Vessels [Asuna & Winterhauch]

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • Es waren die sanften Berührungen von Fingern, die Sylea wahrlich auffielen während sie ungehindert weiter in ihrem Tantrum steckte. Ganz locker hakten sich die Finger um ihre Knöchel, ein kleiner Hinweis, dass sie da waren, sie jedoch nicht halten würden, wenn sie es nicht wollte. Nach ihrem Ausbruch war die Flut an Worten versiegt. Stillschweigend starrte sie den Bildschirm an, der den blonden jungen Mann zeigte, wie er zu seinem Kumpel hinter dem Vessel nickte. Vor Sylea befand sich ein digitales Abbild einer Person, die sie nun das letzte Mal so sah. Das letzte Mal in der Gewissheit, dass es keine Aufzeichnung war und er noch lebte. Hinter ihr, in greifbarer Nähe, saß der Seeker, der mit dem Ende dieser Unterhaltung alles verloren hatte bis auf das Mädchen, das für seinen Niedergang verantwortlich sein würde. Cain würde sie nur deshalb brauchen - als letzten verbliebenen Kontakt zu einem Menschen, dem er trauen konnte. Dank ihrer Aktionen wurde er gesucht wie ein Schwerverbrecher und wäre auf sich allein gestellt. Bitter kam Sylea zum dem Schluss, dass sie ihm mehr ein Klotz am Bein als eine Hilfe war. Sie verfügte nicht über das notwendige Nischenwissen, um in dieser Welt die Spalten zu finden, in denen sie notfalls verschwinden können würden. Sie wusste ja nicht einmal, wie man ein Ticket für einen Zug buchte. Cain wäre derjenige, der die Arbeit tat und irgendwann würde der Moment kommen, in dem er sich hinterfragte, ob seine Liebe zu ihr das alles wirklich rechtfertigte.
      Er hätte mich nie so angesehen wie dich.
      Ein feiner Nebel glitt über ihre geteilte Verbindung zu Sylea. Feine Tröpfchen schienen sich auf ihre Haut zu legen und jeder einzelne von ihnen fühlte sich an wie ein Nadelstich. Sylea blinzelte ehe sie merkte, dass es die Wahrnehmung des Seekers hinter ihr war, kaum hatte der Hacker diese Worte ausgesprochen. Wie ein Puzzle setzte sich der Sachverhalt in ihrem Kopf zusammen und brachte ihr ein wenig mehr Verständnis darüber ein, welche Beziehung diese beiden Männer einst gepflegt hatten.
      Schließlich überbrachte Jace seine letzten Worte, seine letzte Anweisung, um ihnen so viel Land wie möglich zu erkaufen bevor sich hinter ihnen die Hölle zusammenbraute. Sie alle dachten, dass Helyon schon schlimm gewesen war. Helyon war nicht mehr als eine einzelne Einheit gewesen, die höchst effektiv gewesen war in dem, was sie tat. Aber selbst er käme nicht gegen ein gut organisiertes Team an, das sie nun zweifelslos auf den Hals gehetzt bekommen würden. Und dann wurde ohne ein weiteres Wort der Bildschirm schwarz und Sylea blickte ins Nichts. Ihr war schwindelig, als ein gedehnter Atemzug die Stille durchbrach, die nach Jace's Verschwinden entstanden war. Die Wut, die sie vorhin noch verspürt hatte, war wie von Geisterhand verschwunden und hatte etwas Anderem Platz gemacht. Etwas, das Sylea nicht wirklich benennen konnte, ihr aber den Eindruck vermittelte, sie würde endlos tief fallen. Der Zug, den sie an ihrer Hand verspürte, brachte sie aus dem Gleichgewicht und sorgte dafür, dass sie abrupt in die Hocke ging. Ihr Kopf war gesenkt, die Augen starr auf den Boden vor sich gerichtet, als wäre er der einzige Anker, den sie gerade noch hatte.
      "Sie werden ihn auseinandernehmen", hauchte das Vessel und bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz anders. Dank Ascan hatte sie eine Ahnung davon, wie Randmitglieder des Rates an ihrem kindlichen Körper experimentiert hatten um zu sehen, ob ihr Bewusstsein unter Ascan noch da gewesen war oder nicht. Wie viel Schaden man anrichten konnte, ehe das Gefäß kapitulierte. Bei Jace würde es anders sein. Jace besaß Wissen, etwas, das man entweder auf ihm foltern oder sich unter seinen mentalen Barrieren herausbrechen musste. Genau dafür war Ascan der Spezialist gewesen. "Wenn er unter normaler Folter nichts sagt, werden sie ihn mental brechen. Und wenn ihnen das nicht reicht, dann schicken sie einen Marodeur hinterher. Eine Seele, die darauf spezialisiert ist, auch die letzten Informationen aus einem Lebewesen zu pressen und in seinen Geist dringt, um ihn Stück für Stück zu zersetzen."
      Sylea schüttelte es. Auf diese Idee kam der Rat erst durch ein bestimmtes Individuum, das aktuell Residenz in Sylea Körper bezog. Ascan hatte mit so vielem experimentiert, dass er irgendwann festgestellt hatte, welche Seelen man genau für diesen Einsatz nutzbar machen konnte. Und welchen Schaden er hinterließ.
      Ächzend rappelte sich Sylea wieder auf und wandte sich schwerfällig Cain zu. Helle Bernsteinaugen richteten sich auf das Mädchen, dessen Gesicht noch immer harte Züge aufwies. Es vergingen zwei Sekunden, dann kam sie zu ihm. Sie setzte sich rittlinks auf Cains Schoß und schlang ihre Arme um seinen Körper. Dann schmiegte sie sich an ihn, als wären sie beide jeweils die einzige Rettung, die der Andere noch haben konnte. Mit dem, was Jace ihnen hinterlassen hatte, mussten sie ihren Weg fortsetzen. Es gab keine Alternative mehr.
      "Du solltest nicht traurig sein. Er hat alles so gemacht, wie er es beabsichtigt hat. Wir werden die Tickets nehmen und das machen, was er von uns wollte, okay?"
    • Machtlosigkeit fühlte sich schrecklich an. Eine unglaubliche Leere brachte den tosenden Sturm aus Gedanken zu einem ruckartigen Halt. Der Raum um Cain herum gefror in Zeitlupe als Sylea unter einer Welle des Schocks in die Hocke ging. Die Welt vor seinen Augen geriet aus dem Gleichgewicht und schwankte zusammen mit dem Vessel, aus dessen Mund die grausame Wahrheit kam. Er brachte es nicht übers Herz Sylea zu sagen, dass Jace vermutlich nicht vor hatte, sich erwischen zu lassen. Der Hacker hatte für jegliche Option einen Notfallplan. Es war unmöglich, dass er nicht in Betracht gezogen hatte, sich einer Gefangennahme durch den Rat zu entziehen. Die Mittel dazu besaß er zweifellos und vor der unausweichlichen Konsequenz verschloss der Seeker rigoros seinen Geist. Gerade ertrug er es nicht, sich mit einem weiteren Verlust abzufinden während er dazu verdammt war vollkommen tatenlos in diesem leeren, leblosen Apartment zu sitzen. Selbst wenn er aufgesprungen und zur Tür gestürmt wäre, Cain hätte nicht einmal gewusst, wo er seinen Freund finden konnte.
      Sylea bewegte sich und sein Fokus schnappte zurück zur ihr.
      Ein bleischweres Gewicht drückte auf seine Schultern hinab und drohte ihn zu erdrücken. Er machte sich nicht die Mühe, die Gefühle aus seinen bernsteinfarbenen Augen zu verdrängen. Offen wie ein blanker Nerv präsentierte sich Cain und ließ Syleas gegenwärtige Aura beruhigend über sich hinweg spülen. Sie war aufgewühlt und fühlte sich schuldig, aber er nahm den Trost dennoch dankbar an. Der Goldschimmer schlug seichte Wellen, als die vertrauten Formen ihres Körper sich an ihn schmiegten bis sie eins zu sein schienen.
      Cain vergrub das Gesicht in der warmen Kurve zwischen Hals und Schulter ehe ein zitternder Atemzug die Haut dort streichelte. Arme, die sich unendlich schwer anfühlten, schlangen sich um ihren Rücken. Hände mit zitternden Fingern gruben sich in den weichen, dünnen Stoff ihres Shirts. Er drücke sie an sich obwohl es kaum möglich war sich noch näher zu sein. Cain erlaubte sich nicht aus Verzweiflung und Trauer eine Träne zu vergießen. Damit war niemandem geholfen. Er nahm sich zurück und brachte ein träges Nicken zustande.
      Dennoch kämpften sich zweifelnde Worte voller Schuld über seiner Lippen.
      "Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen, es ihm auszureden", murmelte er. "So sollte es nicht sein."
      Cain drückte seine Lippen gegen die warme Haut ihrer Halsbeuge als könnte ihn die Geste zum Verstummen bringen bevor weitere Silben aus seinem Mund entkamen. Es fiel ihm schwerer und schwerer die Emotionen im Zaum zu halten, obwohl er sein ganzes Leben lang dafür trainiert hatte. Die sorgfältig kultivierte Neutralität seiner Empfindungen war ihm abhanden gekommen. Jetzt gerade hätte er sie gut gebrauchen können um die Gefühle wie einen Handschuhe einfach abzustreifen, aber er war zu erschöpft. Nicht körperlich. Die Erschöpfung war tiefer und allumfassender während sie sein gesamten System überflutete.
      Er löste eine Hand von ihrem Rücken, lehnte sich zurück und strich eine Strähne verirrten, braunen Haares zurück hinter ihre Ohr. Die Berührung war so sanft und liebevoll als fürchtete er, Sylea könne unter seinen Fingerspitzen zerspringen wie Glas. Sie hatte vor wenigen Augenblicken noch eindeutig bewiesen, dass sie nicht wie ein zerbrechliches Porzellanpüppchen behandelt werden musste. Aber für einen Tag hatte Cain genug verloren.
      "Danke und mach dir keine Sorgen", flüsterte er. "Ich werde traurig sein. Für eine Weile. Dafür, dass ich nicht begriffen habe, wie viel unsere Freundschaft mir bedeutet hat und wie blind ich gewesen bin."
      Er nickte erneut.
      "Wir sollten schlafen. Morgen wartet ein langer Tag auf uns."
      Damit platzierte er seine Füße fest auf dem Boden und schob seine Hände unter ihre Oberschenkel. Mit Sylea fest in seinem griff stand er von der Couch auf und trug sie ins Schlafzimmer. Der dringend benötige Schlaf kam lange nicht zu Cain. Er suchte die tröstliche Nähe des Mädchen, das er liebte, und vergrub sich in ihrer Wärme. Die Kleidungsstücke lagen verstreut neben dem Bett als der Seeker jeden Zentimeter der freigelegten Haut mit zarten Küssen bedeckte und dem lebendigen Puls unter seinen Lippen spürte. Er schlief ein weiteres Mal an diesem Abend mit Sylea. Er ließ sich von ihrem Körper und ihrer Aura einhüllen. Es geschah ohne Eile und drängendes Verlangen sondern war erfüllt von Zärtlichkeit und einer Intensität, die Cains Verstand beinahe von seinem Körper löste.
      Er verlor sich nur um von Sylea gefunden zu werden.

      Als Sylea am nächsten Morgen erwachte, war Cain bereits wach.
      Ein Handtuch lag um seine Schultern und das Wasser tropfte aus seinen Haaren. Barfuß und lediglich in einer frischen, dunklen Jeans bekleidet ging er auf Zehenspitzen durch das Schlafzimmer um zwei Rucksäcke mit dem nötigsten zu füllen. Er wusste nicht, was Jace am Bahnhof für sie vorbereitet hatte, also stopfte er alles in die Taschen, was noch hineinpasste. Kleidung, Medikamente und andere Utensilien aus dem kleinen Schränkchen im Bad, ein paar Müsliriegel und Wasserflaschen aus der Küche. Der Wecker auf dem kleinen Nachtschränkchen zeigte die Uhrzeit 06:20. Es war noch reichlich Zeit bis sie die Wohnung verlassen musste. Genug damit Sylea noch einmal den Luxus einer Dusche genießen konnte. Er bezweifelte, dass sie auf ihrer Reise in vielen gut ausgestatteten Hotels nächtigen würden. Beiläufig fischte er ein Haarband aus einer Hosentasche und band die nassen Haare zu einem lockeren Knoten im Nacken zusammen.
      Nach einiger Zeit sah er auf und schenkte Sylea ein zurückhaltendes Lächeln.
      "Hey...", murmelte er und ließ sich auf der Bettkante nieder. "Wir müssen bald los."
      Er beugte sich herunter und küsste Sylea, die herrlich verschlafen aussah und ihn müde anblinzelte. Cain pfiff darauf, ob ihn ein morgentlicher Atem begrüßte, zog sich aber wieder zurück. Vereinzelte Wassertropfen lösten sich aus seinen Haaren und perlten über seinen entblößten Brustkorb bis über die vertraute Narbe hinab, die im Bund seiner Jeans verschwand. Ein paar landeten auch kühl auf Syleas Schulter. Er wirkte gefasster als am Abend zuvor, doch der Blick in seinen goldenen Augen strahlte immer noch dieselbe Erschöpfung aus. Aber er hatte gelernt zu funktionieren, was ihm nun zugute kam.
      "Aber wir haben noch genug Zeit. Du willst sicher nochmal unter die Dusche, nicht?", fragte er. "In den Rucksäcken ist noch Platz, falls dir noch etwas einfällt."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea wusste es mit jeder Faser ihres Körpers besser. Mit keinen Redekünsten der Welt hätte Cain seinen Freund, und das war Jace, von seinem Vorhaben abbringen können. Das, was in den Augen des Hackers gelegen hatte, ließ keinen anderen Rückschluss zu und selbst Ascan brachte diese Annahme nicht ins Wanken. Immerhin hatte er direkt und unverfälschten Kontakt zu Jace gehabt. Im Gegensatz zu Sylea.
      Du kannst ihm seine Last nehmen. Du weißt, wie es geht.
      Syleas Lippen zuckten obzwar des Säuselns in ihren Gedanken. Über ihr Band spürte sie, wie müde Cain war. Emotional müde, so als habe er alle Reserven aufgebraucht, die ihm zum Fühlen zur Verfügung standen. Seine Lippen an ihrem Hals waren Beweis genug dafür, dass er sich selbst die eigenen Worte abschnitt. Weil er nicht mit dem haushalten konnte, was in seinem Inneren vor sich ging. Was dazu führte, dass seine goldene Aura in unregelmäßigen Abschnitten erzitterte und unter der Last bebte. Jede Vibration ging direkt auf den Silberstreif über, der sich nahtlos an das Gold angefügt hatte.
      Ihr Brustkorb hob sich ausgedehnt, als das Mädchen einen tiefen Atemzug nahm. „Du hast etwas Wertvolles verloren, da ist trauern ganz normal. Das ist okay. Ich bin da, aber nimm mir meine Wut nicht übel.“
      Wut darüber, dass sie all dies losgetreten hatte. Dass sie Jace seinem selbst gewählten Ende zuführte und nichts unternehmen durfte. Vermutlich hätte sie seine Unversehrtheit verhandeln könne, sollte sie sich stellen. Doch wenn sie das tat, begab sie sich nicht nur in mörderische Hände, sondern lieferte Cain gleich mit aus. Und womöglich die ganze Menschheit, wenn sich Ascan dazu entschloss mit dem Rat zusammen zu arbeiten.
      Doch all diese Gedanken behielt sie für sich, als Cain mit ihr von der Couch aufstand und sie ins Schlafzimmer trug. Statt sich der der wähnenden Müdigkeit hinzugeben, verloren sie sich aneinander. Rastlos hatte sie den Seeker an ihrer Seite gewähnt ehe er sich an dem einzigen Pfeiler in seinem Leben festhielt, den er noch hatte. Mit jedem ihrer Sinne schenkte sie ihre Aufmerksamkeit dem Mann, der sich ihrer Haut und ihrer Liebe bemächtigte. Das Zeitgefühl kam abhanden, während sie in einem Strudel aus Gold und Silber ertranken, um schlussendlich doch von der schwarzen Samtdecke des Schlafes eingehüllt zu werden.

