stunden unterwegs sein. Es würde nur für ein oder zwei Tage sein, vielleicht länger, je nachdem wie lange sie beide brauchten um sich zu erholen.

      Das Adrenalin hatte ihn für Stunden wach gehalten, aber auch Cain spürte schon bald die bleierne Schwere der Erschöpfung in den Knochen. Mit müden Augen und nun einem gemächlichen Tempo bog er einen alten Waldweg hinein. Der Weg war beinahe von der Vegetation des Waldes komplett eingenommen worden und auch die notdürftige Hütte am Ende, zwischen wuchernden Hecken und Efeu, dass fast die ganze Hauswand bedeckte, war in keinem besseren Zustand. Hier abseits der Zivilisation würde sie so schnell keiner ausfindig machen.
      Das letzte Mal war Cain als kleiner Junge hier gewesen. Die Jagdhütte hatte seinem Großvater gehört.
      Der Motor des Jeeps verstummte und der Seeker gönnte sich einen Moment zum Verschnaufen. Die Stirn landete schwer auf dem Lederbezug des Lenkrads. Er brauchte Schlaf. Träge stieg er aus dem Auto und hob Sylea aus dem Beifahrersitz. Er hatte fast auf den Fahrt mit dem zweifelhaften Vergnügen von Anifuris Gesellschaft gerechnet, aber auch die alte Seele war stumm geblieben.
      Mit dem Fuß öffnete er die störrische Tür, die hinter ihm quietschend und ächzend ins Schloss viel. Es war dunkel, nur das fahle Licht des anbrechenden Tages drang durch die verstaubten Fenster hinein. Vorsichtig legte er Sylea auf dem alten, durchgelegnen Sofa ab.
      Erst als die junge Frau ruhig und scheinbar friedlich auf dem alten Möbelstück lag, sank Cain in sich zusammen. Der hochgewachsene, junge Mann setzte sich mit dem Rücken zur Couch auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Der kommende Atemzug klang schwerfällig und war begleitet von einem Laut, der erschöpft und gleichzeitig herzzerreißend klang.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Als der Motor des Jeeps aufheulte und die Flucht der Beiden ankündigte, stand Helyon im zweiten Stockwerk vor Fenster. Er hatte eine Hand an das kalte Glas gepresst, die Mundwinkel in eine wirre Art der Verzückung angehoben.
      Er hatte das erste Mal einen Blick auf das Mädchen mit dem alten Bewusstsein werfen können.
      Innerhalb Bruchteilen hatte sich Syleas Erscheinung in seinem Geist eingebrannt. Er brauchte nicht die Aurensignatur von Anifuris, um sie zu verfolgen. Er würde sie anhand des Seekers ausfindig machen. Eine Jagd in dem Kaliber hatte schon lange nicht mehr gehabt. Die Muskeln in seinen Extremitäten begannen leicht zu zittern wie die eines Jagdhundes, kurz bevor er losgeschickt wurde, um das geschossene Wild zu apportieren.
      Dann flog auf einmal die Tür auf und ein Hunter stand mit geweiteten Augen im Türrahmen. "Sir, in der Haupthalle ist die Hölle ausgebrochen! Die Soldaten bekriegen sich alle selbst!"
      Helyon wandte sich um. Noch immer lag dieser Ausdruck in seinem Blick, der den Hunter direkt zwei Schritte rückwärts schickte. Anifuris war ein Aurenmanipulator. Hatte der Seeker ihnen das verschwiegen?
      "Dann gehen wir das mal unter Kontrolle bringen", flötete er in Aussicht auf eine Jagd.

      Sylea hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
      Als sie das erste Mal seit der Flucht spürte, wie ihr Bewusstsein langsam in ihren Körper zurückkehrte und ihre Lider zu flattern begannen, fühlte sie nichts anderes als eine bleierne Schwere auf ihr. Bevor sie sich auch nur einen Hauch bewegte, öffneten sich ihre Augen behäbig und fanden sich an einem fremden Ort wieder. Sofort schoss Adrenalin in ihre Adern. Sie kannte den Ort nicht, wusste nicht, wo sie waren und vielmehr mit wem sie hier war. Ihre Augen machten eine hölzerne Decke aus, die in ebenso hölzernen Wänden überging und durch staubige Fenster Lichtstrahlen in das Innere der Hütte fallen ließ. Ihre Schulter spürte sie bereits nicht mehr, aber das Bein war eine völlig andere Nummer. Fleischwunden heilten bei ihr extrem schnell, mit Brüchen war der Sachverhalt etwas langwieriger. Außerdem brannten die gereizten Nerven in ihrem Knie wie Feuer und forderten mit beständiger Grausamkeit einen immensen Teil von der Wahrnehmung des Vessels.
      Mit unbändiger Entschlossenheit verbannte Sylea die Schmerzen ihres Knies aus ihrer Wahrnehmung. Dafür hatte sie nun keine Zeit. Langsam wandte sie den Kopf, als sie lediglich ein gleichmäßiges Atmen vernahm, das einzige Geräusch außer dem Knacken des Holzes der Hütte. Sie sah Cains, dessen Kopf nach vorn gesackt zu sein schien, vor dem Sofa sitzen und scheinbar schlafen. Bei diesem Anblick brachen bei dem Mädchen die Dämme. Sie hielt sich die Hände vor den Mund, damit sie jeglichen Laut bereits im Keim erstickte. Leise, unbemerkte Tränen rannen über ihr Gesicht, als sich Reue, Erleichterung und die Anspannung entluden. Er hatte sie tatäschlich aus der Einrichtung gebracht. War anscheinend unverletzt daraus hervorgegangen und hatte sie darüber hinaus nicht allein gelassen. Er war hier an ihrer Seite geblieben - wobei sie wusste, dass er schlichtweg keine Alternative hatte. Ginge er zurück, würde er wahrscheinlich schlimmere Konsequenzen erwarten können.
      Es dauerte einen Augenblick ehe sich Sylea wieder im Griff hatte. Mit groben Bewegungen wischte sie sich über die Augen bevor sie sich vorsichtig etwas aufsetzte. Ihr Knie stach fürchterlich weshalb sie es so wenig wie ging bewegte. Aber es hielt sie nichts mehr. Sie erinnerte sich nur zu gut, wie Cain sie bei ihrer Flucht angesehen hatte. Welche Untiefen Anifuris Worte bei ihm aufgerissen hatten.
