Vessels [Asuna & Winterhauch]

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    • Auf der einen Seite war es mehr als nachvollziehbar, dass Mortimer das Weite suchte. Hätte Anifuris eine solche Fähigkeit besessen, würde er vermutlich das Gleiche tun. Dennoch kam er nicht drum herum dem Verschwinden der Babyloniers anklagend zuzuschauen und sich anschließend allein gegen zwei Fronten gestellt wiederzufinden. Diese Aktion hatte mit einem Mal eine deutlich bescheidenere Wendung genommen als er es sich je hätte ausmalen können.
      Aus der Halle drang ein helles Lachen, das von Dagda stammte. Er hatte ebenfalls amüsiert dabei zugesehen, wie sich der Konstrukteur aus der Affäre gezogen hatte und wissentlich nicht eingegriffen. Entweder scherte es ihn wirklich nicht oder es ging ihm gar nicht um alle drei Eindringlinge.
      Schwerfällig richtete sich Anifuris' Blick wieder auf Dagda. Allen Anschein nach schien er wirklich nur mit dem Menschen an seiner zu sprechen und den Seelendieb regelrecht zu ignorieren. Keiner von ihnen stellte für einen Gott eine Gefahr dar, wie hatte der Rat es also bewerkstelligt, sich seiner Hilfe zu bedienen?
      "Wenn ich Seelen zurück in den Maelstrom schicke, dann komplett und nicht zu Teilen", antwortete Dagda und Anifuris fröstelte.
      Der Seelendieb begriff sofort, dass der Gott vor ihnen uneingeschränkten Einblick auf den Zustand von Cains Seele hatte. Wusste, dass man an ihr herumgebastelt hatte und dass der Schuldige direkt daneben stand. Wusste Dagda dann auch, wie es wirklich um Syleas Bewusstsein stand? So wie es klang waren sie beide untrennbar verschmolzen.
      "Die Seele des Mädchens ist noch vorhanden, sie befindet sich aber scheinbar in einem Dämmerzustand. Der Eindringling hat damit allerdings nichts zu tun, das war ihre eigene Entscheidung. Was er allerdings mit dir angestellt hat ist eine gänzliche andere Geschichte", sprach der Rothaarige weiter und tippte sich mit dem Daumen auf sein Herz. "Er versucht sich an Mächten, die sich einem Menschen entziehen und sieht die Fehler nicht einmal."
      Göttliche Augen schweiften zu Anifuris ab, der mit einem Mal verstand. Fast schon erschrocken schoss sein Blick hinüber zu Cain und erkannte erstmals die Ausmaße seines Handelns. Die schwarzen Partikel rieselten aus Rissen im sonst so vollkommenen Gold der Aura des Seekers. Ein so tiefes, sämtliches Lichts verschluckendes Schwarz, das er noch nie zuvor so gesehen hatte. Das war es also, was Mortimer gesehen und ihm verschwiegen hatte.
      "Ich wusste nicht...", murmelte Anifuris und schaute wieder nach vorn in die Halle.
      Doch sein Blick wurde von einem Rotstich getrübt. Sein Blick wanderte gerade noch abwärts zu dem Jungen, der plötzlich vor ihm stand, dann fühlte er schon einen eisernen Griff an seiner Kehle. Mit einer unmenschliche Kraft drängte Dagda ihn zurück und presste ihn mit einer Hand an die Wand. Anifuris' Hände schossen zu der stahlharten Hand um seine Kehle und versuchten die Finger zu lösen. Vergeblich.
      "Die Seele, die du meinst, nennt sich nur für dich Anifuris. Sein Name ist ein anderer", verkündete Dagda ohne den Blick von dem Mädchen in seinem Griff zu lösen. Die Augen des Gottes begannen leicht zu glühen als er Dinge sah, die sich der Vorstellungskraft der Menschen entzog.
      "Cain, verhandel nicht mit einem... Gott!", presste Anifuris hervor und verspürte das erste Mal Panik.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Ein rätselhaftes Gefühl begehrte in der Seele des Seekers auf.
      Es dauerte ein paar Sekunden bis Cain begriff, was er dort gerade empfand. Eine tiefe Enttäuschung legte sich wie bitterer Tee auf seine Zunge, als Dagda ihn darüber informierte, dass die beiden Seelen im Körper der Rubra ausschließlich gemeinsam in den Maelstrom geschickt werden konnten. Er presste die Lippen zu einer nachdenklich, schmalen Linie zusammen. Dagda erwähnte lediglich, dass er die Seelen nur gemeinsam fortschicken konnte. Mit keiner Silbe betonte er, dass eine Trennung völlig ausgeschlossen war.
      Für einen quälenden Augenblick, der eindeutig die Widersprüchlichkeit im Inneren spiegelte, dachte Cain darüber nach den Gott seine Arbeit machen zu lassen. Seine Augewinkel zuckten verräterisch, als bereite ihm der Gedanke körperliche Schmerzen, die er mit reichlich Selbstbeherrschung verbarg.
      Tatsächlich erschienen die zarten Risse im Gold plötzlich länger zu werden und an Breite zu gewinnen. Mehr und Mehr tiefschwarze Finsternis sickerte heraus und verschluckte den wärmenden Goldschimmer seiner Aura.
      "Ich weiß, was er getan hat. Und ich habe mich freiwillig darauf eingelassen. Es sollte nie von Dauer sein.", antwortete Cain schlicht und zweifelte an seinen eigenen Worten. Er unterdrückte den unwillkommenen Impuls sich zwischen Dagda und den Körper des Mädchens zustellen, dessen Anblick seinen Verstand mit Bildern und Erinnerungen flutete, die nichts in ihm bewegten. Seine Finger zuckten unter einem schwachen Zug. Schnell ballte er die Hand zu seiner Faust, als könnte er so das Gefühl ausschließen.
      Cain hatte selbst nicht gewusst, welche Kosequenzen es mit sich brachte, seine Seele in zwei Teile zu zerreißen.
      Keine Guten, gewiss. Aber Folgen die ertragbar waren, hatte er gehofft.
      Ohne es zu merken, setzte der Seeker einen Fuß nach vorn, als Anifuris im Körper der Rubra mit dumpfen Aufprall eine unerfreuliche Bekanntschaft mit dem rauen Beton der Wand machte. Etwas ähnlich einer überraschten Verwirrungen schimmerte in seiner goldenen Iris, als er sich selbst stoppte. Er sollte das nicht fühlen können.
      "Dann sag mir, wer er ist.", sagte Cain ruhig und warf flüchtig einen Blick über die Schulter zu den Türen, denen er bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Hinter einer dieser Türbögen verbarg sich seine Schwester. Er war seinem Ziel so nahe wie noch nie und doch zögerte er und blickte zu Dagda und Anifuris.
      Er ignorierte Anifuris mit beeindruckender Beharrlicht. Oder Dummheit.
      Ohne Anifuris war die Wahrscheinlichkeit das Hellgate lebend zu verlassen um einiges geringer. Cordelia befand sich ohne Zweifel in einem mental sehr instabilen Zustand und ohne den Babylonier fehlte ihnen ein abenteuerlicher Notausgang. Dazu stellte sich ihnen ein Gott in den Weg. Die Lage konnte kaum schlimmer werden. Wenn er Anifuris dem Gott überließ, ließ Dagda ihn vielleicht mit seiner Schwester ziehen.