      Mitten in der Nacht öffneten sich Syleas Augen einen Spalt breit. Sie hatte sich aus Cains Umarmung winden können und richtete sich geschmeidig auf. Ihre Augen musterten den nackten Mann an ihrer Seite. Er schlief und hatte nicht bemerkt, dass sie wach war. Nach ein paar Herzschlägen stand sie leise aus dem Bett auf und schlich barfuß in das Wohnzimmer, das noch immer ein Schlachtfeld war. Vorbei an dem gesplitterten Holz und den zerwühlten Teppichen zog es sie hin zu den großen Fenstern, die zum Balkon führten. Mit warmen Fingern schob sie das Fenster auf. Wind erfasste ihre kurzen Haare und trieben ihr die Tränen in die ansonsten trockenen Augen. Nackt trat sie auf den Balkon und richtete ihren Blick in die Ferne, wo in ein paar Stunden die Sonne aufgehen würde.
      ............
      „Wird er nicht. Wie oft kommt man schon in den Genuss, einen Handel mit einem echten Gott abzuschließen?“ Ihre Augen schienen wie gebannt von etwas unsichtbarem zu sein.
      …............
      Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich denke nicht. Aber halte Abstand, sonst bemerken sie dich. Seit sie sich aufgelöst hatte, hat sich ihre Seele verändert. Oder es war Dagdas Einfluss. Wer weiß das schon.“
      …...........
      „Ebenso.“
      Damit kehrte Sylea dem Balkon und der Nacht den Rücken und stahl sich zurück in das warme Bett, wo sich ein Seeker an ihren kühlen Leib kuschelte.

      Am nächsten Morgen hatte das Mädchen nicht bemerkt, wie sich Cain vor ihr aus dem Bett bugsiert hatte. Als sie wach wurde und sich etliche Male umher rollte, war der Seeker bereits an die Bettkante getreten und sich niedergelassen. Verschlafen blinzelte sie ihn an, so als wäre er selbst noch der Traum. Als wären die Ereignisse von gestern nur ein Alptraum gewesen. Sie brachte keine ordentliche Erwiderung zustande, als er sich zu ihr beugte und sich einen Kuss abholte. Allerdings schafften die spärlichen Wassertropfen auf ihrer Schulter, was er nicht konnte. Sie quiekte leise auf und zuckte weg, als es nass ihre Haut traf und sofort kalt wurde. Erst da realisierte sie, dass er schon duschen gewesen war. Ohne sie. Und halbnackt an ihrem Bett saß.
      „Du warst ohne mich? Ich bin entrüstet“, nuschelte sie undeutlich und kämpfte sich aus den Fängen der Bettdecke empor. „Stimmt ja, hab vergessen, dass wir einen Zug kriegen müssen... Ja, dann geh ich wohl auch nochmal duschen. Vielleicht fällt mir dann noch was ein.“
      Ein Stuhlbein zum Beispiel. Nur als Erinnerung.
      Wie angekündigt schleppte sich Sylea ins Bad und stellte sich dort unter die Dusche, die sie erst richtig wach machte. Weltliche Dinge waren für sie selten von Belang gewesen, von daher wusste sie nicht, ob sie etwas bestimmtes mitnehmen wollen würde. Erinnerungsstücke würde Cain in dieser Imposter-Wohnung nicht beherbergen und er besaß fast so wenig wie sie selbst.
      Als sie aus dem Bad kam, hatte sie sich bereits in eine leicht ramponierte Jeans und einem weiten, dunlebraunen Pulli gekleidet. Noch auf dem Weg zu Cain klaubte sie ein Kissen aus dem Wohnzimmer und stopfte dies in den Rucksack, dessen Platz damit ausgeschöpft war.
      „Muss gestehen, dass Kissen ein Luxus sind, auf den ich ungerne je wieder verzichte“, verkündete sie und stemmte die Hände in die Hüften während sie den Blick schweifen ließ. Sie würden sich nicht einmal die Mühe machen müssen, hier alles sauber zu hinterlassen. Ihre Spuren waren buchstäblich überall, da hätte es eine Tatortreinigung bedurft.
      „Ich denke, dann können wir los. Du musst mir sagen, wo wir hin müssen, ich kenn mich ja nicht so gut aus.... Also Tickets nehmen und dann dahin fahren, wo die vorgesehener Station ist?“
    • I am tired of trying to hold things together that cannot be held.
      Trying to control what cannot be controlled. I am tired of denying
      myself what I want for fear of breaking things I cannot fix.
      They will break no matter what we do.

      _______________________________________

      Der Seeker lehnte sich gemächlich zurück und führte die Hand über den Mund bevor er herzhaft gähnte. Der Luxus eines tiefen Schlafes war er nicht mehr gewöhnt und die Trägheit wollte sich noch nicht vollständig abschütteln lassen. Die Verlockung sich mit Sylea unter den warmen und weichen Decken vor der Realität zu vertecken, war beinahe übermächtig. Wenig erfolgreich verbarg Cain das amüsierte Schmunzeln hinter den gekrümmten Fingern. Ein seichtes Zucken rüttelte an seinen Schulter und der dumpfe, dunkle Laut, der durch seinen Brustkorb vibrierte, stellte sich als ein fast lautloses Kichern heraus. Es war so leise, dass es mehr zu spüren als zu hören war.
      Der vorfwurfsvolle Blick in den silbrigen Augen, den das schläfrige Nuscheln entschärfte, machte es nicht leichter für den Seeker.
      Noch während sich Sylea aus dem verschlungenen Knäuel ihrer Decke kämpfte und somit abgelenkt war, lehnte sich Cain wieder ein Stückchen zur ihr hinab und legte die Lippen an ihr Ohr. Wenn er sein Gewicht geschickt ein wenig verlagerte und die losen Enden der Decke zu fassen bekam, wäre es so einfach Sylea an Ort und Stell zu halten. Verlockend.
      "Hmm, wenn ich gewusst hätte, wie sehr du mir Gesellschaft leisten wolltest, hätte ich dich geweckt...", murmelte er rau und nippte an ihrem Ohrläppchen.
      Der kurze Augenblick der Leichtigkeit war ein dürftiges Trostpflaster für die bereits erlittenen und kommenden Verluste. Er beobachtete, wie das Vessel sich noch im Halbschlaf ins Badezimmer schleppte. Cain akzeptierte die Gelegenheiten, die sich ihm boten.
      Nachdenklich betrachtete der Seeker die billigen, kleinen Schlüssel zwischen seinen Fingern, die er noch unter der Türmatte hervor gezogen hatte, als Sylea bereits geschlafen hatte.
      Er hatte das dunkle Gefühl, dass ihnen nur noch wenige kostbare Augenblicke blieben.
      __________________________________________________________________________________________________________________

      Die Badezimmertür öffnete sich und Cain, der seine Uhr mit einem prüfenden Blick betrachtete, sah über die Schulter zurück.
      "Ich denke nicht, dass jemand ein Kopfkissen vermissen wird", schmunzelte er und nickte. "Gehen wir."
      Das Apartment, so unpersönlich es auch war, hatte ihnen eine blasse Vorstellung davon präsentiert, wie es war ein normales Leben als Paar zu führen. Die Augenblicke waren flüchtig aber nicht weniger bedeutsam gewesen. Sie hatten gemeinsam in der Küche gestanden und gekocht. Scheinbar belanglose Dinge wie eine einfache Pizza oder ein lästiger Abwasch, waren liebgewonnene Erinnerungen geworden. Als Cain ein letzten Mal auf zur Wohnungstür zurück sah, den Rucksack geschultert und den zweiten an Sylea weitergereicht, wusste er, dass er nie wieder hier her kommen würde.
      Waverley Station war nur ein paar Gehminuten von dem Gebäudekomplex entfernt, in dem sich die angemietete Wohnung befand.
      Um diese Uhrzeit waren genügend Menschen auf der Straße, das zwei weitere Reisende kaum auffielen. Auf dem Bahnhof herrschte ein unglaublicher Lärmpegel, der den vielen Angestellten auf dem Weg zur Arbeit und den lautstarken Durchsagen geschuldet war. Der Hauptbahnhof war eine einzige Reizüberflutung und Cain spürte bereits nach wenigen Minuten den wellenartigen Kopfschmerz anrollen. Er war angespannt und seine Schultern eine einzige harte Linie. Beschützend legte er den Arm um Syleas Schultern und zog das Mädchen nah an seine Seite, damit die Masse sie nicht davon spülte.
      Edinburgh Waverley station.jpgCain legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich eine kurze Sekunde, um die beeindruckende Glaskuppel über ihren Köpfen zu betrachten. Für die Schönheit des Bauwerkes hatte die gehetzte Bevölkerung keinerlei Zeit, aber der Seeker nahm sie sich obwohl die Sekunden ungebremst in seinem Hinterkopf tickten. Eine undeutliche Stimme übertönte die Geschäftigkeit kleiner Geschäfte und Kioske. Es war der letzte Aufruf für ihren Zug.
      "Beeilen wir uns", sagte Cain laut genug um den Lärm zu übertönen und drückte Sylea einen ermutigenden Kuss auf den Scheitel.
      Mit dem Vessel im Arm kämpfte sich er sich durch die Menschenmenge bis zu einem recht leeren Korridor kurz vor den Treppen zu den Gleisen. Hier reihten sich Schließfächer aus Metall an den Wänden auf. Die Schränke waren rostig und in die Jahre gekommen, doch das Schloss ließ sich tadellos öffnen nachdem Cain die richtigen Schließfächer gefunden hatte. In der Innenseite der Tür klebte ein Umschlag mit zwei bezahlten Tickets, neuen falschen Ausweisen und Pässen, Kreditkarten für den Notfall mit gehackten Chips, die er an Sylea weiter reichte. Etwas Schalkhaftes blitzte in seinen Augen.
      "Wie es aussieht sind wir frisch verheiratet, Mrs. Hawthorne", neckte er sie, denn auf den Pässen trugen sie denselben Nachnamen.
      Skeptisch beäugte Cain den restlichen Inhalt der Schränke.
      "Ich glaube Jace möchte uns damit sagen, dass wir es vermeiden sollen offiziel in Hotels einzuchecken."
      Das Sammelsorium in den alten Schränken bildete zusammengelegt eine komplette Campingausrüstung. Alles zusammengepresst in zwei weitere große Outdoorrucksäcke. Sicherlich keine Deluxe-Ausrüstung, aber für den Anfang ausreichend. Isomatten, Schlafsäcke, ein Wurfzelt, das erstaunlich stabil und hochwertig daherkam und diversen anderen Kleinkram, der sich in der freien Natur als nützlich erweisen würde.
      "Du solltest dein Kissen gut bewachen", schüttelte Cain den Kopf. "Könnte sein, dass ich versuchen werde es dir zu klauen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ich hoffe, du weißt, was du da vorhast. Du solltest eigentlich auf der Flucht sein, so weit laufen wie du nur kannst. Stattdessen bietest du alles, was du haben könntest, dem Rat auf dem Silbertablett an. Was hast du zu verlieren?“
      Sylea beachtete die Stimme in ihrem Kopf nicht mehr. Mittlerweile war Ascans Stimme kein weit entferntes Hauchen mehr, das mal mehr mal weniger gut zu hören war. Seine Stimme war mittlerweile so laut und deutlich, als würde er neben ihr stehen und ihr über die Schulter etwas sagen. Wäre ihr Verhältnis anders gewesen, so konnte sie sich dieses Gefühl durchaus als angenehm und rückversichernd vorstellen. Aber in Anbetracht der Umstände, warum man genau hinter dieser Verbindung so sehr hinterher war, befand sie diese Vertrautheit als grenzwertig.
      Wie war das mit deinen vorherigen Vesseln?Sie schulterte den Rucksack, den Cain ihr gegeben hatte und zog die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht.
      Ich habe sie allesamt gebrochen.
      Aber du weißt, wer sie waren, oder?
      Natürlich. Ab dem Moment, wo sie brechen, wo ich ihren Geist in Einzelteile zerlege, bekomme ich alle Informationen desjenigen. Ich kannte ihre Namen. Ihre Geschichten. Ihre Familien und Motivationen.
      Sylea machte einen nachdenklichen Summlaut, der Cain dazu brachte, sie fragend anzusehen. Doch das Mädchen schüttelte nur den Kopf. Jedes Wort aus ihrem Verstand musste der Seeker nicht wissen.