      Ungelenk streckte Sylea die Arme nach Cain aus. Ihre schmalen Arme legten sich über seine Schulter und schlossen sich vorne auf der Höhe seiner Schlüsselbeine. Seinen Kopf legte sie an ihre Brust, ihr Kinn auf seine zerzausten Haare. Alle warnenden Impulse in ihr, die wie schrille Sirenen zu heulen begannen, brachte sie gewaltsam zum Schweigen. Das hier war anders, er war anders.
      "Es tut mir so, so unfassbar leid", hauchte sie in die Stille während sein ganz eigener Geruch in ihrer Nase kitzelte, "du hättest mir niemals so wehgetan, wie es sein musste. Das wissen wir beide. Aber du hättest mich einfach zurücklassen können. Dich ganz weit von mir entfernen können. Aber das hast du nicht."
      Sie machte ein paar ruhige Atemzüge. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn durch ihre Berührung geweckt hatte. Doch das war auch nicht der ausschlaggebende Punkt gewesen.
      "Ich bin dir so unendlich dankbar. Für alles bis jetzt."

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Die Erschöpfung grub sich tief bis in seine Knochen, während Cain versuchte seine Atemzüge wieder in den Griff zu bekommen. Jedes Einatmen fühlte sich wie eine Qual an, als würde nicht genug benötigter Sauerstoff seine Lungen erreichen. Der Seeker erkannte die ersten Anzeichen einer Panikattacke und presste die Handballen gegen seine Augen, hinter denen seine eigene Aura schmerzhaft pulsierte. Wie viele Minuten vergingen, konnte er am Ende nicht mehr sagen, während er sich zwang ruhig zu atmen. Die goldene Aura glühte und pulsierte mit jedem Heben und Senken seiner Schultern, ein schwacher Puls, der eine bleiernde Schwere in den Raum entsandte.
      Der Seeker hörte nichts außer das Rauschen seines Blutes in den Ohren, ein dumpfes Summen, das alles andere in seiner Umgebung übertönte. Anifuris hatte Mauern und Dämme in seiner Seele eingerissen und sie freigelegt wie einen offenen Nerv. Das Gefühl völlig schutzlos und offen dazuliegen, war überwältigend und furchteinflösend. Die geistige Tür in seinem Kopf weit offen und er hatte nicht die Kraft sie zu schließen.
      Ein zartes Gewicht legte sich über seine Schultern und augenblicklich verspannte sich sein ganzer Körper. Muskeln und Sehnen zum Zerreißen gespannt. Arme schlossen sich um ihn, legten sich tröstlich um ihn. Der erste Impuls sanfte eine Ruck durch den gesamten Körper des jungen Mannes. Jeder Nerv in seinem Körper schien danach zu schreien, sich aus den Armen zu lösen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Sylea zu bringen. Es konnte nur sie sein, die ihn umarmte und langsam klärte sich die verschwommene Wahrnehmung am Rande seines Sichtfeld. Warmer Atem berührte seinen Scheitel und er nahm ein gänzlich neues Geräusch war. Ein sanfter Herzschlag, der nicht sein eigener war und einen beruhigenden Rhythmus schlug. Wie eine kraftlose Puppe ließ sich Cain ein wenig zurückziehen, ehe sein Kopf an Sylea ruhte.
      Zitternde Finger schlossen sich um ihren Unterarm, die Berührung war so federleicht, als traute er sich selbst mit seinem Vorhaben nicht. Er hatte sich innerlich geschworen, Abstand zu ihr zu halten und kein Risiko einzugehen. Das Erlebte sollte sich nicht noch einmal wiederholen. Das Schlimmste war, dass Anifuris ihm diese Gefühle nicht aufgezwungen hatte. Er hatte keine fremden Impulse in seinen Kopf gesetzt sondern nur das befeuert, was längst vorhanden war. Die ungebändigte Wut, angestaut über Jahre und nun hatte er seinen Zorn an jemand Unschuldigen ausgelassen, nachdem die alte Seele seine Hemmschwelle komplett niedergerissen hatte.
      Cain schlug die Augen auf, die golden im fahlen Licht der aufgehenden Sonne schimmerten. Er würde bald eine Fahrt in die nahegelegene Stadt wagen müssen. In dieser Hütte war nichts, das ihnen helfen konnte und sie brauchten Vorräte, Kleidung und vieles mehr. Und er musste es erledigen, bevor er dazu nicht mehr in der Lage war. Aber Gedanke rückte in weite Ferne, als Slyea zu sprechen begann.
      "Wie kannst du das sagen, nachdem was ich getan habe?", flüsterte Cain rau in die Stille der Hütte und klang dabei weder überrascht noch wütend. Seine Stimme war leer und bar jeder Emotion. Und dennoch, der Seeker rühte sich ein wenig in den Armen und entgegen seiner tonlosen Stimme lehnte er sich zögerlich gegen Sylea. Die Tatsache, das die junge Rubra ihn zu trösten versuchte, legte sich wie Balsam über seine zerfetzte Seele. Er gierte danach wie ein Verdurstender nach Wasser. Dabei sollte er aufstehen und versuchen den Schaden zu mildern, den er an ihrem Körper angerichtet hatte, aber konnte sich nicht bewegen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea verharrte einen Augenblick als sie merkte, dass Cain gar nicht schlief. Sie hatte ihn einfach überfallen und anstelle sich ihr zu entziehen war er nur in eine Starre verfallen. Starre aus Angst vor dem, wer nun sprechen würde? Dass es nicht Sylea war, die ihre Worte an ihn richte? Starre aus gewaltsam auferlegter Ruhe, damit er sich nicht wie ein Derwisch von ihr löste?
      Seine Worte waren es, die ihre Vermutungen im der Luft verblassen ließen. Sachte spürte sie, dass er sich nicht von ihr entzog, sondern vielmehr in ihre Arme legte. Dieses Gefühl war neu für die junge Rubra. Unbekannt und gleichermaßen so schön, dass sie fast vermutete, man könne danach süchtig werden.