      Die Hand des Seekers schoss an seine Brust und er drückte die Handfläche gegen seinen Brustkorb, als könnte er den heißen Schmerz darin eindämmen. Ungesehen von Cain ergoss sich schwallartig ein schwarze Fluss aus den Rissen und sammelte sich wabernd wie Nebel um seine Gestalt. Ein kläglicher Energiepuls erfüllte kurzeitig den Raum.
      Das bedeutete auch das Sylea verloren war. Sylea...
      "Du sagst, du kannst sie nur als Eins zurückschicken. Das bedeutet nicht, dass grundsätzlich keine Trennung möglich ist.", sagte er und rieb sich mit dem Handballen über den Brustkorb. Ein Band legte sich um seine Brust und erschwerte ihm die Atmung.
      "Ich kann sie dir nicht überlassen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Anifuris hing hilflos im eisernen Griff eines Gottes. Seine schmalen Finger lagen kalt an der kleine Hand, die ihn unbarmherzig an die Wand drückte. Doch er wagte es nicht einmal einen einzigen Vorstoß zu wagen. Für einen winzigen Moment hatte er seine Aura nach Dagda ausgestreckt und diese winzige Berührung hatte schon gereicht, um sein Hirn fast zu frittieren. Dieses Wesen spielte außerhalb viel zu vieler Riegen und war für einen Menschen schlichtweg nicht greifbar.
      Dagdas Augen gingen in einem Seitenblick zu Cain, der sich scheinbar gerade bewusst geworden war, das ihn nicht mehr viel von ihm und seiner Schwester zu trennen vermochte. Ein undeutbares Geräusch entkam dem rothaarigen Jungen als dieser etwas zur Seite trat und Anifuris' Kopf in Richtung des Seekers ruckte. "Wie konnte dir entgehen, dass seine Seele zersplittert?"
      Der Seelendieb sah den Seeker mit verzerrtem Gesicht an. Ja, er hatte die schwarzen Fäden gesehen, aber ein jeder trug Schwarz in seiner Seele. Nur dass sie mittlerweile zu bedrohlichen Schluchten angewachsen waren, war ihm irgendwie nicht aufgefallen. Nicht irgendwie - er hatte schlichtweg nicht darauf geachtet und sein eigenes Spielzeug gefährdet.
      "Sie ist doch... noch... intakt", presste er hervor und wusste, das leugnen zwecklos war. "Jeder trägt... schwarz..."
      "Ja, jeder trägt schwarz. Aber die Außmaße sind entscheidend. Du agierst ohne Lehrmeister mit dem höchsten Gut eines Existenz. Du hast schon so viele Seelen in dir aufgenommen, dass deine eigene Farbe nicht mehr existiert. Warte noch eine Stunde, dann wird die Seele dieses jungen Mannes dort zerspringen und du wirst es nicht retten können. Und wenn er geht, geht ein Teil von dir ebenfalls. Das weißt du scheinbar."
      Sollte Anifuris noch Farbe im Gesicht getragen haben war sie nun endgültig verschwunden. Ihm war speiübel als er von dem Gott hörte, dass Syleas Bewusstsein wirklich partiell an den Seeker gebunden war. Selbst wenn nur ein Teil von ihr ginge - es würde auch seine Seele spalten und was das bedeutete, sah er einen Moment später.
      Dagda streckte die Hand in einer auffächernden Geste nach Cain aus, als würde er ihn um einen Tanz bitten. Binnen Sekunden änderte sich das Gefüge im Raum, sämtliche Seelen heulten auf als der Gott seinen Einfluss wirken ließ und Cains Seele in sämtliche Einzelteile zerlegte. Es war das grellste Feuerwerk, das Anifuris jemals gesehen hatte und konnte nur noch die Augen verschließen vor der grausamen Schönheit, die eine zerlegte Seele darstellte. Was Cain zu diesem Zeitpunkt fühlen musste, war niemanden bekannt. Doch Anifuris schrie tatsächlich das erste Mal ungehemmt auf, als Dagda sich Zugriff auf seine Seele verschaffte und den Teil zurückholte, den er dem Seeker genommen hatte.
      Einen Augenblick später gab Dagda Anifuris frei, der regungs los wie ein Sack an der Wand zusammenbrach. Halbherzig wandte sich Dagda dem am Boden liegenden Cain zu, um vor ihm in die Hocke zu gehen und aus dem zersplitterten Seelenkern wieder eins zu machen. Er fügte das gestohlene Teil nahtlos wieder ein und packte den Mann am Arm, um ihn auf die Beine zu reißen. Es wirkte, als sei der Seeker nur einen Moment leicht weggetreten gewesen während Dagda dem größeren Mann den Staub von den Klamotten klopfte.
      "Na? Wieder anwesend und vollständig?", fragte er mit unverholener Selbstzufriedenheit und musterte sein Werk. "Sein wahrer Name lautet Ascan. Er hat gehofft, dich zu kontrollieren wenn er sich einen Teil deiner Seele einverleibt. Dies ist nur marginal erfolgreich gewesen. Allerdings...", er warf einen Blick über die Schulter zu dem Körper an der Wand herüber, "scheint es einen anderen Erfolg gehabt zu haben."
      Das Mädchen an der Wand begann sich leise stöhnend zu regen. Sie schob sich mit dem Rücken etwas die Wand hinauf, ihr Kopf war noch vorn über gebeugt und schwang leicht desorientiert umher. Langsam, quälende Sekunden vergingen, ehe sie den Kopf soweit gehoben hatte, dass man im verschwitzten Gesicht die braungrauen Augen erkennen konnte.
      Und Cain einen deutliche Silberstreif um den Körper der Rubra ausmachen konnte.
      "Wo sind wir?...", fragte Sylea heiser und blickte träge zwischen Cain und Dagda hin und her.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Was fühlte ein Mensch sobald seine Seele, der Ursprung der Seins, in unzählige Splitter zerrissen wurde?
      Das lähmende Gefühl nicht länger Herr über die eigene Existenz zu sein wechselte von Machtlosigkeit in einen Zustand purer Qual. Cain verlor sämtliche Kontrolle über seinen physischen Körper und sackte förmlich in sich zusammen, wie eine Marionette deren Fäden durchtrennt wurden. Anstatt zu Boden zu fallen, blieb er halb stehend und halb gekrümmt an Ort und Stelle. Die Mimik glich einer leblosen Fratze ohne jeglichen Ausdruck von Emotion. Eine völlige Leere, die ihn tatsächlich mehr wie eine willenlose Puppe erschienen ließ.
      Der Seeker konnte es nicht sehen, aber er fühlte den Zug von dutzenden von Händen in alle erdenklichen Himmelrichtungen. Weder für die körperliche noch seelische Qual gab es eine passende Beschreibung. In keiner existieren Sprache gab es ein Wort dafür.
      Einer Explosionszeichnung gleich drifteten die Teile seiner Seele auseinander und alles, was ihn zu dem Menschen machte, der er war.
      Er war alles. Er war nichts.
      Die Widersprüchligkeit des Daseins zwischen Existenz und Nonexistenz trieb einen Menschen unweiglich in den Wahnsinn. Cain hatte das beneidenswerte Glück, dass sein Verstand ab einem bestimmten Punkt einfach abschaltete. Ein letzter Schutzmechanismus, der ihm vergönnt war. Es war ein Band, ein zierlicher Faden, der sich um sein Denken kettete wie das letzte Rettungsseil. Das Letzte, was Cain hörte, war der verzerrte und spitze Aufschrei eines Mädchens, der ihn mehr schmerzte als die Explosion seines Seelenkerns.