      Es war das erste Mal für die junge Rubra, dass sie einen Bahnhof zu Gesicht bekam. Selbst in jungen Jahren war sie nie auf Reisen gewesen, hatte die Ländereien der Rubra nie verlassen und auch keine Großstädte gesehen. Jetzt stand sie eng gedrängt an Cain, einen Arm um ihre Schultern gelegt, damit sie nicht einfach unterging. Es war noch früh morgens, und trotzdem rannten hier die Menschen wie geschäftig Vieh umher. Es stank, es war laut und hektisch. Nichts von alle dem gefiel dem Vessel auch nur ansatzweise.
      Bei der ersten lauten Durchsage war Sylea stark zusammen gezuckt. Es bedurfte ein paar Sekunden ehe sie sich wieder gefangen hatte und nicht mehr aussah wie ein verschrecktes Reh. Währenddessen hielt Cain inne und schien die Decke zu bewundern, für die Sylea jedoch keine Bewunderung erübrigen konnte. Es war ein Bauwerk wie die meisten von Menschenhand errichteten. Die Kapelle, in der sie Jahre zugebracht hatte, war ebenfalls nicht besonders alltäglich gewesen. Aber über die Jahre hatte sie sich sattgesehen an Stein, Mauerwerk und Glas. Dem Konstrukteur alle Ehre, aber dafür besaß sie jetzt gerade keine Aufmerksamkeit.
      Mit dem Kuss auf ihrem Scheitel erwachte Sylea wieder zum Leben. Die Ansage, die Cain problemlos hatte herausfiltern können, war an ihr komplett vorbei gegangen. Also ließ sie sich von Cain durch die Menschen führen, denn wenigstens hatte einer von ihnen eine Ahnung, wohin es ging. Während sie alle Eindrücke nur sporadisch aufschnappte, zupfte etwas an ihrer Wahrnehmung. Ganz dezent, so als wäre es gar nicht da, konnte sich aber doch nicht ganz verstecken. Syleas Augen huschten durch die Menge an Leibern, Taschen und Jacken. Und dann hielt auf einmal die Zeit an.
      Wobei.... die Zeit hielt nicht an.Sie verlangsamte nur brutal. Es tat sich ein Fenster zwischen den Reisenden auf, wo sie den Grund für dieses Gefühl entdeckte. Ihre Augen fanden ein junges Mädchen, gekleidet in einem schneeweißen langweiligen Hängerchen, das in ihre ebenso weißen, langen Haare überzugehen schien. Ihre Haut war leichenblass, die Gliedmaßen dürr. Ihre Lippen waren auf die Meter fast gar nicht zu sehen, dafür versagte Sylea der Atem, als sie den milchig weißen Augen ohne Pupillen begegnete. Langsam schob sich der nächste Passant in ihren Blickwinkel und dann lief die Zeit schlagartig weiter. Sylea stolperte, winkte allerdings hastig ab. „Alles okay, nichts passiert!“
      Hast du das auch gesehen?
      Was?
      Darauf dachte Sylea keine Antwort.
      Erleichterung machte sich in ihrer engen Brust breit als sie vor Schränken ankamen, die mit Schlössern gesichert waren. Zielgerichtet ging Cain auf ein Paar zu und kramte die Schlüssel hervor, die er vermutlich auch von Jace bekommen hatte. Während er den Inhalt ausräumte, sah sich Sylea weiter um in der Hoffnung, dieses seltsame Phänomen zu reproduzieren. Sie scheiterte jedoch. Etwas berührte sie am Ärmel, was sich als eine Lederetui entpuppte, das der Seeker ihr reichte. Das Grinsen auf seinem Gesicht ließ sie die Stirn in Falten legen als sie das Etui aufklappte und hinein sah.
      Das Foto von ihr sah verboten aus.
      „Wo zur Hölle hat er....“, murmelte sie und setzte sofort Plusterbäckchen auf, als sie verstand. Überwachungskameras. Selbstverständlich. „Sag mir, dass dein Bild auch so kacke aussieht.“
      Cains Passfotot war vielleicht sogar noch eine Nummer schlimmer als ihres.

      Eigentlich waren sie viel zu schwer bepackt für zwei Reisende. Jeder mit je einem Outdoorrucksack und einem weiteren ausgestattet wirkten sie eher, als wollten sie irgendwo in der tiefsten Natur auswandern und dort für immer bleiben. Sylea blieb sogar mit ihrem Rucksack in der Tür des Zuges stecken, als sie sich verschätzte und panisch nach Cain rief, der sie gefühlvoll aus dem Spalt zog.
      Sichtlich erschöpft von dem kurzen Tumult sank sie in ihrem Viererabteil auf ihren Sitzplatz und warf die Rucksäcke neben sich. Die Sitze waren hart, wenn auch nicht so schlimm wie die Bänke in der Kapelle. Dafür waren die Fenster groß und sie konnte den Bahnsteig weiter beobachten.
      „Was stand eigentlich auf den Karten?“ Sie kam erst jetzt dazu, zu fragen, wohin ihre Reise genau ging.
    • Das dümmliche Grinsen über die zusammenpassenden Ausweise hielt den kompletten Weg bis zum Bahnsteig und noch darüber hinaus.
      Die Passfotos sahen einfach fürchterlich aus, aber er wusste den letzten Scherz, den sich Jace erlaubt hatte, zu würdigen. Für die wenigen Gehminuten bis zu ihrem geplanten Zug fühlten sich seine Schritte weniger beschwerlich an. Cain hatte in den vergangenen Wochen gelernt, die kleinen Augenblicke des Glücks zu genießen, die ihnen vergönnt waren. Ein ramponierter Esszimmertisch und grässliche Ausweisbilder gehörten genauso dazu, wie die allumfängliche und glühende Leidenschaft, die sein Aura völlig aus dem Konzept brachte. Die Vielzahl an Emotionen, die er sich erlaubte, wohlwissend das sie ihm schleichend zum Verhängnis wurden, würde er für nichts in der Welt eintauschen. Sie löschten die Trauer und den Schmerz nicht aus, machten das Leid aber um so vieles erträglicher.
      Kopfschüttelnd und wie ein Idiot grinsend zog er Sylea durch die Türen des Zuges, die beschlossen hatten sich genau in dem Moment zu schließen, in dem die Rubra überladen mit einem riesigen Outdoor-Rucksack hindurch stolperte. Andere Zuggäste beäugten das schwer bepackte Pärchen mit verwirrten Gesichtsausdrücken. Cain konzentrierte sich ganz auf Sylea. Er hatte bereits beim Betreten des Bahnhofsgebäudes seine Aura eng heran gezogen und sich von dem Wirbel aus Gefühlen und fremden Auren hunderter von Menschen abgeschottet. Ein antrainierter Schutzreflex um nicht in dem chaotischen Sammelbecken für Hektik aller Art unterzugehen.
      Behutsam zog er Sylea in das reservierte Abteil und stellte dabei zufrieden fest, dass Jace offensichtlich das ganze Abteil für sie alleine gebucht hatte. Erleichtert sank Cain auf die unbequemen Bänke und horchte auf, als er ihre Frage hörte.
      "Lass mich mal sehen...", murmelte er.
      Lächelnd lehnte sich der Seeker zur Sylea herüber und öffnete behände den Reisverschluss ihrer Jacke. Etwas Schalkhaftes blitzte in den goldenen Augen auf, als er die Hand in ihre geöffnete Jacke gleiten ließ, und den ominösen Umschlag mit den Tickets wieder hervor zauberte. Geduldig öffnete Cain den Umschlag und ignorierte die manipulierten Kreditkarten um die Ticktes herauszuziehen.
      "Hm, das ist eine direkte Verbindung nach Barrhill", stellte der Seeker fest.
      Zu den Tickets existierte noch ein Fahrplan, auf dem alle Zwischenhalte eingetragen waren.
      "Es sind etwas über vier Stunden bis nach Barrhill", folgerte Cain und stutzt plötzlich. Aus dem Umschlag fiel eine Postkarte. Es war eine dieser hässlichen, klischeehaften Souvenirkarten, die Familien ihren Liebsten nach Hause schickten. Darauf stand der Name der Stadt Prestwick. Furchtbarer Name, dachte Cain und drehte die Karte. Dort vor überschwängliche Urlaubsgrüße geschrieben stehen sollten, stand rein gar nichts.
      "Denkst du, Jace wollte uns damit sagen, dass wir dort halten sollten? Prestwick liegt ungefähr auf der Hälfte der Strecke", fragte er und drehte die Postkarte im Licht, aber er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Vielleicht war es so banal. Eine letzte Atempause bevor das Unausweichliche bevorstand.
      Cain lehnte sich zurück, legte einen Arm um Syleas Schultern und zog das Mädchen an seine Seite.
      Ein Ruckeln ging durch den Zug und kündigte die bevorstehende Abfahrt an.
      Bald schon verschwamm die Umgebung Edinburgh zu einem vorbeiziehenden Strom aus Formen und Farben. Cain lehnte den Kopf gegen Syleas braunen Haarschopf und schloss die Augen.

      Der Seeker wusste nicht, ob er wirklich ein wenig weg gedöst war.
      Was er mit Sicherheit wusste, war das vor ihrem Abteil plötzlich Unruhe herrschte. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie Prestwick beinahe erreicht hatten. Vielleicht sollten sie dort wirklich halt machen und besprechen, wie sie Vorgehen wollten und was genau sie überhaupt in Barrhill zu finden hofften. Die Ereignisse in Edinburgh hatten ihnen keine Zeit dafür gelassen.
      "Was ist das los?", fragte Cain, wartete aber nicht auf eine Antwort.
      Er bedeutete Sylea zu warten und schob die Tür ihres Zugabteils auf, um einen Blick nach draußen zu werfen. Stimmengewirr flutete den schmalen Flur. Fast sämtliche Abteile standen sperrangelweit offen und die Zuggäste unterhielten sich aufgeregt, während sie auf ihre Smartphones starrten.
      "Oh mein Gott!", flüsterte eine Frau mit blonden Locken. "Haben Sie das gesehen! Das ist furchtbar!"
      "Weiß man schon ob es Todesopfer gab?", fragte ein Mann in einen teuren Anzug dazwischen.
      "Es heißt, dass vor den Explosionen alle Gebäude durch einen Fehlalarm im Brandschutzsystem evakuiert wurden", antwortete jemand in Cains Rücken.
      "Entschuldigen Sie", mischte sich Cain ein und zwängte sich auf den Gang. "Können Sie mir sagen, was passiert ist? Unsere Akkus sind leider leer und wir haben die Unruhe bemerkt."
      "Hier, nehmen sie ruhig", sagte die blonde Frau und drückte ihm ihr Telefon in die Hand.
      Auf dem Bildschirm flackerten die Eilnachrichten in blinkenden Buchstaben. Beinahe hätte Cain das Handy fallen lassen. Er wusste jetzt, warum der Hacker so vehement darauf bestanden hatten, das sie in diesem Zug sitzen sollten und damit das Apartment zu hundert Prozent verlassen hatten.
      Bilder von brennenden Hochhäusern mit reißerischen Schlagzeilen, die einen Terroranschlag vermuteten, fluteten das Internet.
      Das hatte Jace also mit Abschiedsgeschenk gemeint. Der Seeker erkannte das Gebäude. Das angemietete Apartment war dort im obersten Stockwerk gewesen und offensichtlich war dort die Quelle der Explosion. An zwei weiteren Orten in Edinburgh hatte es zu exakt selben Zeit ebenfalls Explosionen gegeben. Die Leihwagenfirma, in der Cain bei seiner Ankunft den blutverschmierten Jeep gegen eine unauffällige Limousine getauscht hatte, und ein leerstehenden Bürogebäude in einem Randbezirk. Letzteres war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Jace hatte die Beweise vernichtet. Alle Überwachungskameras und alle Datenbanken in allen Gebäuden, die sie betreten hatten. Eine Randnotiz berichtete von einem verheerenden Serverabsturz im Museum, in das sich Cain verkleidet eingeschlichen hatte, um das Buch aus den Archiven zu stehlen.
      Möglichst ruhig gab er das Handy seiner Besitzerin zurück und fasste blind nach Syleas Arm, die natürlich nicht auf ihn gehört hatte und ebenfalls im Eingang ihres Abteils stand. Cain schien vor Anspannung zu vibrieren. Die goldschimmernde Aura begann immer höhere Wellen zu schlagen, die der Grimm weiter anstachelte und sich an der Aufruhr labte.
      "Sylea...", sagte Cain möglichst ruhig, ein unterschwelliges Grollen in der Kehle. "Pack alles zusammen."
      Die Ankunft in Prestwick wurde über die Lautsprecher angekündigt.
      Jace, dieses miese, brillante Arschloch hatte genau gewusst, dass Cain einen Fluchtweg brauchen würde. Prestwick.
      Er musste sofort aus diesem Zug raus.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea bewegte sich kein Stück, als Cain ihr die Jacke öffnete und nach dem Umschlag im Inneren suchte. Sie beobachtete sein Gesicht unentwegt, das nun nicht mehr ganz so angespannt war wie zuvor. Es waren die Menschenmassen, die ihm die Anspannung in den Körper trieb, nach wie vor. Nun war da ein Lächeln, weil er vermutlich gerade ihre Brust gestriffen hatte, sie aber nicht darauf reagierte. Schnell hatte er den Umschlag gefunden und zog die Tickets hervor.
      „Ist der direkte Weg nicht ein wenig... zu direkt?“, fragte Sylea und blickte kurz zur Seite, als andere Passagiere an ihrem Abteil vorbei huschten. Wenn sie direkt in Barrhill strandeten, und das auch noch am Bahnhof, wäre das wie eine Einladung, sie zu finden. Mit Sicherheit gab es dort so oder so Sicherheitsvorkehrungen und die Überwachungskameras am Steig würden sie wohl schneller erkennen als es ihnen lieb war. Nein, Barrhill direkt anzusteuern war keine gute Idee.
      Scheinbar sah das auch Jace so, denn da flatterte eine Postkarte aus dem Umschlag auf den Boden. Der Seeker hatte sie noch aus der Luft gefangen und gemustert noch bevor Sylea den Namen Prestwick hatte lesen können. Fordernd streckte sie ihm ihre Hand hin, damit er ihr die Karte überreichte. „Mit Sicherheit sogar. Wenn wir direkt nach Barrhill fahren, wird das sofort aufgenommen. Hier hat Jace die Kameras vermutlich noch beeinflusst, aber dort wahrscheinlich nicht mehr.“ Keine Nachricht, keine Abdrücke, keine Aufkleber. Es war einfach nur eine nackte Karte ohne irgendwelche Modifikationen. Sie reichte ihm die Karte zurück und ließ sich an seine Seite ziehen ehe der Zug anfuhr und sie dem Ende ein Stückchen näher kamen.