      "Weil du mich nicht umbringen willst wegen dem, was in mir ist."
      Das war das Offensichtliche. Sie traute sich nicht ihm vollendes zu sagen, was in ihr vorging. Zu tief saß die Angst, dass man die Worte gegen sie verwenden konnte. Zu stark würde der Schmerz sein, wenn er sie ablehnte.
      "Ich habe alles in deine Hände gelegt. Du hättest mich einfach irgendwo aussetzen und verschwinden können. Aber stattdessen bist du jetzt hier." Ihre Arme um ihn schlossen sich kaum merklich fester. "Ich hätte Jahre in der Zelle da unten sitzen können und entweder vereinsamen können oder die gleichen Torturen wie in der Kathedrale erleben müssen. Ich weiß nicht wie es gelaufen wäre, wenn du mich nicht gefunden hättest." Sie schwieg einen Augenblick. "Es tut mir leid, dass ich dich anfangs dafür gehasst habe, mich den Huntern auszuliefern."
      Im Endeffekt hatte das Schicksal eine Route eingeschlagen, die gar nicht so verkehrt war. Zwar waren sie nun zwei Vogelfreie, aber immerhin auf freiem Fuß. Wenn sie es klug anstellten, dann konnten sie beide ihrem persönlichen Ziel nun ein Stück näher kommen als je zuvor. Sofern Sylea eine gute Beziehung zu der Seele in ihr pflegte, die offensichtlich ihrer eigenen Agenda folgte.
      Unabsichtlich lief Syleas silberne Aura wieder zu Cain über. Wie ein Samttuch legte sie sich über die geschundenen Goldfetzen, die Cains Aura nun mehr war.

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    • "Weil du mich nicht umbringen willst wegen dem, was in mir ist."
      Ein Satz, der wiederspiegelte, welche Grausamkeiten Sylea in ihrem bisherigen Leben erfahren hatte. Wie einsam musste sie gewesen sein, wenn sich niemand in ihre Nähe wagte und die einzige stetige Präsenz eine alte, fremde Seele in ihrem Kopf war. Die Schultern den Seekers erbebten unter einem harschen Atemzug. Natürlich, Sylea stellte eine enorme Gefahr da. Selbst Cain hatte sich von dem äußeren Erscheinungsbild täuschen lassen und Anifuris deshalb unterschätzt.
      "Warum sollte ich das tun? Es ist nicht deine Schuld. Ich bin kein Mörder...", wisperte er nur leise und kaum hörbar. Er war nicht mehr als ein gut dressierter Spürhund. Er war ein Narr, das wusste er. Es war nicht die Schuld der Rubra, aber das änderte nichts an der tödlichen Gefahr in ihrem Körper. Vermutlich würde ihn sein Mitgefühl für das Mädchen noch ins eigene Grab bringen. Aber er hatte ohnehin nicht mehr viel Zeit und so lange er noch bei klarem Verstand war, würde er zulassen wonach sich seine eigene Seele sehnte. Während sie sprach, brachte Cain auch die zweite Hand auf ihren Armen zu liegen, der Griff sich hauchzart verfestigte, als wolle sie verhindern, dass er aufstand und sich ihr wieder entzog.
      Kopfschüttelnd lauschte er der Vessel und als sie schwieg lehnte er den Kopf ein wenig zu Seite und schließlich weiter in den Nacken. Aus dem Augenwinkel erblickte die bernsteinfarbene Iris das schwach beleuchtete Profil der jungen Frau. Sie sah blass aus, aber der Blick war klar. Er selbst musste aussehen wie der wandelnde Tod mit den tief eingegrabenen Augenringen.
      "Da gibt es nichts zu verzeihen." Er wagte es noch immer nicht lauter zu sprechen als ein Flüstern. "Und du bist jetzt frei. Versprich mir auf dich aufzupassen." Die Worte klangen bereits nach einem verfrühten Abschied, als würde Cain sie nicht weiter auf ihrem Weg begleiten. Der Seeker schloss die Augen, als er spürte, wie die silbrige Aura ihn einhüllte. Die unruhigen, chaotischen Wellen seiner eigenen beruhigten sich unter der fremden Aura, die eigentlich gar nicht mehr so fremd erschien. Ein Schaudern lief durch den Körper des Seekers und mit halbgeschlossenen Augen suchte seine Hand blind nach ihrem Gesicht. Eiskalte Finger streiften ihre Wange.
      "Ich bin okay. Du musst dich ausruhen..."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Man sagt, es gibt diesen Moment, in dem alles stimmt.
      Die Zeit, der Ort, die Personen.
      Du legst dein Herz offen, zeigst dich verwundbar.
      Und dann kommen diese Worte, die sich tief in dein Fleisch schneiden.


      Wenn Sylea eines wusste, dann dass sie nie mehr wirklich frei sein würde. Anifuris hatte die Wahrheit gesprochen, alles andere ergäbe keinen Sinn. Tief in sich spürte sie, dass seine Anwesenheit wie eine Flamme des Lebens in ihr brannte. Verließ diese Flamme sie, würde ihr Körper verwelken und absterben.
      Asche zu Asche. Staub zu Staub.
      Wie sollte ein junges Vessel wie sie in der Lage sein, allein auf sich aufzupassen. Man würde sie bis ans Ende ihrer Tage jagen wie ein bunter Hund. Ganz davon zu schweigen, dass sie auch nie sagen konnte, ob das zweite Bewusstsein in ihr sie so ziehen ließ oder sich eines Tages langweilte und ihren Geist für seine Zwecke brach. Denn so wollte sie definitiv nicht gehen.
      Cains Worte klangen nach dem Abschied, den sie nicht einmal in weiter Ferne hatte erspähen können. Soweit reichten ihren Augen nicht, trauten sich nicht, in das zu sehen, was sich Zukunft schimpfte. Syleas Kiefermuskeln traten unmerklich hervor weil sie darauf nichts erwidern konnte. Oder wollte.