      Der Seeker schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht eines rothaarigen Jungen. Wie lange war er ohne Zeitgefühl in die Schwärze getaucht?
      Perplex beobachtete Cain den Jungen, wie er ihm beiläufig den Staub von der Kleidung abklopfte. Die Zahnräder seines Verstandes ruckelten gemächlich in Bewegung und der milchige Schleier über der goldenen Iris hob sich.
      Der Seeker fühlte sich fremd in seinem eigenen Körper und doch war das Gefühl der Unvollständigkeit fort. Das Gemüt sprang nicht länger zwischen den Extremen der Empfindungen hin und her sondern eine vertraute, natürliche Ruhe legte sich um ihn.
      "Ascan...", wiederholte Cain mit träger Zunge, die Silben zäh und schwer in seinem Kopf. "Er wollte Fähigkeiten meiner Goldaura für sich nutzen. Das Risiko kannte ich."
      Er erinnerte sich daran mit besten Absichten dem zwielichtigen Deal mit Anifuris eingegangen zu sein. Die Erinnerungen an das Danach waren wie ein Film und fühlten sich an, als wären die Taten einer fremden Person in seinen Kopf eingebrannt worden.
      Mit zittrigen Fingern fuhr sich Cain durch den zerzausten Haarschopf.
      Bevor er das gequälte Stöhnen hörte, spürte der Seeker einen vertrauten und gleichzeitig vermissten Zug in seiner Brust. Die Emotion explodierte in seinem Seelenkern und die Konturen der Umgebung wurden schärfer, die Farben - wenn auch überwiegend trostlos Grau - intesiver. Ein Blinder, der wieder lernte zu sehen.
      Obwohl er nicht daran zweifelte, dass der Gott in Kindergestalt seine ganze eigene Agenda verfolgte, sah Cain ihn mit einem Ausdruck der Dankbarkeit an. Der Seeker stand in der Mitte des Raumes und schwankte zwischen der Tür zur seiner Schwester und dem Mädchen am Boden.
      Die ersten Silben, die sich ganz und gar nach Sylea anhörten, nahmen ihm die Entscheidung ab.
      Vorsichtig näherte sich Cain dem erwachten Mädchen während seine Schritte leise von den Wänden wiederhallten. Ebenso bedächtig ging er vor Sylea in die Hocke und schenke ihr ein zaghaftes Lächeln. Die Ungewissheit, wie viel sie tatsächlich mitbekommen hatte, zerfraß ihn. Er hatte ihrer aller Leben riskiert, für einen selbstsüchtigen Wunsch.
      "Langsam...", murmelte er und wich fürs Erste ihrer Frage aus. Über die Schulter blickte er zu Dagda. "Was ist mit Ascan passiert?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Dagda warf lediglich einen flüchtigen Blick dem Mädchen zu, das sich an der Wand emporkämpfte. Sein Hauptaugenmerk lag auf dem jungen Mann vor ihm, dessen Seele und Aura sekündlich an Stabilität gewannen und nichts mehr von den schwarzen Rissen zu sehen war. Die Seele war ein wunderbar kompliziertes Konstrukt, das man besser nicht berühren sollte. Folglich hätte Dagda Ascan, wie Anifuris ja nun hieß, am liebsten direkt in den Maelstrom geschickt. Aber sein Urteil war richtig gewesen: Er hätte gleich drei Seelen auf einmal ins Nichts geworfen zum Preis von einer. Dieser Handel wäre nicht fair gewesen.
      Also ließ der Gott den Seeker an sich vorbei zu Sylea gehen. Einen Augenblick lang betrachtete er die Tür, hinter der Scintilla das Drama womöglich nur am Rande mitbekam. Dagda war sich sicher, dass der darin lauernde Anblick den ohnehin schon lädierten Seelenkern Cains vollends gesprengt hätte. Und das hätte an der Würde des Gottes gekratzt. Ergo ließ er sich wieder auf dem Stuhl an seinem Kessel nieder und griff nach dem Kochlöffel, um kurz zu rühren.
      Sylea hingegen brauchte noch ein paar weitere Augenblicke ehe sie sich vollends auf Erden wiedergefunden hatte. Ihre Erinnerungen waren trübe und unglaublich reich zugleich, so als müsse sie einfach von dutzenden verstaubten Fotos die graue Schicht abkratzen. Dazu zählte die Erkenntnis, dass Cain vor ihr hockte und sie zaghaft anlächelte. Sie hatte gerade einmal ein paar Sekunden, dann brach sie in hemmungslose, heiße Tränen aus. Sie wusste nicht einmal genau wieso - sie war unendlich traurig, erleichtert und verwirrt zugleich. Das Ungleichgewicht in ihrer Erinnerung machte sich bemerkbar und für das junge Mädchen unmöglich zu bestimmen, welche die ihren waren und der Wahrheit entsprachen.
      "Ich habe doch bereits gessagt, dass ich wenn dann Beide zurückschicken muss. Da Sylea wieder da ist wird auch Ascan noch anwesend sein. Frag sie doch am Besten selbst, was mit ihrer anderen Hälfte geschehen ist", erwiderte Dagda entspannt und probierte, was auch immer in diesem Kessel vor sich hin köchelte.
      Sylea indes hatte keine Sekunde aufgehört zu weinen. Zittrige Hände hatten sich nach Cian ausgestreckt und sich in seine schwarze Tracht gegraben. So als suche sie nach Halt, den nur er ihr geben konnte. In ihrem Kopf herrschte das reinste Chaos in der Absicht, eine Ordnung wiederherzustellen, die es eigentlich nicht wirklich gab. Irgendwo dazwischen waberte das Bewusstsein Ascans, wie sie nun wusste. Es fühlte sich eher so an, als hätte sie den Namen eines in Vergessenheit geratenen Verwandten gerade erst wiederentdeckt. So bekannt kam ihr der Name Ascan plötzlich vor und das verwirrte sie nur noch mehr.
      "Ich hab gedacht, ich könnte....", fing Sylea an und brach in einem Schluchzen ab bevor sie sich die Wangen an ihren Oberarmen trocken streifte. "Ich dachte, das wäre der einzige Weg. Du sahst so übel aus und ich dachte... ich weiß nicht... Cain, ich wollte nicht, dass er dich anlügt, er sollte doch gar nicht..."
      Sie ignorierte den Gott, der entspannt seinen Kessel umrührte, gekonnt und sah flüchtig durch den Tränenschleier zu der Tür, hinter der sich Cains Schwester befand. Oder zumindest das, was noch von ihr übrig war. Während der Zeit ihre Abwesenheit hatte Sylea sich das Bewusstsein nicht nur mit Ascan geteilt sondern waren sogar miteinander verschmolzen gewesen. Sie besaß seine Erinnerungen, seine Gedanken über mindestens den Zeitraum, in dem sie sich im Dämmerzustand befunden hatte. Daher wusste Sylea, dass hinter dieser Zelle nichts mehr von Cordelia außer der Hülle übrig war. Genauso sehr wusste sie, dass sie Cain aber diesen Anblick, diese Gewissheit nicht nehmen durfte. Er brauchte dieses Wissen, egal was er bereits dafür alles gezahlt haben mochte.