      Sylea war tatsächlich nicht weg gedöst. Allerdings hatte sie auf ihrem Schoß ein Buch aufgeschlagen, das irgendwie seinen Weg in den Rucksack gefunden haben musste. Die Schriften darin würde sowieso niemand außer den Rubras lesen können, und so blätterte sie in Seelenruhe durch die Aufzeichnungen der Estryreh in der Hoffnung, etwas Brauchbares finden zu können. Das Tagebuch las sich zäh, erst recht, wenn es zwei Bewusstseine waren, die den Inhalt mit jeweils anderen Standpunkten lasen. Sylea fand dadurch mehr über die Versuche heraus, die Ascan definitiv als nicht so tragisch empfand, wie seine völlige Unbetroffenheit deutlich bezeugte. So entging ihr, dass sich eine Unruhe im Zug breitmachte und Abteil für Abteil erfasste.
      Cain hingegen mit seinen trainierten Sinnen bemerkte es trotz Dösens. Er hatte sich nicht mehr an Sylea gelehnt, sondern den Rückensitz benutzt, aber die Art, wie er plötzlich die Augen aufschlug und gar nicht so wirkte, als habe er gedöst, war beinahe erschreckend. Wie ein Tier, das jederzeit bereit sein musste, für was auch immer. Zeitgleich mit seinem Überprüfen der Uhrzeit verschwand das Buch aus Syleas Schoß im Nichts. Er war sogar so schnell, dass er die Unruhe als potenziell gefährlich einstufte und damit dann auch Sorge in Sylea schürte. Natürlich hatte sie keine Antwort für ihn, die brauchte er jedoch auch gar nicht, denn in der nächsten Sekunde war er schon auf den Füßen und aus dem Abteil getreten. Sein Befehl für sie war klar: Sitzen bleiben und warten.
      Also wartete sie, wobei sie sich den Hals verrenkte, um irgendetwas aus der offen stehenden Abteiltür zu sehen. Ihr Gehorsam hielt solange an bis sie Todesopfer undExplosion hörte. Dann war auch das Vessel auf die Füße gesprungen und in den Türrahmen gezwängt, um nicht an Cain vorbei zu treten. Überall standen Menschen und starrten auf ihre Handys oder redeten aufgeregt durcheinander. Sie sah gerade noch, wie Cain über das Display eines fremden Handys scrollte und nur kurz ein Bild anschnitt. Ein Hochhaus, dessen obere Etagen komplett in Brand standen. Feuerzungen schlugen aus den Fenster und wenn sie sich nicht täuschte, war das der Balkon, von dem sie die Stadt überblickt hatte.
      Jace hatte das Apartment in die Luft gesprengt? Aber nur eine Explosion in einem Wohnhaus sollte doch nicht ausreichen, um einen gesamten Zug in Aufruhr zu versetzen....
      Sylea wusste, das Cain nach ihr greifen würde noch bevor er es getan hatte. Folglich passte sich ihr Blick der allgemeinen Bestürzung an, selbst wenn sie gar keine empfand. Es war kein Beweis dafür, dass Jace sich selbst mit in die Luft gesprengt hatte. Es war kein Beweis dafür, dass er entkommen war. Es war... nichts. Dafür war allerdings das Aufwallen der goldenen Aura Beweis genug dafür, dass der Seeker doch noch nicht belastbar genug für eine solche Situation war. Syleas Mundwinkel zuckte, als sie das Schwarz wie ein Echo durch sein Gold wabern sah und sich der Grimm offensichtlich Bestens amüsierte. Stattdessen war es die Durchsage, die eine baldige Ankunft in Prestwick ankündigte, die sie erschrecken ließ.
      „Mhm“, machte die Rubra und zog Cain zurück in das Abteil, um die Tür hinter ihnen zu schließen. Sie hatte nichts Besonderes aus den Rucksäcken gekramt, ebenso wenig wie er. Also gab es nichts zu packen, sondern nur die Zeit zu überbrücken bis sie hielten. „Konzentrier dich auf meine Aura“, befahl sie ihm und packte beide seiner Hände, um eine Verbindung herzustellen. Ihre Augen bohrten sich in seine, um den Grimm auch ohne Worte zu warnen. „Fühl meine, okay?“
      Denn ihre silbrige Aura war der reinste Spiegelsee im Gegensatz zu seiner aufgewühlten Aura. Sie konnte für die Zeit bis zum Eintreffen ihre Aura in den Griff kriegen, sie zur Ruhe zwingen, auch wenn ihre Gedanken dafür umso wilder kreiselten.

      Der Zug hielt an und der Lautsprecher verkündete ihre Ankunft in Prestwick. Fluchtartig verließen Cain und Sylea den Zug mitsamt ihrem Gepäck. Während der gesamten Zeit über hatte sie ihn an der Hand gehalten und nicht mehr losgelassen. Erst, als sie auf dem Bahnsteig des erstaunlich kleinen Bahnhofes standen, ließ sie ihn los weil sie spürte, dass er hier besser atmen konnte.
      Sie selbst schreckte allerdings zusammen, als es laut über ihnen brauste. Hastig machte sie sich auf die Suche nach dem Ursprung und entdeckte ein Flugzeug in Landeanflug. Prestwick musste einen Flughafen haben. Daher dieses Ungetüm.
      „Wird's besser?“, erkundigte sie sich bei ihrem Partner mit sanfter Stimme.
    • Natürlich fühlte Sylea die aufkeimende Katastrophe, die sich schleichend und bedrohlich anbahnte.
      Wie könnte sie den hungrigen Grimm auch nicht spüren, der sich gegen die Gitterstäbe seines Käfigs warf. Die Mahlzeit, die Cain und Sylea der schattenartigen Bestie in der vergangen Nacht auf einem Silbertablett serviert hatten, konnte seine Gier nicht ewig befriedigen. Zähne fletschend eroberte sich der Grimm Stückchen für Stückchen seiner Freiheit. Von dem inneren Tumult des Seekers bekamen die umstehenden Zuggäste, überwiegend Touristen und Pendler, natürlich nichts mit. Sie sahen nur einen jungen Mann, der aufgrund schrecklicher Ereignisse zur Salzsäule erstarrte und leichenblass ins Leere blickte. Ein sanfter aber bestimmter Ruck zwang Leben zurück in den Seeker, der gehorsam Sylea zurück in das Abteil folgte.
      Cain konnte nicht atmen. Die Emotionen im Zug, der ungeahnt der Gefahr, die sich anbahnte, friedlich über die Gleise tuckerte, überschlugen sich durch die tragischen Nachrichten. Das Grauen, die Trauer und die Frucht breitete sich aus wie eine alles infizierende Seuche, die von einem Wirt zum nächsten sprang. Ein Lauffeuer, das mit einem einzigen Funken an trockene Ebene vollständig in Brand steckte. Seine Finger gruben sich in Syleas Ellbogen und ließen sich nur durch gutes Zureden endlich öffnen. Dunkle Schatten bluteten in das Weiß seiner Augäpfel während sich der Brustkorb unter gequälten Atemzügen ausdehnte und zusammen zog. Der Herzschlag pulsierte dröhnend in seinen Ohren und Rauschen seines Blutes trieb in an den Rand des Wahnsinns. Allein Syleas Stimme vermochte durch den bedrückenden Nebel aus Gefühlen zu Cain vorzudringen. Der Seeker griff danach, wie ein Ertrinkender nach dem rettenden Ufer. Eiskalte Finger schlossen sich um ihre Hände und endlich erblickte Cain ein vertrautes, silbriges Licht in der Dunkelheit. Sein Fokus verschob sich langsam zu der Stimme und der lockenden Aura, die in geduldig führte. Der Seeker absorbierte die Ruhe des Silberspiegels, ließ sich davon einhüllen und das aufgewühlte Gemüt beruhigen. Der Grimm stieß ein Jaulen aus, durchdringend und scheinend wie ein plötzlicher, stechender Kopfschmerz.
      Während Cain hektisch blinzelte als würde er um seine Sehkraft kämpfen, nickte er. Es war die erste Regung nach gefühlt endlosen Sekunden, die seine mentale Anwesenheit bestätigte. Der Grimm hatte ihn nicht vollkommen übermannt. Ein Zittern lief durch den hochgewachsenen Körper des Seekers und dem Nicken folgte ein energisches Kopfschütteln, als wollte er ein lästiges Insekt abschütteln.
      Er sprach kein Wort bis sie Prestwick erreicht hatten.