      Unter ihr spürte sie, wie Cain erschauderte. Ein fahles Lächel stahl sich auf ihre Lippen da sie wusste, dass sie diesen Schauer ausgelöst hatte. Genauso wusste sie auch, dass es keine Reaktion war, die man als negativ auffassen konnte. Doch es waren seine eiskalten Finger die verrieten, wie sehr ihre Wangen gerade brannten.
      "Deine Aura ist mit Löchern übersäht. Nicht meine...", murmelte Sylea ebenso leise. Wäre die Situation anders hätte sie gelacht aufgrund dessen, dass keiner von beiden sich traute, die Stimme zu heben.
      Trotz des zertrümmerten Knies hatte sie den Eindruck, dass sie jetzt gerade die Stärkere von ihnen beiden war. Er hatte soviel für sie getan, jetzt wollte sie ihm zumindest die Minuten Ruhe schenken, die sein Körper sehnlichst verlangte. Unterdessen hatte sie ihren Kopf gesenkt, sodass ihr Kinn in seiner Halsbeuge ruhte. Eigentlich war sie genauso müde wie er. Eigentlich waren sie beide mehr als am Ende. Sie hörte, wie Cain neben ihr noch immer gleichmäßig atmete. Hin und wieder streifte sein Atem ihr Ohr. Nun war sie es, die schauderte. Es erstaunte sie selbst, wie gut sie mit Berührungen mittlerweile klarkam. Vermutlich lag es daran, dass sie diesem jungen Mann ihr Vertrauen schenkte. Wusste, dass er ihr nie Schaden zufügen würde, der ihr Ende bedeuten konnte.
      In diesem Moment gab es nichts, was ihr durch den Kopf ging. Nur ihre leisen Atemzüge, die sich gemächlich aufeinander einstellten.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Unter seinen Fingerspitzen fühlte sich ihre Haut wunderbar warm an im Gegensatz zu der allgegenwärtigen Kälte, die er verspürte. Dennoch die silbrige Aura vertrieb die Anspannung und den Frost aus seinen Knochen. Warmer Atem streifte in ruhigen Atemzügen seinen Hals und er bildete sich ein zu spüren, wie ihre Herzschläge langsam im selben Takt schlugen. Vermutlich lag es an der Verbindung ihrer Auren, die sich anfühlten, als verschmolzen sie zu einer Einzigen. Der Seeker konnte nicht mehr ausmachen, wo das Gold anfang und das Silber aufhörte, dass die Lücken seiner unbeständigen Hülle ausfüllte.
      Cain schloss die Augen und genoss für eine kurze Weile die friedliche Stille. Er hörte und spürte nur ihren Atem auf seiner Haut und die Wärme ihres Körpers in seinem Rücken. Vorsichtig lehnte er den Kopf zu Seite, bis er am Haupt der Rubra ruhte und er den Duft ihrer Haare mit jedem Einatmen wahrnahm. Unter seinen Fingern ertastete er die weichen, seidigen Strähnen ihrer Haares.
      Erst nach einer gefühlten Ewigkeit schien wieder ein wenig Leben in den Seeker zu kommen. Obwohl es ihn deutliche Mühe kostete, richtete er sich sachte auf und drehte sich leicht in ihrer zarten Umarmung um, bis er ihr in die Augen sehen konnte. Aus dem Augenwinkel erhaschte er ein Blick auf das verletzte Knie, dass sie sorgsam in einer Schonhaltung hielt. Seine Hand hielt noch immer behutsam ihr Gesicht.
      "Gibt es etwas, dass ich tun kann?", flüsterte er. Scham flackerte in seinen Augen auf, beim Anblick der Verletzung.
      Das erste Mal seit dem tragischen und grausamen Vorfall in der Zelle suchte er den direkten Blickontakt mit ihr, während sein Daumen über den Schwung ihres Wangenknochens fuhr. Er war ihr so nah, dass sie dieselbe Luft atmeten und er jede farbliche Unebenheit in ihren graubraunen Augen erkennen konnte.
      "Du musst Schmerzen haben...", fügte er noch hinzu. Eigentlich sollten sie sich ausruhen, ein paar Stunden schlafen, aber Cain hatte sich schon mehr bewegt, als er im Augenblick verkraften konnte. Er fragte sich, ob seine Aura sich jemals davon erholen würde und dieses furchterregende Gefühl der Verwundbarkeit irgendwann verschwinden würde.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Als sich Cains Körper rührte schreckte Sylea aus einem tranceähnlichen Zustand auf. Einen zweiten Körper mit seiner eigenen Aura abzudecken kostete Kraft, die sie nur durch eine Art der Mediation manifestieren konnte. Fast schon widerwillig gab sie ihn letztenendes frei, da sie sonst buchstäblich in seinem Gesicht gehangen hätte.
      Wobei es jetzt gerade nicht weit davon entfernt war.
      Eigentlich hätte seine Hand schon längst in Flammen aufgehen müssen. Zumindest hatte Sylea diesen Eindruck, denn sie ganzer Kopf war so heiß wie nie zuvor. So nah Angesicht zu Angesicht mit einem anderen Menschen war sie zuletzt mit ihrer Mutter, bevor sie sie mit Runen übersäht in den eigentlich sicheren Tod geschickt hatte. Jetzt aber konnte sie sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Keine Schockstarre der Welt hätte diese Unbeweglichkeit auslösen können. Sie rührte nur daher, dass Sylea nicht wusste was geschah, sollte sie sich rühren. So weit konnte sie jetzt gerade nicht denken. Alles was sie sah, waren die Bernsteine in den Augen des jungen Mannes vor ihr mit all seinen Farbfacetten.
      "Heilt mit der Zeit", waren die einzigen Worte, die das Mädchen gerade bilden konnte. Und selbst die waren so leise, dass sie sich nicht einmal sicher war, sie laut ausgesprochen zu haben.
      Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust als sich ihrer beiden Atem mischte in dieser vollkommenen Stille, die sie wie ein schwerer Mantel umschloss. Hier gab es keine Zeit mehr, keine Sorge, keine Verfolgungsängste. All das hatten sie beide für diesen Augenblick aus dem Raum dieser Hütte ausgeschlossen.