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    • Mit überwältigender Sorge betrachtete der Seeker das aufgelöste Mädchen und den unaufhörlichen Fluss heißer Tränen auf den blassen Wangen. Cain wagte es noch nicht, die Hand nach Sylea auszustrecken. Die Angst war zu allgegenwärtig, dass das Mädchen, das sein Herz in ihren zitternden Händen hielt, ihn für seine leichtfertigen Taten abweisen würde.
      Obwohl es in keinster Weise angebracht war, durchströmte den Seeker pure Erleichterung als sich die Hände schwach aber haltsuchend in seine Kleidung gruben. Das Gefühl nicht völlig in Ungnade gefallen zu sein, war mit keinem Reichtum und keinem Wissen der Welt aufzuwiegen. Der unangenehme Druck um seinen Brustkorb ebbte langsam ab. Behutsam legte er seine Hände über Syleas um mit den Fingerkuppen hoffentlich beruhigend über die Erhebung der Fingerknöchel zu streicheln. Das Hellgate war kein geeigneter Ort um unausgesprochene Angelegenheiten zu klären. Ohne den Babylonier gab es keine Abkürzung an die Oberfläche. Flüchtig huschte sein Blick zu Dagda und er fragte sich, welchen Preis ein Gott für die Freiheit verlangte.
      "Du hast mir das Leben gerettet. Helyon hätte mich in Stücke gerissen. Ich glaube, dass ist kein Grund für eine Entschuldigung.", sagte Cain möglichst ruhig, obwohl die Zeit davon rieselte wie der feine Sand in einer Sanduhr. "Kannst du aufstehen?"
      Mit Vorsicht umfasste der Seeker die Oberarme des Mädchen und zog sie Stückchen für Stückchen mit sich auf die Füße. Er berührte sie dermaßen sachte, als fürchtete er darum sie könne wie zerbrechliches Glas in abertausende von Scherben zerspringen. Das zusätzliche Gewicht spürte er sofort in dem zuvor verletzten Bein, dass durch den Babylonier geflickt worden war. Cain fragte sich für eine Sekunde, wie lange diese Manipulation anhielt bevor die Muskeln nachgaben oder ob es von Dauer war.
      "Anifuris...nein, Ascan ist ein notorischer Lügner, aber ich musste versuchen dich zu beschützen. In einer Sache hat Ascan bedauerlicherweise Recht: Ich bin dein Schwachpunkt.", sprach er leise, obwohl Dagda sicherlich jedes Wort sehrwohl verstehen konnte. "Der Rat, die Hunter, andere Seelen... sie ködern dich, in dem sie mir etwas antun. Meine nutzlosen Fähigkeiten können dich nicht beschützen und ich konnte nicht zulassen, dass ich dich mit mir in den Abgrund ziehe, sollte mir etwas passieren."
      Die Aurenverschmelzung kettete ihre Schicksale aneinander und Cain fühlte unmissverständlich den wärmenden Zug um seine Seele, je mehr sich die silbrige Aura festigte. Er spürte ihre Verzweiflung und den Zwiespalt, der sich auftat, wie ein dunkler Schlund. Und er spürte, dass Sylea mit der Lüge nicht die Verbindung von Aura und Seele meinte. Ein Gedanke, der ein Frösteln durch seine Wirbelsäule schickte und der ohne Umschweife in den hintersten Winkel seines Denkens verband wurde.
      "Ich befürchte es ist ohnehin bereits zu spät...", murmelte er und obwohl seine Worte nach Bedauern klangen, lächelte Cain. Es war dieses wärmende Lächeln, dass die goldene Iris schimmern ließ, wie einen ruhigen See im Sonnenaufgang. Das Lächeln, das nur für Sylea bestimmt war.
      Seufzend entließ der Seeker eine Hand aus seinem sanfte Griff um den Arm endlich um ihre schmalen Schultern zu legen und die erwachte Rubra sachte gegen seine Brust zu ziehen. Er hauchte ihre einen Kuss auf den zerzausten Scheitel. Die Frage nach Anifuris musste warten. Der Aurenmanipulator nicht in den Maelstrom entschwunden. Eine bittere Wahrheit, die Cain fürs erste genügte bis sie an einem sicheren Ort waren. Das Kinn auf ihrem Haupt gebettet, sah er zu Dagda herüber.
      "Wirst du uns gehen lassen, sobald ich meine Schwester von ihren Ketten bereit habe?", fragte er.
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    • Sylea nickte und kämpfte sich mit Cains Hilfe auf die Füße. Es fühlte sich alles surreal an, als würden ihre Füße keinen echten Boden berühren und alles was sie sah waren allesamt nur Trugbilder. Nur die Körper unter ihren Fingern, der ihr beim Aufstehen half, fühlte sich echt und real an. Seine Worte, die als Erklärung für das Wichtigste gedacht waren, kratzten nur am Rande ihres Bewusstseins. Dafür war Sylea schlichtweg noch nicht wieder lange genug wach, als dass sie den vollen Umfang wahrlich begreifen konnte.
      "Ich... ich weiß nicht ganz, wie es gemeint ist. Wir müssen erst mal hier weg", sortierte sie sich langsam und sah an Cain vorbei zu dem Jungen, der völlig zufrieden damit schien weiterhin in seinem Kessel zu rühren.
      Dann ging ihr Blick zurück zu dem Seeker, der ihr ein warmherziges Lächeln zukommen ließ. Eines jeder Sorte, das sich wie eine wärmende Decke um ihre Schultern legte und ihr das Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Selbst hier unten unter Tonnen von Erdreich mit den gefährlichsten Seelen des Landes und einem Gott im Raum. Bereitwillig ließ sie sich in eine Umarmung ziehen, die sich so einmalig anfühlte wie ihr erstes Aufeinandertreffen generell. Der Eindruck, dass sie Ewigkeiten ohne diese Art der Berührung hatte leben müssen, war übermächtig und sorgte dafür, dass sie ihre noch immer zitternden Arme um seine Brust schlang und sich strikt weigerte, ihn wieder loszulassen.
      "Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob sich dieser Ausgang überhaupt für euch eröffnen wird", entgegnete Dagda seelenruhig ohne von seinem Kessel aufzublicken. "Für dich sehe ich kein Problem, du darfst ungehindert deiner Wege ziehen. Interessant hingegen wird es eher bezüglich deiner Schwester sowie deiner Freundin da. Sie sind eine Widrigkeit der Natur und gehören wieder eingepflegt. Aber wie gesagt."
      Er deutete mit einer beiläufigen Bewegung auf die Zellentür hinter der sich Cains Schwester befinden soll.
      "Sieh selbst und urteile erneut."
      Eine seltsame Wortwahl. Noch seltsamer war allerdings der Fakt, dass sich Syleas Griff verstärkte, so als wolle sie Cain nicht gehen lassen. Ganz leise, es war nur ein Murmeln, drang ihre Stimme an seiner Brust hervor: "Geh nicht. Mach die Tür nicht auf. Lass uns einfach hier weggehen, bitte. Ich... kann dich nicht verlieren..."
      Sylea wusste bereits, was dort lauerte. Genauso wusste sie, dass sich der junge Mann so kurz vor seinem Ziel nicht abhalten lassen würde. Er brauchte die Gewissheit, sie wusste es, aber so angeschlagen fürchtete sie, nicht der richtige Anker für ihn zu sein, wenn die Welt unter seinen Füßen zerbrach.