      Argwöhnische Blicke verfolgten das fremde Pärchen, dass beinahe fluchtartig den Zug verließ.
      Für Außenstehende sah es aus, als erlitt der drahtig gebaute Seeker eine filmreife Panikattacke. Ganz abwegig war der Verdacht nicht. Cain verspürte eine tiefe, allumfassende Angst umgeben von vielen unschuldigen Menschen letztendlich doch die Kontrolle zu verlieren. Aber Sylea bildete seinen Anker an die Realität. Wie gefordert, konzentrierte er sich ganz und gar auf das Mädchen, dass ihn führte, obwohl sie nicht wusste, wohin.
      Schwach drückte er ihre Finger, um ihr zu bedeuten, dass er ihre Stimme hörte. Cain setzte mehrmals zu einem Satz an und erhob doch erst das Wort, als er sicher war, dass kein dunkles Knurren aus seiner Kehle kam.
      "Ja...", krächzte er und räusperte sich. Er hasste es wie dünn seine Stimme gerade klang. "Es geht schon. Lass uns..." Er leckte sich über die trockenen Lippen. "...lass uns gehen. Ich muss mich kurz sammeln."
      Seit dem ersten Bild eines brennenden Apartments nahm Cain die Umgebung wieder mit scharfer Sicht wahr. Er orientierte sich an dem erstaunlich großen Schilderwald des vergleichsweise kleinen Bahnhofes und beschloss das die Treppe vom Bahnsteig hinab ein erstes, gutes Ziel darstellte. Über ihnen zog ein Flugzeug über den Himmel, kein unbekanntes Geräusch aber aktuelle viel zu laut und aufdringlich in seinen Ohren.
      Wenige Minuten später fanden sich Sylea und Cain vor einem verhältnismäßig großem Werbeschild für Prestwick wieder. Die Stadt am Meer warb mit seinen hübschen Hotels im Stil ehrwürdiger, britischer Anwesen und luxuriösen Golf Courts. Die Bilder waren auf Hochglanz poliert wie in der Auslage eines Reisebüros. Wenn Cain ganz genau hinhörte, konnte er sogar das Meeresrauschen hören. Das gleichmäßiges Geräusch hatte etwas Meditatives. Er drehte den Kopf und bildete sich ein das Salz bereits in der Luft schmecken zu können. Vielleicht waren es auch nur die letzten Überbleibsel der Trauer, die einige Fahrgäste im Zug verströmt hatten.
      Aus dem Nichts heraus, ruckte sein Kopf zu Sylea.
      "Ich kann nicht glauben, dass er das getan hat."
      Ein leichter Schleier überlagerte seine Augen noch, aber er war eindeutig wieder an die Front seines Verstandes gerückt.
      "Hast du das Meer schon einmal gesehen?", fragte er aus dem Zusammenhang gerissen. Hatte sie nicht. Wie auch?
      Gibt mir eine Ablenkung. Irgendwas.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • An sich gesehen standen Sylea und Cain leicht deplatziert inmitten des Gehsteiges und hielten sich an den Händen. Während sie die Ruhe selbst zu sein schien, wirkte der Mann ihr gegenüber völlig von der Rolle. Unentwegt hielt sie ihren Blick auf ihn gerichtet während er versuchte, Sätze zu bilden. Das ließ ihren stoisch ruhigen Blick nun doch etwas aufbrechen und Sorge darunter hervor blitzen. Dass das in dem Zug ausgereicht hatte, um ihn dermaßen an den Rand zu bringen, war besorgniserregend. Aber er musste sich eben einfach daran gewöhnen. Hoffte Sylea zumindest.
      Folglich nickte das Vessel und eigentlich hatte sie die Führung übernehmen wollen. Ihr wäre es erst einmal egal gewesen, in welche Richtung sie gingen. Hauptsache, es kam Bewegung in ihre Körper. Doch Cain schaltete sich ein nachdem er ein Schild angeschaut hatte und er scheinbar eine Erinnerung oder Orientierung fand. Danach ging er voraus, ließ ihre Hand jedoch nicht ein einziges Mal los. Für Sylea war es ein ganzer Urwald an Beschilderungen, die in sämtliche Himmelsrichtungen zeigten und points of interest markierten. Keines davon weckte in ihr auch nur irgendwelche Erinnerungen, aber sie hatte hier und da kurze Déja-Vus. Manchmal meinte sie eine bestimmte Häuserfront schon einmal gesehen zu haben. An anderer Stelle war sie sich sicher, auch schon über die Straßenschilder mit ihren seltsamen Namen gelacht zu haben. Es fühlte sich zeitgleich fremd und bekannt an, und das verwirrte das Mädchen zunehmend. Schließlich hielten sie an einem besonders protzigen Schild, das ihr nicht mehr bekannt vorkam. Gerade noch inspizierte sie die Bilder, da zuckte Cains Kopf in ihre Richtung und er fand die Stimme nach etlichen Minuten wieder.
      Ich glaube das sehr wohl. Damit habe ich gerechnet.
      Sie blinzelte, legte dann den Kopf leicht schief. „Ich glaube ja. Einmal.“ Ihr Blick ging in die obere Ecke ihrer Augen als sie versuchte, längst verschollene Erinnerungen ans Tageslicht zu befördern. „Ich glaube, ich war auch schon mal hier gewesen. Da war ich aber noch sehr klein. Mit meiner... Mutter, wenn ich mich nicht täusche.“
      Deswegen sieht das alles so bekannt aus. Oder vielleicht zwischenzeitlich. Weil ich vor Ewigkeiten schon mal hier gewesen war...
      .Du greifst mittlerweile ziemlich unverfroren auf meine Erinnerungen zu.
      Sylea versteifte sich nur für einen Bruchteil einer Sekunde.
      Es ist deine Erinnerung, nicht meine. Entspann dich oder du darfst die Bestie wieder an die Kette legen.
      Ascan lachte in ihrem Kopf während Sylea ein unglückliches Gesicht machte. „Vielleicht habe ich damals das Meer gesehen, vielleicht auch nicht. Größtenteils erinnere ich mich nur an Wälder. Ich glaube, die Rubras sind mehr oder weniger... naturverbunden.“
      Irgendwann, da würde sie mit ihm am Strand entlang gehen und dem Meer zuhören. Dann, wenn keiner von ihnen mehr getrieben wurde von Wahnzuständen oder Regierungen. Wenn sie nur für sich selbst waren und sich nicht in wahnwitzige Unterfangen stürzten. Je länger sie so darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass es diese Utopie nie geben würde. So waren ihre Schicksale nicht mehr aufgebaut. Halt, nein. So war ihr Schicksal nicht mehr aufgebaut. An ihres war das von Cain lediglich geknüpft weil er sich auf sie eingelassen hatte. Noch immer behauptete er, dass er sie lieben und ihr folgen würde. Sie glaubte ihm es auch, aber die Reue darüber würde wohl auf ewig ihr Begleiter bleiben.
      „Ich glaube, wir sollten erst einmal einen Ort ausfindig machen, wo wir unsere Zelte aufschlagen können. Ich möchte ehrlich gesagt raus aus diesem Ort. Es sieht weniger modern aus wie Edinburgh, aber vermutlich gibt es hier auch Sicherheitssysteme und ich will noch nicht auf dem Radar landen. Am Rand von Prestwick schließen sich Wälder an – da sollten wir was finden können und dann sehen wir weiter. Wir können auch erst einmal dort Pause machen...“, schlug Sylea vor während sie Cains Finger knetete, um die unnatürliche Kälte aus ihnen zu lösen.
    • Im Augenwinkel nahm Cain die winzigen Veränderungen in Syleas Mimik war.
      Ein Blinzeln. Eine dezente Neigung des Kopfes zur Seite. Die Versteifung der Gesichtsmuskeln, die bis in den Rest ihres Körpers reichte. Es waren winzige Expressionen, die leicht übersehen werden konnten. Der Seeker hatte ein besonderes Augenmerk dafür entwickelt und selbst in einem Zustand des emotionalen Schocks, reagierten seine Sinne hypersensibel auf die scheinbar belanglosen Schwankungen in der silbrigen Aura.
      "Ascan?", murmelte er fragend.
      Ein erneutes Kopfschütteln folgte der Frage, denn Cain wehrte sich unaufhörlich gegen den Nebelschleier in seinem Kopf. Er brauchte einen Fokus. Eine Kleinigkeit, die seine Gedankenspirale durchbrechen konnte. Sylea lieferte ihm genau das.
      Behutsam brachten Syleas sanfte Hände das Leben zurück in seine eiskalten Finger. Er konzentrierte sich auf die Berührung, die körperliche Verbindung zwischen ihnen. Die Wärme kehrte zurück und Cain drückte zurückhaltend ihre Finger, damit sie spürte, dass er sie durch das Chaos noch immer wahrnahm.
      Cain ließ zu, dass Syleas Stimme über ihn hinweg glitt und das Rauschen in seinen Ohren übertönte. Er begriff, dass er zuvor nicht die Wellen des Meeres gehört hatte, sondern das Rauschen seines eigenen Blutes, das von einem hektisch, pochenden Herzen in wahnwitziger Geschwindigkeit durch seine Adern gepumpt wurde. Mit jeder Silbe band Sylea in fester an die Realität, die ihm zu entgleiten drohte.
      Die Sorge, von ungewollten Augen entdeckt zu werden, bildete die perfekte Aufgabe für seine völlig überforderte Emotionswelt. Damit konnte sein Verstand arbeiten.
      Der Seeker schmeckte die Spuren bitterer Reue auf seiner Zunge.
      Kurz festigte Cain den Halt um ihre Hand und führte ihre Handfläche zu seinem Gesicht. Vorsichtig öffnete er die gekrümmten Finger und schmiegte seine Wange in ihre geöffnete Handfläche. Er atmete tief ein und langsam wieder aus. Der Seeker senkte minimal das Haupt. Zart drückte er einen Kuss auf auf die Innenseite ihres Handgelenkes, wo der Puls unter der papierdünnen Haut pochte. Er ließ Sylea nicht los, als er ihre verschlungenen Hände wieder zwischen ihre Körper senkte. Cain nickte.
      Er konnte ihre Gedanken nicht hören, verstand den Inhalt nicht, aber er spürte sie.
      Reue. Bedauern.
      "Wir kommen hier her zurück, wenn alles vorbei ist."
      Die Vorstellung von friedlichen und unbekümmerten Tagen am Meer war ein Wunschtraum, denn jeder Schritt auf ihrem gemeinsamen Weg trug sie weiter fort von einer gemeinsamen Zukunft. Ein sorgenfreies Leben war keinem von ihnen mehr vorbestimmt.
      Cain blickte sich zu allen Seiten um.
      Prestwick war eine malerische Küstenstadt, vielleicht ein wenig in die Jahre gekommen, aber genoss durch seine gut betuchten Urlaubsgäste einen tadellosen Ruf. Für Touristen dieser Art wurde sicherlich nicht an Sicherheitsvorkehrungen gespart, obwohl Cain auf den ersten Blick keine Überwachungskameras erkennen konnte. Die Technik war ohne Zweifel geschickt versteckt. Wer wollte sich in seinem wohlverdienten Urlaub am Meer schon beobachtet fühlen.
      "Ja, gehen wir", stimmte Cain zu. "Dann ist die Ausrüstung wenigsten zu etwas nütze, wenn wir das schwere Zeug schon mit uns herumschleppen müssen."

      Für die Spaziergänger auf den Gehwegen sahen Sylea und Cain aus wie zwei voll bepackte Rucksacktouristen. Verdächtig war an einem Pärchen, das nur mit dem Nötigsten reiste, jedenfalls nichts. Niemand achtete auf die bedrückten Gesichtsausdrücke oder die sorgenvollen Falten über der Nase des jungen Mannes. Die Passanten sahen ein junges Paar auf seiner ersten Reise, mit wenig finanziellen Mitteln aber verliebt. Zumindest las Cain aus den Gefühlen einer älteren Dame, die verzückt von einer Parkbank herüber sah und sich ihrem schwärmerisches Blick nach zu urteilen, an ihren ersten Urlaub mit ihrem Zukünftigen erinnerte.
      Bald vergrößerte sich der Abstand zwischen den hübschen, verputzten Häusern und liebevolle Vorgärten säumten den Gehweg. Je weiter sich Cain und Sylea vom Zentrum entfernten umso großzügiger wurden die Grundstücke. Häuser standen nicht mehr dicht and dicht, sondern bekamen mehr Raum. Irgendwann waren mehrere Minuten vergangen und das letzte Haus schon eine Weile her, da präsentierte sich ihnen der Beginn schier endloser, dunkler Wälder. Das Bild wirkte eher friedlich als unheimlich. Es war still geworden, denn die Verkehrsgeräusche und Stimmen waren verstummt. Zurück blieb das Zwitschern der Vögel und das sanfte Rauschen des Windes in den Baumwipfeln.
      Entfernt von anderen Menschen und Eindrücken löste sich der Knoten in Cains Brust endgültig.
      Der Grimm und er kamen zur Ruhe.
      Gemeinsam mit Sylea suchte er einen Weg durch das beginnende Unterholz und entdeckte einen getrampelten Wildpfad, der wohl unter normalen Umständen von der ansässigen Fauna genutzt wurde. Er kramte in seiner Jackentasche herum und zog eine altmodische Karte, einen Kompass hervor. Zum ersten Mal seit der Ankunft in Prestwick zeigte sich ein anderer Gesichtsausdruck als Leere oder Angespanntheit in seinem Gesicht. Cain sah genervt aus.
      "Wir müssen wohl auf technischen Schnickschnack verzichten. Jace wollte wohl sicherstellen, dass uns niemand uns orten kann. Und wir müssen vorsichtig sein", meinte Cain. "Ich glaube nicht, dass Wildcamping in der Gegend gerne gesehen wird. Das Letzte, das wir jetzt brauchen, sind Einträge in der Polizeidatenbank."
      Mit zusammengekniffenen Augen drehte er die Karte erst in die eine dann in die andere Richtung.
      "Sag Bescheid, wenn du einen geeigneten Platz siehst", murmelte er auf die Karte konzentriert.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Prestwick war eine wirklich schöne kleine Stadt direkt am Meer. Die Häuser, die sich weg vom Zentrum in Einfamilienhäuser verwandelten, lockten mit ihren hübschen Fassaden und penibel geschnittenen Vorgärten Gäste magisch an. Man hätte auf den beschaulichen Gehwegen Stunden schlendern können und an jeder Ecke ein neues Lieblingshaus bestimmen können. Bei dem einen war der Zaun des Vorgartens schicker, beim nächsten Haus waren die Klinker noch einen Tuck schöner gelegt.
      Doch dafür hatten Sylea und Cain keine Augen und Aufmerksamkeit übrig. Je weiter sie sich vom Zentrum entfernten, desto weniger urban wurde die Gegend. Schon bald hatten sie jegliches Territorium, das man mit Kameras hätte bestücken können, hinter sich gelassen. Sie schienen ein unsichtbares Ziel zu verfolgen und der Fakt, dass sie in ihrem Aufzug einfach keinerlei Argwohn erregten, spielte ihnen unglaublich in die Karten. So wurden die Anwohner und Passanten nicht zu potenziellen Feinden, wie es die Menschen in Edinburgh zwangsläufig geworden waren. Diese Menschen waren nicht ihre Feinde, die nur darauf warteten, dass sie sich eine Blöße gaben.
      Schließlich waren nur noch ihre Schritte und das Rascheln ihrer Rucksäcke zu hören, als sie am Rande des Waldgebietes ankamen, das sich um die Ortschaft spannte. Sylea stierte zwischen die Bäume hinein in den immer dichter und dunkler werdenden Wald. Und für einen winzig kleinen Moment zuckte ihr Körper zusammen, als er sich an das letzte Mal erinnerte, wo sie in einem Wald gelandet waren. Als sie sich mit einem Höllenhund konfrontiert sahen. Oder als sie einsam und zitternd zwischen den Wurzeln eines alten Baumes saß und darum betete, nicht gefunden zu werden. All das geschah während sie einen weiteren Schritt tat, sodass der Schub der Erinnerungen unentdeckt blieb.
      So schlugen sich Seeker und Vessel einen Weg durch das Gestrüpp, wo noch genug Licht den Boden berührte, damit Sträucher wachsen konnten. Das Knacken von Holz, der Geruch und die Atmosphäre waren Faktoren, die Sylea zurückversetzten. Weit zurückversetzten, als sie noch nicht in der Kathedrale gefangen war und kurze Zeit nach ihrem Erwachen. Sie kannte sich gut in Wäldern aus, immerhin hatte sie Jahre ihres Lebens allein in einer Kathedrale in einem Waldgebiet zugebracht. Als sie anhielten und Cain eine Karte aus seiner Jacke zog, hockte sich Sylea hin und untersuchte den Wildpfad, den sie gerade ausfindig gemacht hatten. Spuren von Schalenwild waren im Boden zu erkennen.
      „Das war auch der beste Schachzug, den er hätte machen können. Ich schätze, dass sie andere Seeker und Hunter wieder auf uns ansetzen werden. Dieses Mal wohl mit schlagkräftigerem Potenzial. Außerdem“, sie erhob sich ächzend wieder und ließ einmal den Blick wandern, „komme ich im Wald wunderbar zurecht. Du bist zwar gut im Finden, ich aber im Überleben.“
      Sylea sah Cain an, der offensichtlich mit der Karte verzweifelte. Auch sie selbst würde keine Karte lesen können, dafür hatte sie aber in kürzester Zeit eine Art Eingebung, wohin sie zumindest gehen sollten. Tiere folgten in der Regel einem Pfad, wenn er sie zu einem Point of Interest führte. In diesem Fall war es höchstwahrscheinlich eine Wasserstelle.
      „Sag mal, hörst du zufällig Wasser?“, fragte Sylea den Seeker, der daraufhin die Ohren spitzte, sich konzentrierte und schließlich nickte. „Gut. Dann gehen wir genau entgegen dieser Richtung.“