      Sylea kannte diesen Umstand nicht. Mit 9 Jahren hatten sie selbstverständlich keine Erfahrungen sammeln können. Alles was sie hatte, war die Flut an Bildern, mit der Anifuris sie einst überschwemmt hatte. Darunter war eines, das dieser Situation verdammt ähnlich war. Dieses Wissen sprang ihr überpräsent in den Sinn und sorgte dafür, dass sie fast nicht mehr atmen konnte. Ihr Herz war unversehrt, warum schlug es dann wie ein Berserker?
      Langsam zog sich Syleas Silber wieder zu ihr zurück. Kleine glitzernde Fragmente blieben im Gold zurück, die dort die Löcher hauchdünn schlossen und mit der Zeit vom Gold absorbiert werden würden. Mehr konnte sie zum aktuellen Zeitpunkt nicht tun. Auren regenerierten sich von selbst, sie brauchten nur Zeit dafür.
      "Eigentlich tut mir mein Knie gerade nicht weh."
      Ihr Geist war schlichtweg gerade nicht in der Lage, Schmerz zu fühlen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Welche kranke Natur hatte es so eingerichtet, dass Augen einem den Schmerz nehmen konnten?

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Über sein Gesicht huschte ein zögerliches Lächeln, als sie abstritt keine Schmerzen zu fühlen. Cain glaubte ihr nicht wirklich, aber er hatte schlichtweg keine Kraft für eine Diskussion. In diesem Fall würde der Seeker ihr wohl vertrauen müssen. Aber das hatte ihm schon einmal fast das Genick gebrochen. Es war ein finsterer Gedanke, der sich tief in seinem Verstand vergrub und lauerte. Anifuris war ungewöhnlich still, er spürte nicht den gerringsten Hinweis auf die alte Seele. Und bei seinem weit geöffneten Geist, wäre er sicherlich dazu in der Lage gewesen. Zumindest glaubte Cain das.
      Schweigend nickte er und nahm schließlich die Hand von ihrer Wange. Es waren nur wenige Millimeter gewesen und er hätte...Was dachte er da? Innerlich schimpfte er sich einen Narren. Die junge Frau war gerade ihrem Gefängnis entkommen, litt Schmerzen und war physischen Kontakt kaum gewohnt. Und er dachte an soetwas.
      Mit jeder Sekunde die verstrich, wurde seine Konzentration immer fahriger und die Müdigkeit nahm stetig zu. Er war seit Stunden auf den Beinen, war die ganze Nacht hindurch gefahren ohne die kleinste Pause. Vielleicht hatte er sich doch ein paar Minuten Schlaf verdient. Träge blinzelte Cain und sein Blick huschte durch den verstaubten Raum, in dem schon seit Jahren niemand mehr gewesen war. Die kleine Kochnische war verwaist und zwei Türen führen aus dem Raum hinaus. Rechts in ein kleines, schlichtes Bad und links in ein spärliches Schlafzimmer, wenn er sich recht erinnerte. Kurz spielte er mit dem Gedanken Sylea in den anderen Raum zu bringen, wo sie sich besser ausstrecken konnte. Andererseits glaubte er nicht mehr die Stärke aufbringen zu können, sie auch nur einen Meter weit zu tragen.
      "Sag mir, wenn es dir zu viel ist...", murmelte er eine leise Warnung wie aus dem Nichts und richtete sich weiter auf den Knien auf. Behutsam schob er einen Arm in ihren Rücken, um sie ebenfalls aufzurichten. Mit Vorsicht, um das Knie nicht zu sehr zu stören, glitt er hinter Sylea auf das Sofa, ein Bein gegen die Rückelehnte aufgestellt, das andere hing geradezu auf amüsante Weise über die Sitzfläche, der Fuß fast auf dem Boden. Sanft zog er den zierlichen Körper an sich, der zwischen den angewinkelten Beinen Platz fand, bis ihr Kopf auf seinem Brustkorb ruhte.
      "Ich muss nur ein paar Minuten die Augen zumachen." Wisperte er an ihren Scheitel und war nicht gewillt, ganz von Sylea abzulassen. Obwohl ihre Aura sich von seiner zurückgezogen hatte, blieb die Wärme ihres Körpers.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Verräterisch zuckte Syleas Hand, als Cain seine von ihrem Gesicht nahm. Fast hatte sie ihr nachgegriffen, sie wieder dahin zurückgeführt, wo sie ihre brennenden Wangen lindern konnte. Aber sie riss sich am Riemen, wahrte die Starre, schürrte die Nervosität. Dann brachte er etwas Luft zwischen sich, was umgehend dazu führte, dass Sylea nach Luft schnappte. Flache Atmung war auf Dauer nicht genug, um ihre durchbrennenden Synapsen mit Sauerstoff zu versorgen. Als er sich aufrichtete und sich hinter ihr auf das Sofa schob, ließ sie ihn noch immer überrumpelt gewähren. Sie murrte leise, als sich ihr verletztes Knie bewegte und die Stiche sich wieder bemerkbar machten. Schließlich fand sie sich zwischen Cains Beinen wieder, er bildete ein warmes Körpergeflecht unter ihr.
      Das war Neuland für sie.
      In diesem Moment barst ihr unerträglich angespanntes Herz. Die trügerische Sicherheit, dass er ihr Gesicht nun nicht mehr so schnell sah, ließ sämtliche Dämme brechen. Stumm rollte eine einzige Träne ihre Wange entlang, an der vorhin noch seine Hand geruht hatte. Ihr Körper hatte nicht mehr die Kraft auf das zu reagieren, was ihr Unterbewusstsein ihr gerade zuschrie. Dass sie Abstand wahren sollte. Sich selbst schützen musste, niemanden an sich heranlassen sollte, der ihr etwas tun konnte.
      Und doch lag sie nun an der Brust eines Mannes, der vielleicht jetzt eine genauso bescheidene Zukunftsaussicht hatte wie sie selbst. Sie hatte ihn noch tiefer in sein Unglück gestürzt ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Trotzdem wich ihre gesamte Stärke aus den Gliedern und ließ sie schwer gegen Cains Brustkorb sacken. Unter sich fühlte sie seinen Atem, der sie leicht anhob und wieder zurückfallen ließ. Diese Art der Berührung war so lange her, dass es reinster Balsam für ihre emotionale Psyche war. Sie wollte sich fallen lassen, und sei es nur dieses eine Mal. Und sollte er sein Wort nicht halten und das alles war hier nur eine Farce: Syleas Psyche schrie nach diesem Balsam mit allem, was sie hatte.