      Widerwillig löste sie sich ein wenig von ihm damit sie ihren Blick hoben konnte. Ihre Augen waren noch immer rot und glänzten während sie einen flehenden Ausdruck in den Augen trug.
      "Du wirst den Anblick nicht ertragen können. Ich kann dich nicht auffangen, nicht... so. Bitte..."
      Sylea wusste nicht, was sie sagen sollte. Was nötig gewesen wäre, um Cain von seiner ureigenen Motivation abzubringen. Ein Teil von ihr wollte es nicht, aber sie fürchtete einfach zu sehr um ihrer beider angeknackste Mentalität.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Die kryptische Formulierung des kindlichen Gottes hinterließ eine Spur der Verwirrung.
      Ein winziger Splitter des Zweifels bohrte sich quälend langsam unter die schützende Schicht aus der goldenen Aura und legte sich bitter auf seine Zunge. Syleas Arme schlangen sich wie ein Schraubstock um seinen Brustkorb, als hätte sie nicht vor ihn jemals wieder gehen zu lassen. Freute sie sich denn nicht, dass seine Schwester bald von ihrem Elend erlöst war? Unverständnis erdrückte den Zweifel im Keim und Cain ignorierte wissentliche sämtliche Warnsignale, die wie grellleuchtende Neonreklamen direkt in sein Gesicht schienen. Er schob die Zeichen der Warnung bei Seite und damit auch seinen gottgegebenen Verstand. Er war dem Ziel seine kleine Schwester wieder in die Arme zu schließen so verdammt nah, dass es ihn beinahe zerriss. Cordelia hatte ihren Bruder das letzte Mal vor vielen Jahren gesehen und er fragte sich, ob sie ihn überhaupt sofort wiedererkannte. Eigentlich spielte es auch keine große Rolle, denn sobald sie diesen verfluchten und finsteren Ort hinter sich gelassen hatte, gab es genug Zeit das Versäumte aufzuholen.
      Vorsichtig legte er seine Hände auf Syleas Schulter und schob das zitternde Mädchen ein kleines Stückchen von sich. Cain platzierte die Fingerspitzen von Zeige- und Mittelfinger unter ihrem Kinn damit er es sanft anheben konnte.
      "Du wirst mich nicht verlieren. Versprochen.", murmelte er und küsste zart die blässliche Haut über ihrer linken Augenbraue. "Einen Augenblick noch, dann verschwinden wir alle von hier. Wir finden eine Möglichkeit."
      Eine Möglichkeit an Dagda vorbei zukommen. Anifuris hatte ihn vor einem Deal mit einem Gott gewarnt, aber er war bereit jeden Preis zu zahlen um die Menschen, die er liebte, nicht in diesem dunklen Verließ zurückzulassen. Schweren Herzens löste er den Klammergriff der jungen Rubra um seinen Torso und trat einen Schritt zurück, dabei fuhren seine Hände über ihre Arme hinab bis er ihre Hände behutsam umfasste und diese ermutigend drückte.
      "Warte hier.", murmelte er und letztendlich unterbrach er die Verbindung ihrer Hände um auf dem Absatz kehrt zu machen und zielstrebig auf die imposante Stahltür zuzugehen.
      Goldschimmernde Augen hefteten sich auf glänzenden Stahl, der bei genauerer Betrachtung dezente Wellen und Beulen im Material aufwies. Der Stahl musste sich vor Hitze gewölbt und nachgegeben haben, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Ein kurzer Seitenblick wanderte zu Dagda, der weiterhin unbekümmert in dem fragwürdigen Kesselinhalt herumrührte. Als der Gott tatsächlich keine Anstalten machte den Seeker auf der Zielgeraden von seinem Vorhaben abzuhalten, stemmte Cain die Hände gegen die schweren Türflügel und legte seine ganze Gewicht hinein. Quietschend und unter lautstarkem Protest schleiften die verbeulten Flügel über den rauen Beton.
      Eine schwummrige Dunkelheit begrüßte Cain.
      Die einzige wirkliche Lichtquelle in dem gewaltigen Raum, waren zwei kühle Neonröhren deren Glaskorpus teilweise gerissen und von vermutlich offenem Feuer verkohlte und gesprungene Stellen aufwies. Das Licht flackerte unregelmäßig und tauchte die Brennkammer in spärliche Helligkeit. Der Raum war bis auf eine erhöhte Plattform im Zentrum vollkommen kahl. Die Stahlwände waren von Ruß geschwärzte und Cain stockte, als er in den abstrakten Schatten menschliche Silhouetten entdeckte. Menschen, von denen nichts weiter übrig war als ein wenig Asche als hätte eine Supernova sie vom Angesicht der Erde gefegt.
      Das bezeichnende Klirren von Metall auf Metall lenkte seine Aufmerksamkeit auf die zentrale Plattform zurück und ihm eröffnete sich ein bedauernswerter Anblick.
      Ein zierliches beinahe dürres Mädchen kniete vornübergebeugt auf dem nackten Boden und schlang die Arme um die eigene Mitte, als erduldete es unsagbare Schmerzen. Sie trug nicht mehr als ein dünnes Hemdchen, dass der traurigen Version eines Nachthemdes glich und die hageren Schultern und die hervorstehenden Schlüsselbeine betonte. Ausgezerrt und mit verfilzten, dunklen Haaren, die seinen so ähnlich waren, hockte das Mädchen dort mit den schmalen Hand- und Fußgelenken in schwere, hitzebeständige Ketten gelegt. Die Fesseln waren schwarz von Hitze und die Haut darunter vernarbt von unzähligen Versuchen sich zu befreien.
      Cain spürte das verräterische Brennen von wütenden Tränen in den Augen.
      "Cordelia...?", versuchte er es mit betont sanfter Stimme, als nähere er sich einem verschreckten Tier. Mehr als ein Zucken bekam er nicht als Antwort während er sich Stückchen für Stückchen näherte. Er stellte sich das erste Mal die Frage, wie viel Macht Scintilla noch über seine Schwester besaß, wenn sie hier festgehalten wurde. Die Alarmsirene in seinem Kopf verstummt, als ein dünnes Stimmchen die Stille durchbrach.
      "Bruder?", wisperte es durch einen Vorhang aus strähnigen Haaren. Cordelia hob das Kinn von der Brust und der Seeker unterdrückte ein Fluchen. Mit leerem Blick aus milchigen Augen starrte seine kleine Schwester in die Dunkelheit. Er erinnerte sich an das strahlende Grün ihrer Augen, von dem nichts mehr zu erkennen war. Da begann Cordelia zu schluchzen und zerrte damit an seiner fragilen Logik.
      "Ja, ich bin es. Cain. Es wird alles wieder gut. Es tut mir leid.", flüsterte er und griff vorsichtig an ihren Händen, um die Handfesseln zu untersuchen und eine Option zu finden, wie er diese verfluchten Dinger lösen konnte. Mit einer Hand berührte er schließlich ihr verschmutztes Gesicht und wischte die heißen Tränen fort. Er sah sich um, doch in dem Raum gab es nichts das er benutzen konnte.
      Die Luft in der Brennkammer flirrte auf.
      Ruckartig schloss sich eine zierliche Hand um seinen Arm und Nägel bohrten sich wie stumpfe Krallen in seine Haut. Unter der schwitzigen Handfläche breitete sich eine plötzliche Hitze aus, die drohte ihm die Haut zu versengen. Cains Bick ruckte zu seiner Schwester, die ihn mit der verzerrten Version eines Grinsen ansah und dabei zu viele Zähne entblößte.