      Tatsächlich führte Sylea sie und Cain noch tiefer in den Wald hinein. Hin und wieder blickte sie nach oben so als sähe sie dort etwas und richtete sich anschließend neu aus. Das Ergebnis war eine schroffe Felswand als Teil eines vor Jahrhunderten abgerutschten Hanges. In ein paar Metern Entfernung ging die Wand in eine seichte Steigung über – der Aufgang zum Berg.
      Sylea stemmte die Hände in die Hüften und sah den Stein hinauf. Ihnen fehlte zwar das Dach über dem Kopf, dafür hatten sie aber einseitigen Schutz vor Zugriffen und Wind. Vor ihnen grenzten direkt die Bäume an und genug Platz für ihr Zelt hatten sie gerade noch so zwischen den Stämmen eben jener Bäume. Hier würde sich mit Sicherheit niemand absichtlich hin verirren. Außerdem gab es keine Hinweise auf Wildwechsel, Wanderer oder Jäger.
      „Ich denke, hier fällt es nicht so schnell auf, wenn wir wildcampen“, sagte Sylea und stellte ihren Rucksack auf dem Boden ab. „Ich hab auf dem Weg ein paar Büsche mit Brom- und Heidelbeeren gesehen. Falls das, was Jace eingepackt hat, nicht reicht.“
    • Eigentlich gab Cain es nicht allzu gerne zu, aber ohne Anhaltspunkt und ohne Syleas verlässlichen Instinkt hätte er sich binnen weniger Minuten hoffnungslos verlaufen. Sie hatte Recht. Der Seeker war seinem Training entsprechend ein Naturtalent darin seine Zielobjekte zu finden sobald er die Spur einmal aufgenommen hatte. Er war ein gut dressierter Spürhund mit ausgezeichneter Sinneswahrnehmung, aber eine simple Landkarte zu lesen, gehörte zu seinem Leidwesen nicht zu seinen herausragendsten Fähigkeiten. Das Basis-Überlebenstraining war bereits mit moderner Technik absolviert worden und seine Nahkampftraining war ihm auch keine Hilfe. Die Karte würde sich kaum von roher Gewalt beeindrucken lassen und freiwillig den richtigen Weg ausspucken.
      Cain empfand eine Welle aus Stolz für die junge Frau, die aus ihrer harten und entbehrungsreichen Vergangenheit einen Vorteil zog. Im Gegensatz zu ihm fand sie sich in der im Schatten der Wälder hervorragend zurecht. Der Seeker präsentierte ihr sein schiefes Grinsen.
      "Reib mir ruhig unter die Nase, dass ich ohne dich hoffnungslos verloren wäre", schnaubte er gespielt beleidigt.
      Vielleicht war es ein gutes Zeichnen, dass sie unter all dem Druck und der Gefahr noch zu dazu in der Lage waren, sich gegenseitig aufzuziehen. Es milderte das Gefühl, dass sie sich dem Ende ihrer Reise näherten.
      Gehorsam schloss Cain die Augen und lauschte in den Wald hinein. Die Blätter raschelten und Äste bogen sich knarzend im sanften Wind hoch oben in den Baumwimpeln. Wieder hörte er das Gezwitscher der Singvögel über ihren Köpfen und in der Ferne knackten ein paar Äste im Unterholz. Das leise Getrampel von Hufen drang an sein Ohr. Er hörte Sylea neben sich atmen und wie ihr Herz in ihrer Brust schlug.
      Cain konzentrierte sich und begann Schritt für Schritt die einzelnen Geräusche auszublenden.
      Systematisch schloss er die Klänge aus, die sein Gehirn nicht mit einem lauschigen Bächlein in Verbindung brachte. Seine Nasenflügel bebten, als er tief einatmete und witterte. Nichts. Es war nicht mit dem Auffinden einer fühlenden Seele zu vergleichen, denn die Gefühlsebene fehlte vollständig. Die Eindrücke waren blasse Abbilder seiner Umwelt, aber er hörte Wasser. Cain schlug die Augen auf und nickte. Er korrigierte den Sitz des vollgestopften Rucksacks und folgte Sylea tiefer in den Wald hinein.