      Noch immer wellte ein durchgehender Schauer durch ihren Köper sobald sie sich vor Augen führte, wie nah sie ihm gerade war. Doch sie schwieg, wischte die einsame Träne von ihrem Gesicht und starrte die Decke an. Er sollte sich die Zeit für eine Pause nehmen. Sie würde auf ihn aufpassen.
      Zumal das noch immer rasende Herz ihr keine Ruhe schenken würde.

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    • Von Erleichterung überflutet, dass Sylea sich vertrauensvoll gegen ihn sinken ließ, schloss Cain sanft seine Arme um ihren Körper. Die Umarmung war leicht und ließ er jeder Freiheit sich aus seinem Griff zu befreien, sollte sie es wünschen. Er verlangte gerade vielleicht zu viel von der geschundenen, jungen Frau, die in ihrem Leben viel zu selten liebevolle Nähe erfahren hatte. Federleicht berührte seine Hand ihren Hinterkopf, ehe von Sekunde zu Sekunde ein wenig mehr Druck ausübte bis er ihr beinahe zärtlich durch das braune Haar strich. Eine Geste, die in ihrer Einfachheit auch ihm eine gewisse Ruhe schenkte.
      Cain hatte sich nur selten erlaubt, einem anderen Menschen derart nahe zu kommen. Es gab schlicht und ergreifend einfach zu wenige Gelegenheiten dafür. Die Stille war nicht beklemmend, sondern hatte eine eher entspannende Wirkung auf den Seeker. Immer mehr sank er in die durchgelegenen Polster des alten Sofas, er bewegte sich nur kurz um eine bessere Position zufinden an der ihm keine störrische Feder in den Rücken stach. Seufzend schloss er die Augen und ließ sich von ihren Atemzügen und dem Duft ihres Haares in den Schlaf begleiten. Unter ihrem Ohr pochte sein Herzschlag ruhig und regelmäßig und die streichelnden Bewegungen seiner Finger ließen erst nach, als ihn der Schlaf endlich fest im Griff hatte.
      Cain erwachte von allein Stunden später, als die Sonne draußen bereits hoch am Himmel stand. Zuerst orientierungslos schlug er die Augen auf und blickte an die mit Holzbalken verkleidete Decke. Richtung, er war mit Sylea zu der Jagdhütte im Wald gefahren. Sachte neigte er den Kinn, bis der Haarschopf der jungen Rubra ihn an der Nase kitzelte. Seine Hand war während seines Schlafes in ihren Nacken gerutscht, die andere ruhte in der Mitte ihres Rückens. Sie war ruhig in seinen Armen und er konnte nur schwer ausmachen, ob sie ebenfalls schlief oder sich nur sehr still verhielt. Dennoch, es war ein schönes Gefühl mit einem warmen Körper an seiner Seite zu erwachen, oder besser auf ihm.
      Für den Augenblick vergaß er, dass sie auf der Flucht waren und ihnen bald eine ganze Horde Hunter inklusive Helyon auf den Fersen sein würde. Er vergaß das drohende Schicksal, das über seinem Kopf schwebte und ihm bald den Verstand rauben würde.
      Ohne einen großen Gedanken daran zu verschwenden, hauchte er einen zarten Kuss auf ihren Scheitel.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Cains Arme um sie lenkten Syleas Blick fort von der Decke hin zu den Stellen, wo sie ihn sich berühren sah. Früher hätte sie felsenfest behauptet, es fühle sich wie ein Käfig an, dem man immer mehr Platz mithilfe von zusätzlichen Eisenstäben nahm. Wie ein Tier wäre sie dort eingepfercht und würde die glühende Stäbe sehen noch bevor man sie zwischen die Gitter rammen würde.
      Noch immer zuckte hier und da verräterisch ein Muskel, sobald ihr Körpergedächtnis auf die Idee kam, sich zu erinnern. Doch sie hielt sich in Schach, strafte ihren Körper Lügen indem sie einfach nur Cains Herzschlag lauschte, der immer langsamer wurde und sie schließlich wusste, dass er eingeschlafen war. Langsam schlossen sich auch die Augen des Vessels, nicht weil sie müde war. Sondern weil sie einfach nur lauschen wollte auf das rhythmische Pochen unter ihr.
      Jäh schlug sie die Augen wieder auf.
      Wir sollten vielleicht ein paar Angelegenheiten besprechen.
      Er war so lange ruhig und unbemerkt gewesen, dass Sylea Anifuris schon vergessen hatte. Jetzt genau war der Moment, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte. Keine Ablenkung, keine Fluchtmöglichkeit. Nur die andere Stimme in ihrem Kopf, die vehement ihre Aufmerksamkeit forderte.

      Stunden später war Sylea nicht für eine einzige Sekunde weggenickt. Stattdessen hatte sie ein Gespräch mit der alten Seele führen dürfen, die alle anderen in ihrer bisherigen Intensität überstieg. Nicht nur hatte sie wertvolle Lektionen gelernt, vielmehr hatte er Dinge angesprochen, die sie zum nachdenken zwangen. Zum Beispiel, ob der Mann in ihrem Rücken das alles nur tat, um sie emotional zu stabilisieren und davon abzuhalten, Amok zu laufen.
      Als sie spürte, wie Cain sich langsam mehr bewegte, verdängte sie Anifuris gedanklich in die hinterste Ecke. Anstelle dessen wartete sie regelrecht ab, was nun geschehen mochte. Flippte er nun aus, nachdem er ein wenig Ruhe bekommen hatte und realisierte, dass er sich gerade an ein mordendes labiles Bündel geschmiegt hatte oder tat er genau das gleiche wie sie und wartete einfach ab?
      Alles, was Sylea wahrnahm war eine warme Berührung auf ihrem Kopf. Verwirrt zuckte ihr Kopf etwas umher und verriet damit, dass sie tatsächlich nicht schlief. Prompt kommentierte sie ihr Auffliegen: "Immerhin schnarchst du nicht."