      "Beeil dich, Bruderherz.", zischte es unter flackerndem Neonlicht. "Hol mich raus, damit wir spielen können. Mit mir will niemand mehr spielen. Sie haben Angst vor mir, aber du nicht, mein liebes Brüderchen, richtig? Befrei mich, damit wir wieder eine glückliche Familie sein können. Mach. Mich. Los."
      Die Erkenntnis ergoss sich über seinen Verstand wie ein Eimer eiskaltes Wasser.
      Splitter von Eis bohrten sich schmerzlich in das Herz, dass er mit viel Mühe von Not aus Einzelteilen wieder zusammen gesetzt hatte. Die Haut unter der schmutzigen Hand brannte und es roch verdächtig nach verbranntem Fleisch, aber er spürte es nicht.
      "Wo ist meine Schwester, Scintilla?", forderte Cain mit einer Stimme bar jeder Emotion.
      Scintilla legte den Kopf in einem überzogenen Winkel schief und grinste ihn einfach nur eine Weile lang an.
      Plötzlich schallte ein verzerrtes Gelächter durch die Brennkammer, dass von einem eigenartigen Doppelklang begleitet wurde als ertönte das Lachen von zwei Personen zur selben Zeit lediglich um einen Wimpernschlag versetzt. Es war dasselbe Echo, dass in den Worten der Mädchen mitschwang.
      "Die bedauernswerte Cordelia spielt leider nicht mehr mit uns, Bruderherz.", zischelte es und in der flirrenden Hitze, die sich langsam ausbreitete, begannen die leeren Augen zu glühen, als brenne eine Flamme in ihnen. "Fall es dich tröstet, sie hat nicht allzu sehr gelitten. Das arme Ding konnte mir nicht einmal fünf Minuten standhalten, da hatte es ihre zartbesaitete Seele bereits in abertausende Stückchen gesprengt. Aber ich kann deine Schwester sein. Befrei mich und ich bin für dich, was immer du dir wünscht."
      Völlig erstarrt blickte Cain in das Gesicht des Mädchens, dass seiner Schwester so ähnlich war und sich mit jeder Sekunde mehr zu einer befremdlichen Fratze verzerrte.
      Cordelia war tot.
      "Du lügst.", antwortete Cain automatisiert.
      Ihre Existenz von der Welt getilgt, als wäre sie nie da gewesen. Von dem gütigen und fröhlichen Mädchen war nicht übrig außer einer zerbrechlichen Hülle, die unter Scintillas Einfluss zerfiel. Die goldene Aura begann zu erzittern, als Cain der verrückten Scintilla seinen Arm entriss und auf den brennenden Handabdruck an seinem Arm starrte. Ein Energiepuls löste sich explosionsartig im Zentrum der Brennkammer und fegte durch den gesamten Gefängnistrakt begleitet vom Aufheulen und Gekreische der anderen Insassen. Hinter den verschlossenen Zellentüren brach das blanke Chaos aus, als Cains pulsierende Aura wellenartig wie eine Sturmflut über alles und jeden hinwegfegte. Selbst die gefesselte Scintilla schleuderte es zurück, soweit es die Ketten zuließen.
      Cordelia war tot.
      Nein, nein, nein, nein... wie eine kaputte Schallplatte wiederholte sein Verstand dieses eine Wörtchen während seine Aura außer Kontrolle geriet. Zorn, Verzweiflung und eine tiefgreifende Trauer wechselten sich in schwindelerregendem Tempo ab. Cain spürte Sylea außerhalb der Zelle und ihre Hilflosigkeit und Scintillas Spott bohrte sich tief in seinen Seelenkern. Unter dem stürmischen Gold drängte eine schattenartige Schwärze hervor, die sich alles Licht im Raum einverleibte. Eine Finsternis, die nichts übrig ließ. Cain fasste sich an den Kopf, als seine Gedanken explodierten und nichts hinterließen außer vollkommene Leere. Nichts anderes war die Dunkelheit die den Seeker einhüllte und für jene Glückseligen mit Aurasicht als tiefschwarzer Nebel die physische Gestalt verschluckte: Eine absolute Leere bar jeder Emotion.
      Scintilla blind aber mit dem Gespür für Auren ausgestattet, sah es nicht, aber fühlte die unheimliche Präsenz. Wie ein wildes Tier versuchte sie nach hinten zu weichen um instinktiv der Gefahr zu entkommen. In der anliegenden Zelle ertönte ein gequältes Aufheulen, als schattenhafte Ausläufer sich durch die Konstruktionen der Zellen drängten um den unstillbaren Hunger zu besänftigen. Es dauerte lediglich Sekunden dann war es still. Der Schatten ließ nichts zurück außer einer apathischen Hülle jeglicher Sinne und Emotion beraubt.
      "Hör auf!", kreischte Scintilla. "Das Spiel will ich nicht spielen!"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Widerwillig ließ sich Sylea von Cain lösen. Er versprach ihr Dinge von denen sie wusste, dass er sie brechen würde. Der Seeker war schlichtweg nicht darauf vorbereitet, was er in der Zelle vorfinden würde. Die romantisierte Vorstellung, seine kleine Schwester endlich wiederzusehen, sie in die Arme zu schließen und irgendwie hier rauszuholen verdrängte effektiv jegliche Rationalität aus seinem Verstand. So blieb Sylea m Ort und Stelle stehen, ungesehen liefen ihr still Tränen über die Wangen als sie Cain hinterher sah.
      Dagda reagierte nicht offensichtlich auf Cains Vorhaben. Er war augenscheinlich damit beschäftigt, weiter seinem Kessel zu frönen. Allerdings erstreckte sich sein Einfluss durch die komplette unterste Etage des Hell Gates und somit wusste er zu jedem Zeitpunkt ganz genau, wann eine Seele sein Vessel völlig zerstört hatte. Bei der Hülle, die Scintilla zum Opfer gefallen war, hatte es gar keinen Zweifel gegeben. Als man sie hier unten eingesperrt hatte, war das Vessel vollkommen ausgebrannt gewesen. Nicht mal ein Fragment ihrer Seele war noch greifbar gewesen. Das wohl Schlimmste daran war allerdings, welch grausame Fähigkeit Scintillas Seele besaß, von der sie nicht einmal selbst wusste.
      Es war so leise in der kompletten Etage, dass Sylea jedes Wort selbst in dem Gang hören konnte. Sie fühlte, was Cain spürte, wenn auch mit abgeschwächter Intensität. Aber es reichte aus, um sie in die Knie zu zwingen und zu schluchzen. So hatte sich keiner von ihnen den Ausgang vorgestellt. Ascan hatte es gewusst seit dem Augenblick, in dem er Scintilla geortet hatte. Und nichts hatte er davon erwähnt, dass Cordelia längst nicht mehr auf Erden weilte. Sie war nicht so stark gewesen wie die Rubra.
      Dann ging ein Puls durch die gesamte Etage. Das war das Stichwort, auf das Dagda gewartet hatte, der ohne eine ersichtliche emotionale Reaktion den Löffel losließ und vom Stuhl sprang. Er sah zu Sylea, die mit geweiteten Augen und um den Körper geschlungenen Armen am Boden kauerte. Einen langen Atemzug später stand der rothaarige Junge nebem dem Mädchen am Boden und packte grob ihren Oberarm. "Wenn du nicht willst, dass er zerbricht, solltest du etwas tun anstatt nur da zu hocken. Reiß dich zusammen."