      Die Konzentration des Seekers lief auf Hochtouren.
      In regelmäßigen Zeitabständen dehnte sich die goldschimmernde Aura in alle Himmelsrichtungen aus. Cain reizte dabei das Maximum der möglichen Reichweite bis zum Äußersten aus. An den pulsierenden Rändern seiner Aura teilte sich das Gold in dutzende von glühenden Fäden auf, die sich durch das Unterholz schlängelten. Erst als ihm der Schweiß auf der Stirn stand, schnappte die Aura wie eine zweite Haut um seinen Körper zurück. Syleas Worte zu den möglichen Verfolgern hatte sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf geläutet. Sie mussten wachsam sein.
      Als Sylea endlich an einem geeigneten Ort stoppte, fuhr sich Cain mit gespreizten Fingern durch die Haare und ließ völlig unzeremoniell sämtliches Gepäck von seinem Rücken rutschen. Er beugte sich leicht vor und drückte die Fingerspitzen in das rechte Knie. Der lange Fußmarsch durch das Unterholz und der unebene Boden erinnerten ihn daran, dass vor wenigen Tagen Helyon sein Schienbein zertrümmert hatte. Dank Mortimers Fähigkeiten waren der Knochen, die Muskeln und Nervenstränge zwar geflickt, aber jetzt spürte er die Folgen der andauernden Belastung. Er konnte sich nicht daran erinnern im Hell Gate etwas Ähnliches gespürt zu haben, aber da war er schließlich nicht er selbst gewesen. Das silbrige Material, dass sein Bein durchzog wie ein eigenes Adergeflecht pulsierte unangenehm.
      Ächzend setzte sich Cain auf einen umgekippten Baumstamm, der einst vom Geröll mitgerissen worden war.
      Er zog den großen Campingrucksack zu sich und öffnete die Verschlüsse, um das Zelt hervor zu ziehen. Zu ihrem Glück würde Aufbau recht einfach sein, aber noch blieb Cain sitzen und streckte sein Bein.
      "Campingkocher, Konserven, Trockenfrüchte, Instantpulver... Gott sei Dank, er hat an Kaffee gedacht..., ein Wasserfilter. Damit sollten wir ein paar Tage hinkommen, wenn wir uns alles einteilen. Wir sollten kein Feuer riskieren, um unsere Position nicht zu verraten", murmelte er.
      Durch verirrte Haarsträhnen blinzelte er zu Sylea hinauf. Sie würden sich schon gegenseitig warmhalten. Dagegen hatte Cain wirklich nichts einzuwenden.
      "Was denkst du, wie lange wir bis Barhill unterwegs sind?", fragte er und legte den Kopf schief. "Du bist hier die Expertin. Ehrlich gesagt, habe ich vor mindestens einer Stunde die Orientierung verloren."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Nach Süden.
      Sylea musterte die abgerutschte Wand, über die das Blau des Himmels erschien. Vermutlich konnten sie von dort aus weiter sehen, waren zeitgleich aber auch wie ein Leuchtfeuer stationiert. Sie müssten wohl oder übel damit zurecht kommen, ohne Aussichtspunkt weiter nach Süden zu laufen. Denn dort, das wusste Sylea, war Barrhill zu finden.
      Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich Cain an seinem Knie berührte. Da fiel ihr erst wieder ein, dass sein Bein eigentlich nicht mehr funktionstüchtig sein dürfte. Es war Mortimer zu verdanken, dass er so gut wieder laufen konnte. Das hatte das Vessel im Zuge der Aktion einfach vergessen. „Mist, ich hab total verdrängt, dass es eigentlich zertrümmert sein sollte... Geht's?“
      Sie bekam ein schlechtes Gewissen und kam zu dem Seeker herüber, um vor ihm stehen zu bleiben. Eindringlich musterte sie ihn, sein leicht zerzaustes Haar und die noch immer schweißfeuchte Stirn. Missmutig kaute sie an ihrer Unterlippe herum, während er den Inhalt seines Rucksacks untersuchte.
      „Ich mein, ich weiß, wie man fast rauchloses Feuer macht. Aber es gibt wohl Möglichkeiten, auch nach Wärme zu suchen. Mit Ifra.... Infrarot!“, setzte sie nach, nachdem eine Stimme in ihrem Kopf ihr das richtige Wort zugeflüstert hatte. „Eigentlich sollten wir eh nicht lange an einem Ort bleiben. Sobald wir vermuten, dass jemand kommen könnte, sollten wir schon weitergehen.“
      Sylea begegnete Cains Blick zwischen seinen Strähnen hindurch. „Wenn wir auf offener Strecke und ohne Pause gehen, dann etwa einen halben Tag. Aber wir gehen querfeldein und nicht über das wegsamste Terrain. Also länger als einen halben Tag.“
      Ein halber Tag. Ein halber Tag und dann würden sie in der Nähe ihres Familiensitzes sein und vermutlich das Dümmste tun, was ihnen in den Sinn kommen konnte. Auch Ascan war auffällig ruhig, so als wäre selbst er ein wenig angespannt. Vielleicht war es das auch, genau konnte sie es nicht bestimmen.
      Vermutlich war ihr das Unbehagen ins Gesicht geschrieben, denn etwas in Cains Augen veränderte sich kaum merklich. Sofort riss sich Sylea wieder zusammen und strich ihrem Partner die Haare aus dem Gesicht. Damit er weniger wie ein Wilder und mehr wie ein zivilisierter Mann aussah.
      „Ich glaube, es wurde im Laufe der Jahre ein Großteil der Wälder hier in der Umgebung abgeholzt. Dann müssten wir viel über Land laufen und wenn wir keinen Wanderwegen folgen, würde das vermutlich Aufsehen erregen. Also wäre es vermutlich sinnvoller, wenn wir in der Nacht gehen... Oder vielleicht-“
      Hinter Cain knackte es.
      Sofort versteifte sich Sylea und sandte einen Puls aus. Ihre Aura traf das Gold von Cain, dann nur ein paar niedere Tiere und dann etwas deutlich Größeres. Der Seeker war ebenfalls herum gewirbelt, mindestens so verstört von der Tatsache, dass er erst jetzt ebenfalls etwas bemerkte. Sie beide verfielen in vollkommene Starre, denn im Umkreis gab es nichts außer Baumstämmen, hinter denen sie sich hätten verstecken können. Gerade ballten sich Syleas Hände zu Fäusten, da schob sich ein Schatten zwischen den Bäumen hervor. Zeitgleich sahen sie beide das Glitzern von Metall und dann ein gähnendes schwarzes Loch.
      Sie sahen direkt in die Mündung einer Schrotflinte.
      Geführt wurde die Waffe von einem Mann, der sie direkt im Anschlag und auf Sylea und Cain gerichtet hatte. Als er jedoch bemerkte, dass es nur zwei junge Erwachsene waren, die zwar Wildcamping betrieben, ansonsten aber harmlos sein mochten. Er wartete unbeweglich ein paar Sekunden ab, dann ließ er seine Waffe sinken. Zum Vorschein kam ein Mann um die Sechzig mit einem üppigen weißen Vollbart. Er trug volle Jägersmontur, grüne Hose, grüne, dicke Jacke und braune hohe Stiefel. Auf seinem Kopf thronte ein Hut, dessen Krempe er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Seine dunkelbraunen Augen wirkten beinahe schwarz.
      „Wanderer?“
      Sylea brauchte einen Moment ehe sie sich aus ihrer Panikstarre lösen konnte. „J... ja? Sie haben uns echt einen Schrecken eingejagt mit der... Waffe....“ Die er zwar nicht mehr auf sie gerichtet hatte, sie allerdings auch nicht weggesteckt hatte.
      Sein Blick ging zwischen dem Mädchen und dem Jungen hin und her, so als müsse er noch abwägen, ob das stimme. „Gibt zur Zeit Idioten, die wildern.“ Er war kurz angebunden. Sehr kurz. Vielleicht auch ein wenig ruppig, seine Stimme klang ein bisschen wie eine Reibahle.
      „Wir haben keine Waffen!“, verkündete Sylea umgehend und hob beschwichtigend die Hände. „Sie können gerne in die Rucksäcke sehen. Äh... da sind vielleicht nur ein paar Dosen und... hm... ein Wurfzelt?... Für den nächsten Campingplatz, versteht sich.“
      Stille.
      Stumme Blicke wurden ausgetauscht.
      Dann, endlich, öffnete der Mann den Verschluss seiner Flinte und holte die beiden Patronen wieder heraus. Was für welche es waren konnte Sylea nicht bestimmen, aber die Hülsen waren zumindest blau gewesen, bevor sie in seiner Jackentasche verschwand. „Ihr heißt?“
      Für einen Moment wollte sie ihren echten Namen sagen. Gerade noch rechtzeitig biss sie sich auf die Zunge, sah jedoch etwas hilfesuchend zu Cain, denn in der Überraschung hatte sie vergessen, welche Namen Jace ihnen zugeteilt hatte. Stumm versuchte sie Cain zu signalisieren, ihr zu helfen.
    • Mit Mühe verdrängte Cain den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht um Sylea nicht unnötig zu beunruhigen. Jedoch stellte es eine unbestreitbare Tatsache dar, dass sich sein Bein häufiger bemerkbar machte. Die Muskulatur erweckte den Eindruck deutlich schneller zu ermüden und von dem zersplitterten und wieder verschmolzenen Knochen ging ein dumpfes Pochen aus. Das Gefühl war nicht permanent sondern äußerste sich durch kurzzeitige Intervalle, deren Abstände immer kürzer wurden seit sie Mortimers Archiv verlassen hatte und die Entfernung zwischen dem Babylonier und ihnen immer größer wurde. Cain unternahm keinerlei Anstalten, die Gedanken und Vermutungen vor der jungen Frau zu verbergen. Er bot sich Sylea an wie ein offenes Buch, dass jegliches Geheimnis freiwillig offenbarte. Anstatt Worte zu benutzen, war es wesentlich einfacher ihr die Gefühle zu übermitteln und damit auch die Befürchtung das Mortimers kleines Wunder nicht von Dauer war. Cain fand Trost in dem geschmiedeten Seelenband.
      Trotzdem beobachtete er seine Partnerin ganz genau. Seine schmälerten sich.
      Er hatte gelernt, die Veränderungen in ihre Sprache und Mimik zu erkennen. Selbst für die winzigen Veränderungen in der Körperhaltung war er hypersensibel geworden. Bedauerlicherweise entging ihm dennoch mehr als Cain lieb war. Der Wechsel gestaltete sich häufig sehr subtil, so dass selbst seine empfängliche Aura diesen nicht jedes Mal bemerkte. Also saß der Seeker, dort auf dem Baumstumpf mit seinem verletzen Bein, dem aufkommenden Gefühl der Nutzlosigkeit und sah zu wie Sylea über unbekannte Worte stolperte und in sich hinein auf eine Stimme horchte, die er nicht hören konnte.
      Die goldschimmernde Aura pulsierte bei der liebevollen Berührung und ließ sich besänftigen.
      Seit der Grimm unter der glühenden Oberfläche lauerte, hatte er das ungute Gefühl, seine Emotionen nicht mehr hundertprozentig im Griff zu haben. Er war zu impulsiv, viel zu leicht zu erschüttern. Da knackte es in seinem Rücken im dichten Unterholz.
      Der Seeker sprang unüberlegt auf die Füße um Sylea vor einem möglichen Verfolger abzuschirmen wie ein lebendiger Schild. Er versuchte, das Pochen in seinem Bein zu ignorieren. Die goldene Aura dehnte sich schlagartig aus, um zu erfühlen, was er nichts bemerkt hatte. Durch die mangelnde Wachsamkeit hatte sich etwas oder jemand vollkommen unbemerkt genähert. Ein Fehler, der im schlimmsten Fall sicherlich ihr Schicksal besiegelt hätte. Weit davon entfernt waren die Rubra und der Seeker nicht. Eine Gestalt schälte sich aus den Schatten zwischen den Bäumen und richtete zur Begrüßung den Lauf einer Schrotflinte in ihre Richtung.
      Während zwischen Sylea und dem... Jäger eine holprige Unterhaltung in Gang kam, konzentrierte sich Cain vollkommen darauf die Umgebung abzuscannen. Es war schon ein wirklich, glücklicher Zufalle, dass der rüstige Jäger mit der Flinte die vermeintlichen Wilderer so schnell aufspüren konnte. Vielleicht war er zufällig in der Gegend gewesen.
      Cain hatte in den letzten Woche viele wundersame Dinge gesehen und erlebt. Es gab aber eines, an das er im Zusammenhang mit Sylea und Ascan niemals glauben würde: Zufälle. Misstrauisch aber bemüht nicht allzu auffällig dabei zu sein, schob Cain seine Partnerin noch ein kleines Stückchen hinter sich. Welcher Mann würde nicht versuchen, seine Freundin vor einem Fremden mit Schrotflinte zu beschützen? Er beäugte wie der vermeintliche Jäger die Schrotpatronen aus der Waffe holte, aber Cain blieb in Alarmbereitschaft.
      "Mein Name ist Colin Hawthorne", antwortete er kooperativ. "Und diese bezaubernde, junge Dame, der sie einen riesigen Schreck eingejagt haben, ist meine Frau Eliza."
      Cain lächelte, bemerkte aber den skeptischen Blick des Fremden.
      Sylea war jung, sehr jung für eine Heirat.
      Er legte einen Arm um ihre Schultern und platzierte einen liebevollen Kuss auf ihrem Scheitel. Er gluckste um das kleine Schauspiel abzurunden.
      "Ihr Vater war nicht sehr angetan davon, als ich um die Hand seiner kleinen Prinzessin gebeten habe, aber es war Liebe auf den ersten Blick. Wir waren in Prestwick, hübsches Städtchen. Normale Flitterwochen waren uns zu langweilig, deswegen haben wir uns überlegt einen kleinen Traum zu verwirklichen und bereisen das wunderschöne Schottland abseits der überlaufenden Touristenhochburgen."
      Er sah zu dem ungebetenen Gast herüber.
      "Ich verspreche Ihnen, dass wir nicht vorhaben Ihnen Ärger zu machen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea verschwand zur Hälfte hinter Cain, der sich zwischen ihr und dem Jäger stellte. Sie konnte noch um seinen Körper herum schauen, der nahezu vibrierte, seitdem er wieder auf den Füßen war. Da war Anspannung und Nervosität in seiner Aura, seiner Haltung, seinem ganzen Wesen und das bisschen Entspannung hatte nicht den gewünschten Effekt erzielen können.
      Bei Cains Antwort wurden die Bewegungen des Jägers langsamer. Seine Aufmerksamkeit war tatsächlich von Sylea hin zu Cain gewandert, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte. Was auch immer er für eines machte; es erreichte den Mann nicht. Stattdessen überrumpelte er sie, als er unangekündigt einen Arm um sie legte und ihr einen Kuss auf den Scheitel platzierte. Ohne es zu wollen zuckte sie kurz zusammen und ihr Blick schoss schuldbewusst zu dem Jäger.
      Der Mann hörte zu, aber seine Hand glitt beiläufig in eine seiner Taschen. „Gerade gut behütet seht ihr nicht aus.“
      Sylea blinzelte, offenkundig baff. Selbst Ascan in ihrem Kopf strömte eine Welle des Argwohns aus. Was meinte der Kerl mit gut behütet? Hatte sie irgendwelche Flecken im Gesicht? Ihre Kleider waren doch allesamt in Ordnung und das Vibrieren seitens Cain kann von allem möglichen kommen. Oder meinte der Mann einfach etwas anderes und sie interpretierten einfach zu viel herein?
      „Schottland bereisen im späten Herbst? Mit den Sachen da?“ Er nickte zu den beiden Rucksäcken, die definitiv nicht danach aussahen, als würden sie einen angenehmen Inhalt für mehr als wenige Tage fassen. „Ohne Waffen?“
      Er verdächtigt uns.
      Ach, wirklich? Wäre mir überhaupt nicht aufgefallen!
      Er glaubt, dass ihr keine Wilderer seid, aber eine andere Gefahr. Ihr seid in der Nähe der Rubras, rechne doch mal schnell die Wahrscheinlichkeit aus, mit der ihr nichtjemanden trefft, der sich mit Seelen auskennt.
      Wieso zur Hölle kommst du immer dann raus, wenn dich keiner fragt?!
      Die Aufmerksamkeit des Jägers lag wieder unentwegt auf Sylea, die sich gedanklich mit Ascan fetzte und etwas apart wirkte. Das reichte, damit sich der Mann in irgendeiner Art und Weise verunsichert fühlen musste, denn er zog bestimmt wieder zwei blaue Hülsen hervor und war im Begriff, seine Waffe neu zu laden.
      Sylea zuckte zurück. Mit Schusswaffen hatte sie nur schlechte Erfahrungen gemacht.
      „Ennis, renn doch nicht immer so weit vor, ich bin nicht so schnell!“
      Alle drei Parteien versteiften sich als die glockenhelle Mädchenstimme durch den Wald schrill. Zwischen den Bäumen im Rücken des Mannes tauchte eine weitere Person auf. Ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt und locker einen Kopf kleiner als Sylea. Ihr haselnussbraunes Haar hatte blonde Highlights und warf sich in Wellen aus dem Zopf heraus, in den sie gebändigt worden waren. Sie hatte wie der Mann eine komplette Waldausrüstung an mit trittfesten Stiefeln, dicker Jacke und Lederhandschuhe.
      Lederhandschuhe?
      Sie stapfte offensichtlich genervt aus dem Wald hin zu Ennis, der sich einfach nicht mehr bewegte. Man sah in seinem Gesicht jedoch deutlich, dass er unzufrieden mit der Situation war. Als sie nah genug dran war spähte sie an ihm vorbei, so wie Sylea es mit Cain getan hatte, und stieß einen theatralischen Seufzer aus.
      „Boah, Ennis, jetzt lass das doch mal sein. Du tust immer so, als seien alle Menschen böse, die du siehst.“ Ruppig riss sie ihm die Patronen aus der Hand, steckte sie in seine Tasche und trat ihm seitlich gegen sein Bein.
      Ennis fluchte sehr bildlich und steckte endlich seine Flinte weg während er sein Bein rieb. Das Mädchen verschränkte die Arme und betrachtete zuerst Sylea, dann Cain. Als sie ihn ansah, blinzelte sie ein paar Mal und betrachtete ihn länger, als es Sylea lieb war. Das Mädchen zog die Unterlippe ein, legte den Kopf leicht schräg und entschied sich dann, Ennis einmal zu knuffen.
      „Jaaaah, sorry!“, flötete sie. „Mein Opa ist ein bisschen komisch manchmal. Der schläft aber auch mit seiner Flinte in einem Bett, müsst ihr wissen. Der alte Sack hat euch bestimmt erschreckt.“
      „Mairead, du sollst auf dein Mundwerk aufpassen.“
      „Ach, und wer flucht hier wie ein Wilder? Papa hätte dich längst mit deiner eigenen Waffe zum Teufel gejagt!“, erwiderte sie pikiert und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie zu Cain und Sylea: „Ähm, also, dann sag ich 'Tschuldigung in seinem Namen, okay? Was macht ihr eigentlich hier? Camping? Das ist doch verboten.“