      Beste Reaktion, die einem in diesem Moment über die Lippen kommen konnte. Aber solange sie nicht sein Gesicht sah oder sich klar vor Augen führte, wie sie beiden gerade hier lagen, dann konnte sie ihre Fassade halbwegs aufrecht erhalten. In den Stunden, in denen Cain geschlafen hatte, wandte sie Blutrunen an, um ihr Knie immerhin zu versteifen. Es half nichts, wenn sie angegriffen werden würden und sie nicht einmal humpeln konnte.
      Stattdessen horchte sie in sich und das Flackern ihrer Aura. Da sie beiden so nah waren, konnte sie leicht mit ihrem Silber ertasten, wie es um das Gold von Cains Aura stand. Es waren seichte Berührungen, mit denen ihre Auren übereinander hinweg flossen, fast wie zarte Streicheleinheiten. Ganz kurz schüttelte sich Sylea und biss sich auf die Lippe, die unterdessen schon lange verheilt war.
      "Machst du das nur, um mich emotional zu stabilisieren?"
      Diese Frage hatte sich seit Stunden in ihr festgebrannt. Schwelte wie ein Glimmspan durch die hölzerne Fassade, die ihr Wille war. Es war eine Sache, sich etwas einzureden. Eine andere, sie von jemand anderem bestätigt zu bekommen oder auch nicht. Allerdings hatte sie aufrichtige Angst, dass er eine unterschwellige Angst über ihr Gewaltpotenzial mit falsch angebrachter Zuneigung verwechselte. Allerdings wusste sie selbst nicht mal, wie sie sich selbst diese Frage beantworten sollte.
      Fühlte Sylea ihr Herz nur deshalb flattern, weil er ihr wie kein Anderer die Zuneigung schenkte, nach der sie sich so verzehrte? Oder gar der Erste war, der sie derart berühren konnte und wollte?

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Verräterisch anmutend war das Zucken ihre Kopfes unter seiner Wange. Slyea war also wach, darüber war sich Cain binnen Sekunden im Klaren. Obwohl sein Kopf bereits nach Wachsamkeit und einer gewissen Vorsicht drängte, wollte sich sein Körper einfach nicht bewegen. Die Wärme des anderen Körper hüllte ihn ein und doch waren es ihre Worte, die einen ungewohnten Laut von ihm forderten. Ein vom Schlaf tiefes und raues Lachen erklang aus seiner Kehle und vibrierte durch seinen gesamten Brustkorb. Selbst seine Stimme klang noch belegt vom Schlaf. Cain wirkte in diesem Augenblick unfassbar menschlich. Nicht wie eine Person die stets ihre Umgebung kleinlichst im Auge behielt und versuchte sich von allem abzuschotten.
      "Das beruhigt mich ungemein...", brummte er nur und klang dabei herrlich verschlafen. Die Hand aus ihrem Nacken entfernte sich und mit einem mürrischen Brummen rieb er sich über die Augen. Als er jene auschlug, blinzelte er gegen das taghelle Licht, das mittlerweile durch die staubigen Fensterscheiben schien. Wie lange hatte er geschlafen? Noch verhielt sich sein Körper trügerisch still, angesichts der unausweichlichen Bedrohung durch den Entzug des Blind Eye.
      Etwas ließ ihn erschaudern. Sein träger Verstand registrierte ihre Aura wie ein sanfte Berühung, die ihm bis unter die Haut ging. Ob sie wusste, welche Wirkung dieses Handeln auf ihn hatte? Für ihn selbst war es neu, die Aura eines anderen Menschen so nah an seiner eigenen zu spüren. Es war beinahe...intim. Cain erschauderte sanft unter sie Sylea und hätte sich beinahe in seinem Zustand wzischen völligem Erwachen und der lockenden Schwere des Schlafes dazu verleiten lassen, sie fester an sich zuziehen. Aber da stellte sie ihre Frage. Und vermutlich war es unausweichlich, dass sie gerade diese Antwort von ihm haben wollte.
      Aber hatte der Seeker ihr nicht absolute Ehrlichkeit versprochen? Cain seufzte schwer und wagte einen Blick zu Sylea, deren Kopf noch immer regungslos auf seiner Brust ruhte.
      "Nein.", war die erste, schlichte Antwort aus seinem Mund und er wusste, dass es nicht reichen würde. Die Hand in ihrem Rücken wanderte federleicht hinauf zwischen ihre Schulterblätter, wo Cain bei jedem Atemzug das Heben und Senken spüren konnte.
      "Ich tue das, um mich emotional zu stabilisieren.", gab er er ihre eigenen Worte zurück und fühlte den Herzschlag schwach unter seiner Hand, immerhin lag sie nur auf ihrem Rücken. "Es beruhigt mich zu spüren, wie du atmest und dein Herz schlägt. Es erinnert mich daran, dass wir es lebendig aus diesem Gefängnis geschafft haben. Das ich nicht deine Leiche hinaus tragen musste. Du hingst so leblos in meinem Armen. Hättest du nicht geatmet, hätte ich das Schlimmste vermutet.."
      Bei jeder Silber streifte sein warmer Atem ihren Scheitel. Cain zögerte, ehe er noch einmal das Wort ergiff.
      "Die Wirkung des Blind Eye wird bald aussetzen. Ich bin bald nicht mehr Herr meiner Sinne. Es wird...hässlich. Verurteile mich bitte nicht dafür, dass ich mich an das einzig Gute klammere, das mir in den letzten Jahren wiederfahren ist. Trotz allem was geschehen ist."
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    • Wenn sich so Menschen anhörten, nachdem sie frisch aufgewacht waren, dann wollte Sylea nur noch schlafende Menschen wecken. Cains Stimme klang anders, so sehr, dass sie sich fast umgedreht hätte um sich zu vergewissern, dass er es war, der da gerade gelacht und gesprochen hatte. Dann spürte sie, wie er unter ihr leicht zusammenfuhr, seine Aura schlug leichte Wellen so als wolle sie sich ihrer entziehen, und dann doch wieder nicht.