      Mit diesen Worten riss er sie mit unglaublicher Kraft auf die Beine und zog sie im Schlepptau zu Scintillas Zelle. Während Sylea nur stolpernd hinterkam, ging Dagda mit absoluter Souveränität in die Zelle. Für Seelen, die keinen Gottesstand besaßen, musste es fürchterlich sein, diesen Anblick zu ertragen. Doch Dagda hatte diese finalen Momente einer Seele schon so oft miterlebt, dass es ihn schlichtweg nicht mehr berührte.
      Sylea starrte Cain und den Schatten wortlos an. Das Mädchen im hinten Abschnitt, Scintilla, war so weit aus dem Fokus gerückt wie nur irgendwie möglich. Bisher hatte Sylea noch immer einen Weg gefunden, optimistisch zu bleiben. Einen Umweg zu erfinden, um doch fündig zu werden. Dieser Anblick jedoch ließ die Verzweiflung in ihr die Oberhand gewinnen. Wie, in Gottes Namen, sollte sie das da rückgängig machen?
      "Gar nicht", beantwortete Dagda ihr diese Frage als könne er ihre Gedanken lesen. Er hatte sie losgelassen und wanderte an Cain vorbei zu dem gekauerten Mädchen hinüber. Wo immer er seine Füße setzte, wich der Schatten vor ihm, als habe er Respekt vor dem Gott. Vor Scintilla blieb der Junge stehen, beugte sich über ihr hinab und zwang sie dazu, ihn anzusehen. Seine Augen borhten sich unnachgiebig in das milchige Weiß. "Das war der einzige Grund, warum du noch hier bist. Du hast das Ende deines Pfades erreicht und genug Seelen ausgelöscht. Du wartest jetzt brav bis ich mit dem Jungen da fertig bin." Er berührte ihre Stirn kurz mit seinen Fingerspitzen, dann richtete er sich auf und schlenderte zurück zu Cain. "Sylea, komm her."
      Noch immer starr stand die Rubra am Eingang der Zelle. Der ganze Anblick war einfach nur abstrus, unwirklich. Sie musste sich dazu zwingen, die Füße zu bewegen und Schritte zu machen, um Dagdas Aufforderung nachzukommen. Als ihr Fuß den ersten schwarzen Ausläufer berührte, klebte sich die Finsternis wie Teer an ihren Fuß und ein eiskalter Schauer durchlief ihren Körper. Sie bekam keine Luft mehr, konnte nicht mehr denken, fror.
      "Je länger du wartest um so mehr nimmt er." Dagdas Stimme erreichte sie nur entfernt.
      Mechanisch setzte sie einen Schritt nach dem anderen. Die Finsternis labte sich an ihr, nahm ihre Angst, ihre Sorge, ihre Freude, eigentlich alles, was sie hätte fühlen können. Fühlen sollen. Mit jedem Schritt kletterte das Schwarz ihre Beine empor und hatte ihre Taille erreicht als sie neben dem Jungen zum Stehen kam und sie beide nun vor Cain standen. "Was ist mit ihm?"
      Dagda fasste nach Syleas Hand. Er ließ seine schmaleren Finger in die Zwischenräume ihrer Hand gleiten und hielt sie so hoch und auf den Seeker gerichtet. "Seelen können aktiv zerfallen. Was ihr als mentalen Zusammenbruch versteht greift manchmal über diese Beschreibung hinaus, so wie bei ihm. Ascan hat ihn zermürbt, dein Verschwinden ihn verletzt. So sehr, dass er sich nicht mehr vorbereiten konnte auf den Wegfall der einzigen Motivation, die ihn am Leben hielt. Das ist das Resultat."
      Sylea war nicht einmal mehr traurig. Sie war gar nichts mehr, spürte keine Emotion und keinen wirklichen Gedanken. Jedes Wort, das ihren Mund verließ, wurde in dem Moment gedacht in dem sie es sprach. "Er fühlt nichts mehr."
      "Richtig. Der Schatten ist sein Defizit. Starke Seelen produzieren diesen Grimm, wie ein Vertreter der Menschen es mal genannt hat. Stoppt man ihn nicht, agiert er wie ein schwarzes Loch und absorbiert von angrenzenden Seelen, was ihm fehlt. Deswegen fühlst du nichts mehr, denkst nicht mehr. Das ist ein Zustand, den ich nicht mehr korrigieren kann. Du schon."
      Sie neigten den Kopf und sah Dagda an. Die Schwärze war schon bis zu ihrem Brustkorb gewandert. "Nur weil wir verbunden sind." Sie verstand die Tragweite ihrer Verbindung. Sie war sein Anker, sie hielt ihn am Ort. Wenn sie sich von seiner Finsternis verschlingen ließ, war es für sie beide vorbei. Ihr Blick richtete sich wieder auf Cain, fokussierter dieses Mal. Sie atemte tief durch. "Zeig es mir."
      "Nicht umsonst, meine Liebe." Dagda lächelte - ein gieriges Lächeln.
      "Wenn wir sterben ist es eh vorbei. Also los."
      "Wie du wünschst."

      Es waren Minuten. Lächerliche Minuten, in denen Dagda Sylea zeigte, wie sie den Grimm in Cain wieder anketten konnte. Ihre Aura war wie der Mondschein in einer tiefschwarzen Nacht. Sie drang durch das Schwarz hindurch bis sie sein Gold, hell wie das Sonnenlicht, ausfindig machen konnte und danach griff. Sekündlich schrumpfte die Schwärze um sie herum ein, zog sich zurück bis sie schließlich vollständig verschwunden war. Erst da gab Dagda Syleas Hand wieder frei und trat einen Schritt zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust nachdem er einen kontrollierten Blick zu Scintilla geworfen hatte.
      Mit klammen Händen fasste Sylea Cain ins Gesicht. Ihre Hände umrahmten sein Gesicht, suchten seine Augen, seinen Fokus. Sie musste hören, dass es geklappt hat. Dass er wieder bei Sinnen war, egal wie schwach. Sei es so schwach wie ihr eigener Puls, ihre eigene Atmung, ihr zitternder Körper. "Cain?..."

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Die allumfassende Leere legte erlösend um Cains zersplitterten Verstand.
      Ohne Widerstand räuberte die Dunkelheit wie ein gefräßiges Monstrum und verbiss sich in Allem und Jedem, der sich in seine finstere Umarmung begab. Die Schwärze absorbierte die köchelnden Emotionen und nährte sich unersättlich an Furcht, Verzweiflung und Trauer. Beim Geschmack süßem Glücks durch lichtdurchflutete Erinnerungen heulte das Biest triumphierend auf und stürzte sich mit Gier auf die Glückseligkeit. Der sättigende Effekt verflog binnen Sekunden und steigerte den Hunger ins Unermessliche. Die Schatten zuckten und wanden sich in ihrem Wunsch alles zu verschlingen. Der Grimm konnte die ganze Welt verspeisen und es doch wäre es niemals genug. Vollständig außer Kontrolle wucherten die schattenartigen Ausläufer wie ein Krebsgeschwür um Cain in alle Himmelsrichtungen.