      Ihr Blick ging zu den Rucksäcken. Sylea war vollkommen irritiert. Auch dieses Mädchen hatten weder sie noch Cain zuvor spüren können. Waren sie einfach nicht mehr in der Lage dazu oder wo war hier die Crux? Wenn einer von ihnen ein Vessel gewesen wäre, hätte Ascan es längst bemerkt. Also waren es doch nur Menschen....
      Nur Menschen...
    • Der rüstige Jägersmann zeigte sich deutlich misstrauischer als zunächst vermutet. Fall das überhaupt möglich war. Der Mann hatte das vermeintliche Wanderpärchen von der ersten Sekunde an ganz genau unter die Lupe genommen und kaufte ihnen die Erklärung kein Stück ab. Cain hoffte, dass sein Gegenüber die Unruhe nicht mitbekam, die sich langsam in dem Seeker aufbaute. Die einzige Möglichkeit den sich anbahnenden Schwierigkeiten noch aus dem Weg zu gehen, war ein bedächtiger Rückzug. Der Seeker horchte auf und die Verwirrung, die über das Seelenband in seine Wahrnehmung schwappte, verdeutlichte ihm, dass Sylea - und möglicherweise auch Ascan - genauso konfus über die Worte des Jägers waren. Gut behütet?
      Cain musste sich innerlich die Frage stellen, wie lange der fremde Jäger sie schon beobachtete und wie er das gemacht hatte, ohne das einer von ihnen auch nur einen winzigen Funken seiner Aura gespürt hatte. Hatte er gesehen, wie der Seeker sich ächzend und humpelnd auf dem Baumstamm niedergelassen hatte? War es die allgegenwärtige Alarmbereitschaft von Cain, die den Argwohn weiter anstachelte?
      Die wichtigste aller Fragen geisterte in Dauerschleife durch seinen Kopf: Warum spürte er nichts?
      Der Jäger steckte die Hand zurück in seiner Jackentasche und zog die blauen Hülsen wieder hervor. Etwas an Sylea beunruhigte ihn, aber der Seeker hatte in dem Moment ihr Gesicht nicht sehen können. Die Handlung reichte Cain und dem knurrenden Grimm völlig aus, um in den Verteidigungsmodus zu springen. Dieses Mal machte er sich keine Mühe seine Versuche seinen Beschützerinstinkt zu kaschieren. Mit einer energischen Bewegung seines Arms schob er Sylea hinter sich. Cain straffe die Schultern und präsentierte sich dem Fremden als lebendiges Schutzschild. Er fühlte, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken sträubten. Syleas Beschützer brauchte keine Pistole oder ein Gewehr, denn er trug seine gefährlichste Waffe in seiner Brust.
      Bevor die Situation eskalieren konnte, stapfte ein Mädchen in ähnlicher Ausrüstung auf die kleine Lichtung.
      Das bedrohliche Knurren tief in seiner Kehle ließ sich dieses Mal leider nicht unterdrücken. Die Grenze zwischen Cain und der Schattenkreatur verschwamm zunehmend, aber noch besaß Ersterer die Oberhand. Alarmiert beäugte er das genervte Mädchen, Mairead und Ennis. Sie hatte er auch nicht gespürt, nicht ein kleines Fitzelchen einer Aura. Spätestens im Augenblick der Zankerei wusste Cain ohne jeden Zweifel, dass etwas faul war. Sie waren mitten im Nirgendwo und liefen rein zufällig zwei anderen Personen über den Weg. Dazu noch einem alten Mann und einem Mädchen, das um diese Tageszeit sicherlich nichts mitten einem dunklen Wald verloren hatte. Allein die Art, wie sie mit einem Erwachsenen umsprang und im die Patronen förmlich aus der Hand riss, hatte nichts mit kindlichem Verhalten gemein. So redete keine Enkelin mit ihrem Großvater.
      "Du tust immer so, als seien alle Menschen böse..."
      Alle Menschen? Der Satz war allgemein genug daher gesagt, um ihn zu überhören. Cain aber hatte gelernt auf jedes noch so kleine Detail zu achten. Er glaubte langsam nicht mehr daran, dass die Personen vor ihm einfache Menschen waren und noch weniger glaubte er an Zufälle. Papa? Also, gab es noch eine dritte Person oder noch mehr? Mama, Schwester, Bruder...hauste eine ganze Familie hier im Wald, ohne dass Cain und Sylea davon etwas bemerkt hatten?
      "Wir sind Wanderer", antwortete der Seeker nun wesentlich kürzer angebunden. "Und wir wollen keinen Ärger. Deswegen werde wir jetzt gehen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea ließ sich widerstandslos von Cain in dessen Rücken schieben und verlor dadurch beinahe die Sicht auf den Jägersmann und das Mädchen, das zu ihm aus dem Dickicht aufschloss. Das Knurren, das sich in Cains Brust sammelte, ließ auch ihre Aura erschaudern in der noch immer währenden Erinnerung an das Hell Gate. Ihre Finger legten sich an seinen Arm, wobei niemand von ihnen spürte, wie kalt die Glieder eigentlich waren.
      Auf Cains Aussage hin, dass sie nun verschwinden wollten, reagierte Mairead regelrecht bestürzt. Ihre Augenbrauen hoben sich merklich nachdem auch sie die Taschen gesehen und wohl ihre eigenen Schlüsse daraus gezogen hatte. „Ihr wandert in dem Outfit?“
      „Vorhin waren es noch Flitterwochen“, warf Ennis ein, der sich von dem Tritt erholt hatte, Sylea und Cain aber immer noch finster betrachtete. „Verstricken sich in Widersprüche.“
      „Wieso Widersprüche? Deine Flitterwochen liegen schon viel zu lang zurück, du weißt doch gar nicht mehr, was das überhaupt ist.“
      „Mairead, ich bin nicht -“
      „Alt? Doch“, paffte das Mädchen zurück und blies provokativ die Wangen auf, die sofort mehr Farbe bekamen. „Ich sag ja, viel zu misstrauisch. Wenn die das als Flitterwochen.... Moment mal.“ Mairead stoppte inmitten ihres Satzes und schien ihre volle Aufmerksamkeit auf den Seeker zu legen. Ihre Augen wurden groß als sie zu dem Mädchen in seinem Rücken blickte und wieder zurück. Mit ausgestrecktem Zeigefinger wedelte sie zwischen den Beiden hin und her. „Heißt das, ihr seid zusammen??“
      Sylea verlor immer mehr den Bezug zur Situation. Das wurde immer abstruser. Hatte das Gör da vorne etwa ihre Augen auf den Seeker geworfen? Ein zehnjähriges Kind, das noch nicht mal in der Pubertät war? In welcher Welt waren sie bitte gelandet?
      „Ähm... Ja? Offensichtlich, wenn man flittert?“, sagte Sylea leise, als sie sich ein wenig mehr Sichtweite von Cain erkämpft hatte, der noch immer wie eine Eiche vor ihr postiert war. „Wie er schon sagte, wir gehen einfach weiter.... Lasst euch nicht stören bei... was auch immer....“
      Da fing Mairead wild an zu gestikulieren. „Halthalthalt! Ihr könnt doch nicht einfach wieder gehen! Nicht... SO.“ Sie deutete auf die Klamotten, die angesichts der Jahreszeit nicht unbedingt die beste Wahl für Camping war. „Kommt schon, ihr seht nicht aus wie zwielichtiges Pack.“
      „Du bezeichnest keine Menschen als Pack“, ermahnte Ennis seine Enkelin und packte sie etwas gröber am Arm, damit das Mädchen endlich aufhörte zu fuchteln.
      Mairead entriss ihm ihren Arm und funkelte den alten Jäger finster an. Demonstrativ trat sie einen großen Schritt von ihm weg, was ihn lediglich kopfschüttelnd zurückließ.
      „Wo wollt ihr beiden denn hin?“
      „Nach Süden“, sagte Sylea ohne groß darüber nachzudenken, dass das schon zu viel des Guten hätte sein können. Manch einer hätte bereits jetzt eins und eins zusammen zählen können, doch irgendetwas sagte Sylea, dass die Beiden da vorn keine Hunter waren. Oder zu der Regierung zählte. Vielleicht begegneten sich einfach zwei Fronten gerade auf dem völlig falschen Fuß. Niemand wusste es.
      „Wunderbar!“, klatschte Mairead in die Hände und hüpfte dabei sogar. „Dann gehen wir zusammen! Unsere Hütte ist weiter im Süden, da wollten wir auch gerade wieder hin. Ihr könnt ja eine Nacht oder so bleiben, wenn ihr wollt!“ Sie klang aufrichtig erfreut.
      Ennis hingegen sah aus, als gäbe es monatelang Regenwetter. „Keine Fremden hab ich dir gesagt.“
      „Alter Mann, jetzt sei doch nicht so! Guck mal, wie jung die sind. Die schweben eh auf Wolke sieben.“ Bei den letzten Worten wurde ihr Ton leicht ätzend, was nun Sylea beinahe ein Knurren entrungen hätte.
      „Also, wollen wir? Ich geh auch vor!“
    • Federleicht berührten erst die Fingerspitzen seinen Arm. Der darauffolgende Druck ihrer Finger und schließlich der ganzen Hand auf dem angespanten Muskel seines Oberarmes spürte Cain kaum. Ein winziger Gedanke schob sich in den Vordergrund. Eigentlich war es mehr eine Frage, die sich dem Seeker stellte. Konnte Sylea ihn notfalls an die Leine legen, sollte der Grimm wirklich, wirklich ernsthaft ausbrechen wollen? Bisher hatte sich das schattenartige Geschöpf in seiner Brust von der Rubra bändigen lassen, aber im Hellgate hatte das Mädchen dafür die Unterstützung eines Gottes benötigt. Cain biss sich auf die Zunge, als ihm der Fehler in seiner Aussage bewusst wurde. Es half nicht, dass sein Hirn mit Alarmsignalen geflutet und von dem Gedanken, Sylea zu beschützen, dominiert wurde. Blind suchte der Seeker die vertraute Hand auf seinem Arm und riskierte einen besorgten Seitenblick in Richtung seiner Partnerin, deren Finger sich eiskalt unter seinen anfühlten.
      Sein Blick zuckte zurück zu dem Mädchen namen Mairead, die ihn schockiert anstarrte. Über die Verschmelzung der Auren fühlte der Seeker überwätligende Irritation seitens Sylea. Das Verhalten des fremden Mädchen war ihr ebenso suspekt wie Cain. Mittlerweile ließ er keinen Zweifel mehr zu, dass es sich bei dem Jäger und seiner Enklin nicht um gewöhnliche Menschen handelte.
      Eine Augenbraue schoss vielsagend in die Höhe, als Sylea mit ihrem Knurren dem Grimm ernsthafte Konkurenz machte.
      Unter anderen Umständen hätte sich von der offenen Zurschaustellung von Eifersucht sicherlich geschmeichelt gefühlt. Eine besitzergreifende Slyea verwandelte das Blut unter seiner Haut in glühende Lava. Es gefiel ihm. Beschwichtigend nahm er ihre Hand von seinem Arm und drückte seine Lippen gegen ihre Knöchel, um die Aussage des Mädchen zu unterstreichen und Syleas Nerven ein wenig zu beruhigen. Leichter gesagt als getan, während der Grimm sich gegen die Wände seines Gefängnisses warf.
      Dabei behielt er Mildread und Ennis wachsam im Auge.
      Einen Augenblick noch lauschte Cain dem absurden Dialog und entschied dann, dass es genug war. Die schier endlose Geduld neigte sich langsam dem Ende zu und als weder Ennis noch Maidread ihnen einen friedlichen Rückzug gewährten, beschloss der Seeker in die Offensive zu gehen. Er hatte sowieso das Gefühl, dass das seltsamte Gespann sie nicht einfach ziehen lassen würde.
      Ausflüchte und fixe Lügen hatten bisher nicht geholfen. Sie sollten wissen, dass er wusste, dass etwas faul war. Vertraute er auf seine Wahrnehmung hätten sie allein auf der Lichtung sein müssen.
      "Stopp", knurrte er. "Keiner von uns hat zugestimmt euch zu folgen und ich sehe auch keinen Grund dazu einem Fremden, der meine Partnerin und mich mit einer Schrotflinte bedroht tiefer in den Wald zu folgen. Tut mir leid, Mairead, aber so funktioniert da nicht. Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas stimmt nicht. Ich spüre nichts."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Sylea achtete gar nicht recht auf Cain, als dieser ihre Finger von seinem Arm löste und die Knöchel zu seinen Lippen führte. Sie hatte nur Augen für dieses seltsame Mädchen und den alten Mann, der irgendwie danach aussah, als wenn er immer weiter aus der Szene fallen würde. Er wirkte seltsam distanziert, so wie er zwischen ihnen und seiner Enkelin hin und her sah.
      Als weder Sylea noch Cain sich in Bewegung setzten sondern eher ihre Abwehrhaltung beibehielten, machte Mairead den ersten Schritt. Ein theatralisches Seufzen entstieg ihr bevor sie sich kopfschüttelnd in Bewegung setzte. Sichtlich genervt stieg sie über die niedrigen Ästchen am Boden und kam auf Sylea und Cain zu. „Es geht daaaa lang.“
      Doch bevor das Mädchen in kritische Nähe kommen konnte, versteifte sich der Seeker merklich und das Vessel schloss sich ihm an, wenn auch aus einem etwas anderen Grund. Jederzeit fürchtete sie, dass er die Kontrolle verlieren könnte. So eine Zeitbombe war er mittlerweile geworden und noch hatte sie nicht das nötige Feingefühl um zu wissen, wann er wirklich an der Grenze stand. Es reichte jedoch aus zu hören, wie er Mairead mit seinen Worten allein zum Anhalten brachte und ihr einen fragenden Ausdruck auf das runde Gesicht zauberte.
      „Ja gut, ich versteh schon, dass mein Opa ein bisschen gruselig ist, aber was meinst du mit du 'spürst nichts'? Hast du kein Warm-Kalt-Gefühl oder was? Es ist nämlich recht kalt.“ Sie verschränkte die Arme der Brust, Skepsis im Blick.
      Syleas Augen verschmälerten sich. Ihre Aura streckte sich ein bisschen, wandte sich, sodass sie ihre Aurensicht aktivierte und das Mädchen eingehend musterte. Die Farben, die sich durch ihre kräftige Aura schlängelten, deuteten nicht darauf hin, dass sie etwas verheimlichte. Dass sie log oder etwas vortäuschte. Wenn das Vessel es nicht besser wüsste würde sie behaupten, dass Mairead wirklich keine Ahnung hatte.
      Im Gegensatz dazu stand die Aura von Ennis, die von einem leuchtenden Orange ummantelt wurde. Auch wenn sein Gesicht vollkommen regungslos war, so war ihm etwas wichtiges aufgefallen, das ihm zuvor entgangen war. Das war auch der Grund dafür, dass er sich plötzlich recht eilig auf seine Enkelin zu bewegte, sie am Kragen packte und zurück riss. Er stellte sie hinter sich, fast so, wie Cain sich vor Sylea postiert hatte. Doch nun lag in seinem Blick nicht mehr dieser bodenlose Argwohn, sondern vielmehr eine gewisse Zurückhaltung.
      „Ihr seid also besonders. Mairead kann nichts dafür, sie weiß es nicht“, raunte er und hielt seine Enkelin eisern am Kragen fest, die zu zappeln begann.
      „Was weiß ich nicht?! Ich weiß ALLES , Ennis!“
      „Es gibt hier wirklich Wilderer. Dachte, ihr seid verdächtig, aber nicht so. Die Rucksäcke da“, er nickte zu den Taschen. „Ihr seid auf der Flucht, oder?“
      Syleas Augen wurden groß. Egal wie oft sie Ennis ansah und in seiner Aura nach Verrat oder Lügen suchte – sie fand keine. „Er sagt die Wahrheit“, murmelte Sylea leise und wusste immer weniger, was sie von der Situation halten sollte. Die Feindseligkeit in dem alten Mann war deutlich geschrumpft. Fast so als... „Sie... sympathisieren mit uns?“
      Ennis' wache Augen richteten sich auf Sylea. So von Nahem betrachtete er sie einmal eingehender, wobei er scheinbar an ihrem Haar hängen blieb. „Klingt eher nach einer Feststellung als einer Frage. Was kannst du? Auren lesen?“
      Mairead gab ein gequältes Geräusch von sich. „Was sind Auren? Was für Auren? Ist sie ein Alien oder was? Hallo??! Ack, Ennis, lass mich looooos!!“
      Ennis ließ sie nicht los. „Und du? Du schützt sie. Ihr seid aber nicht... zwei von denen , oder?“
    • Mit unmissverständlicher Skepsis beäugte der Seeker das Mädchen.
      Die drohende Körperhaltung und das grollende Knurren musste selbst für die aufdringliche Mairead als Warnung ausreichen. Das Mädchen stoppte mitten in ihrer zielstrebigen Mission die Fremden einfach hinter sich her zuschleifen. Eine unsichtbare Grenze baute sich vor Cain auf und sollte jemand es wagen auch nur einen Fuß darüber zusetzen, garantierte der Seeker für nichts. Der Grimm in seiner Brust revoltierte gegen die eiserne Selbstbeherrschung des Seekers. Er zog und zerrte, fletschte die bedrohlich die Zähne mit einem allgegenwärtigen Hunger. Die Emotionen, nach denen seine Existenz gierte, beunruhigten Cain. Wie süß schmeckte wohl Angst? Wie befriedigend wäre es, den Schmerz aufzusaugen, wenn er die zierlichen Gliedmaßen des Mädchens in Stücke riss und sie mit seinen Schatten verschlang?
      Cain leckte sich unbewusst über die Lippen und zuckte heftig zusammen, als Sylea die Stimme erhob. Er hatte der Unterhaltung kaum zugehört. Die ganze Zeit über war er einzig allein darauf konzentriert gewesen einen gewissen Sicherheitsabstand zu wahren und den Grimm zu bändigen. Mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs ihm die Situation über den Kopf. Ruckartig drehte er seinen Kopf in Syleas Richtung und sah sie zunächst einfach nur an. Es dauerte ein paar Sekunde ehe sich Verständnis in seinen goldenen Augen spiegelte.
      Der Seeker versuchte seiner Partnerin ein versicherndes Lächeln zu schenken.
      Er vertraute ihrem Urteil und hatte den Grimm im Griff. Vorerst.
      Das brachte Cain dazu ein wenig offener auf die Fragen des Jägers zu antworten, dessen Feindseligkeit im Angesicht der Lage in gesundes Misstrauen verwandelte. Jetzt spürte er etwas. Keine Aura, keine seltsamen Schwingungen in der Luft. Er schmeckte es. Er fühlte es, wie es seine Sinne streifte und ihm aufdringlich in die Nase kroch. Das Misstrauen, prickelnd und scharf.
      "Wir versuchen keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen", antwortete Cain indirekt. "Offensichtlich ohne Erfolg.
      Langsam ließ er die Schultern kreisen, als müsste er seine angespannten Muskeln lockern und sah zu Ennis herüber.
      "Ja", antwortete er. "Ich beschütze sie um jeden Preis. Um es noch einmal deutlich zu machen, wir sind keine Gefahr solange ihr keine für uns seid."
      Fragend runzelte Cain die Stirn. Denen? Darauf hatte er zwei passende Antworten. Er war neugierig welche er davon bekommen würde.
      "Und wer sind die?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”