      Seine Hand wanderte ihren Rücken aufwärts und kitzelte sie dabei leicht. Sie bewegte sich leicht unter dieser Berührung bis seine Hand zum Stillstand kam. Er wollte sich selbst damit stabilisieren? Wenn sie sich recht entsinnte, wusste sie gar nichts von ihm. Wer sagte der Rubra denn, dass es mindestens genauso viele andere Menschen auf dieser Erde gab, die ein schweres Schicksal gezogen hatten. Hatte sie sich unterbewusst erdreistet und angenommen, dass sie das schlimmste Los von allen gezogen hatte? Denn das war eine unfassbare Anmutung. Immerhin war sie noch am Leben.
      ....das einzig Gute, das ihm in den letzten Jahren widerfahren war.
      Genau diese Worte schlugen nur in die Kerbe hinein, die sich bedrohlich an dem Ast auftat, auf dem Sylea gerade saß. Weder würde sie den Mann dafür verurteilen für das, was ihm andere angetan hatten noch dass er nun etwas festhielt, wie sie es ebenfalls tat. Auch sie hielt sich krampfhaft an etwas fest, um nicht vollends in der Dunkelheit der schwarzen Zukunft unterzugehen. Ihr Silberstreif vibrierte kurz, um sich dann wieder suchend nach Cain auszustrecken. Sie wollte wissen, fühlen, dass er die Wahrheit sprach. Dass da kein Zweifel war, er seine Worte so meinte, wie er sie sagte. Dass es im jetzt gerade verhältnismäßig gut ging.
      Endlich löste sich Sylea aus ihrer Starre. Sie drehte ihren Oberkörper sowie die Hüfte bis sie auf der Seite lag, das verletzte Bein noch immer auf dem Sitzteil des Sofas liegen. Das andere Bein hatte sie etwas darüber vorgezogen, um nicht nach vorn runterzufallen. Zwar hatte sie nun sein eines Bein im Rücken, aber das war ihr egal. Dafür hatte sie ihre rechte Hand nun rechts an der Rückenlehne aufgestellt, damit sie Cain ansehen konnte. Ihr linke ruhte auf seinem Beckenknochen.
      "Wieso sollte gerade ich jemand anderen verurteilen? Ich verstehe besser als alle anderen, wie sehr man sich an etwas festkrallen kann weil es das Einzige ist, das einem bei Verstand hält."
      Syleas Augen spiegelten ganz kurz den Schmerz wider, der tief in ihren Knochen saß. Sich in ihr Herz gebohrt hatte und schwarzes Blut darauf hervortropfen ließ. Passend dazu erzitterte ihre Aura, die sich asbald darauf wieder glättete und wieder damit begann, das Gold nach Lücken abzusuchen.
      "Wir bringen dich da durch", fügte sie leiser hinterher als sie sich langsam wieder in Cains Augen verlor.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Hinter der bernsteinfarbenen Iris flackerte ein das falmmende Glühen seiner Aura auf. Es war ihm unmöglich zu verhindern, dass sich das vorsichtige Tasten ihres eigenen Silberstreifs sich in seinem Blick wiederspiegelte. Die goldene Aura öffnete sich mit jeder suchenden Berührung mehr und mehr. Für Cain fühlte es sich an, als würde Sylea seine blanken Nerven berühren. Auf ihrem Rücken zuckten seine Finger ruhelos über den dünnen Stoff ihrer Shirts. Überdeutlich fühlte er die Wärme ihrer Haut selbst durch den Stoff hindurch.
      Sanfte Wellen schlug ihre Aura über die Oberfläche seiner eigenen, wie zwei Meeresströmungen, die in der unendlichen Weite des Ozeans aufeinander trafen, sich umspielten und in einem Wirbel umeinander tanzten. Nein, Sylea konnte unmöglich ahnen, was sie damit in dem Seeker auslöste. Die feinen Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich schaudern auf. Es war nicht unangenehm. Viel mehr fühlte es sich zu gut an, zu verlockend. Erst die Bewegung ihre Körpers schien ihn aus der Trance zu reißen und beförderte ihn gleich in das nächste Chaos. Anstatt nur ihre Aura so unglaublich nah an ihrer eigenen zu fühlen, war es auch nun auch ihr zierlicher Körper, den er überdeutlich wahrnahm.
      Im selben Augenblick, als sich ihre Blicke trafen, spürte er die Hand so warm auf seinem Beckenknochen. Durch den Stoff seines T-Shirts brannte sich die Wärme in seine Haut und verewigte sich tief in der Struktur seiner Knochen. Sie war so nah, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Die Tatsache, dass er jede kleinste Regung ihres Körpers auf seinem eigenen fühlen konnte, machte es nun mal nicht besser.
      Die überwältigende Nähe ihrer Auren, ihre noch immer suchend und fast streichelnd über seiner, und der physischen Nähe ließ den letzten Knoten in seinem Kopf platzen. Behutsam schob er seine Hand in ihre braunes Haar und schob die verwirrten Strähnen aus ihrer Stirn.
      "Ich wünsche, ich könnte daran glauben so wie du.", murmelte er nur leise und blickte in die tiefen ihrer Augen. Das glühen seiner eigenen schien sich von Sekunde zu Sekunde mehr zu verstärken. Sylea hüllte ihn ein, körperlich wie seelisch, vermutlich ohne es zu wissen.
      Ein langezogenes Seufzen entkam ihm und er schloss kurz die Augen, um ihrem Blick zu entkommen.
      "Bitte hass mich nicht dafür...", murmelte er beinahe geistesabwesen und hob den Kopf von der steifen Armlehne. Blind aber zielsicher fand sein Mund den ihren. Es war ein zarter Kuss, den er auf ihre Lippen drückte. Im selben Moment strömte seine goldene Aura in alle Richtungen aus, bis er die Verbindung zu dem zarten Silberstreif fand. Er griff nach Syleas Aura, prüfend und so vorsichtig. Jeder Zeit bereit sich komplett zurückzuziehen, sobald er eine verdächtige Regung bemerkte.
      Und doch stahl er diesen einen Kuss von ihren Lippen.
      “We all change, when you think about it.
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      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”