      Scintilla kreischte auf, als der Schatten die gefesselten Füße erreichte und verspürte gleichzeitig eine Mischung aus Panik und Erleichterung als Dagda sich näherte. In Anwesenheit des Gottes schrumpfte die klägliche Gestalt in sich zusammen und versuchte vergeblich vor dem Gott in Kindesgestalt zu entkommen, aber die Ketten machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Die Finger auf der Stirn brachten das unmenschliche Heulen zum Verstumme und das Mädchen mit der flammenden Iris erstarrte. Niemand entzog sich der Macht eines Gottes, auch eine verrückte und von der Realität gelöste Seele wie Scintilla nicht. Die Ärmste hatte schon vor vielen Jahrzehnten wortwörtlich den Verstand verloren.
      Im Zentrum des Chaos verblieb die Gestalt des Seekers, der sich krümmte und die Schulten vorgezogen hatte wie ein Raubtier in Lauerstellung. Er sah nichts. Er hörte nichts. Er fühlte nichts.
      Die Ewigkeit in vollkommener Dunkelheit lag ihm zu Füßen und bot ihm einen verlockenden Ausweg aus der Qual seiner zersplitterten Seele. Eine Erlösung, die ihm nicht vergönnt war.
      Etwas regte sich am Rande des Nichts in Form eines zarten Lichtes, dass die schattenartige Aura durchbrach und sich Stückchen für Stückchen einen Weg ins Zentrum bahnte. Ein animalisches Grollen löste sich aus der Kehle des Seekers als akustisches Warnsignal. Verschwinde und lass mich in Ruhe, knurrte das Biest in seiner Brust und die Finsternis erhob sich wellenartig in der Brennkammer. Eine schattenhafte Flut brandete gegen die verkohlten Stahlwände und teilte sich gezwungenermaßen um den Gott in ihrer Mitte.
      Das kühle Licht legte sich wie Balsam über den aufgewühlten Seelenkern, der zwar äußerlich intakt aber von Schatten umschlungen war. Düstere Ketten schreckten vor dem fahlen Lichtschein zurück und verhinderten nicht länger den dürftigen und kümmerlichen Goldschimmer. Mit jedem gelösten Schattenfinger um sein Herz gewann das Gold an Intensität zurück. Und jeder Einzelne fühlte sich an wie ein Widerhaken, der gewaltsam aus seinem Kern gerissen wurde. Er fühlte die pulsierenden Wellen des Schmerzes bis in seine Fingerspitzen. Es war keine körperliche Qual sondern eine Pein, die viel tiefer ging und Cain in den Grundfesten erschütterte. Der Körper kauerte sich stetig weiter zusammen ohne dabei von den Füßen gerissen zu werden.
      Sanftes Silber berührte brennendes Gold und die Welt bekam ihre Farben zurück.
      Ein schwerer, schwarzer Samtvorhang lüftete sich und der Seeker blinzelte. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal glühte ein goldener Funken in den Seelenspiegeln seiner Augen auf. Der Grimm fauchte und rebellierte mit aller Macht, aber es half nichts während schimmernde Lichtfäden sich kraftvoll verwoben.
      Cains Sichtfeld erwies sich als verschwommen wie eine verwackelte Fotografie. Erst nach und nach gewannen die Konturen an Schärfe zurück, während die knurrende Dunkelheit zurück in den Käfig gesperrt wurde, dessen Schlüssel lediglich eine Person besaß. Mit der Sehkraft kehrten die Geräusche zurück und die Taubheit seiner Glieder verschwand. Der Seeker schnappte atemlos nach Luft, als wäre er zulange unter der Wasseroberfläche eines Eissees gewesen. Ein Beben rollte durch den gesamten Körper.
      Ohne Fokus schnellte sein Blick von einer Seite zur anderen, bis er sich auf das Gesicht unmittelbar vor seinem zentrierte.
      Die Bewegungen schienen in Zeitlupe abzulaufen als Cain langsam die Arme hob ehe er mit zittrigen Fingern die Handrücken von Sylea berührte. Unendlich zaghaft glitten seiner Finger zwischen ihre klammen Fingern. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss Cain die Augen und fühlte.
      Hoffnung, zart und zerbrechlich. Sehnsucht, süß und einladend. Furcht, bitter und eisig.
      Eine Ewigkeit oder auch nur Sekunden stand der Seeker wie stocksteif da und tat nichts anderes als regelmäßig zu atmen, aber entglitt ihr nicht ein weiteres Mal. Eine heiße Träne brannte sich den Weg aus seinem Augenwinkel. Der kindliche Wunsch nach Hause zu gehen bohrte sich in seine Gedanken, dabei hatte sich kein Ort der Welt je nach einem Zuhause angefühlt. Kein Ort.
      "Sie ist weg.", flüsterte er gebrochen und beängstigend leise. "All das hier für Nichts."
      Cain legte seine Hände flach über Syleas und drückte sein Gesicht in ihre Handflächen um das sanfte Pulsieren von Leben zu spüren.
      Kein Ort aber ein Mensch. Syleas war das Einzige, das ihn mit beiden Füßen in der Realität hielt. Er wagte keinen Blick auf die Gestalt, die Cordelias Gesicht trug.
      "Ich möchte hier weg.", murmelte er. "Ich ertrag das nicht. Ich will nicht wieder...Bitte."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Die ersten Worte, die Cain zu Sylea sprach, trafen nicht nur wegen der Akustik ihre Seele bis aufs Mark. Es war die Unwissenheit, was wirklich mit seiner kleinen Schwester geschehen war, die den Schmerz in ihrem Inneren nur noch befeuerte. Dagda hatte ihr offenbart, was mit der Seele Cordelias geschehen war und sie würde es ihm eines Tages erzählen. Eines Tages aber nicht jetzt. Dies wurde nur bekräftigt durch seine eiskalten Hände, die sich auf ihre legten und sein Gesicht nur noch fester in ihre Hände drückte. Binnen kürzester Zeit hatten sich die Verhältnisse geändert, nun war Sylea es, die sie beide tragen mussten. So schwach und desorientiert wie sie noch immer war wusste sie nicht, ob sie es schaffen würde. Aber sie musste es und diese Gewissheit war alles, an das sie sich jetzt klammern konnte.
      "Ok."
      Während Sylea ihre Hände von seinem Gesicht befreite und ihn an einer fasste, wandte sich Dagda hinter ihnen Scintilla zu, die noch immer in einer Ecke kauerte. Seine Augen waren kalt als er die erbärmliche Gestalt betrachtete und einmal tief durchatmete. "Du hast damit deinen Zweck erfüllt", stellte er fest während er auf sie zuging. "Dein Schicksal ist nun vollständig und hiermit verlässt du die Erde." In seiner kindlichen Gestalt brauchte er nicht einmal auf die Knie zu gehen, um dem Mädchen eine Hand auf den Kopf zu legen. Sylea und Cain sahen weder ein Gesicht von den Beiden noch Cordelias Körper zur Gänze. Doch Seeker und Vessel taumelten als ein kurzer, immens starker Puls durch die Hallen ging und ihnen eindrucksvoll zeigte, welche Macht ein Gott in sich trug. Schlussendlich schob Sylea Cain vor sich aus der Zelle, allerdings nicht ohne einen Blick zuzurückzuwerfen und zu sehen, wie Cordelias Körper zu Seite fiel und weiße, ausdruckslose Augen sie anstarrten. Sofort wandte sie sich von dem Anblick ab und verließ mit Cain die Zelle. Nun mussten sie nur noch einen Weg hinausfinden.
      Hinter ihnen folgte Dagda, die Hände unschuldig in die Taschen geschoben, und spazierte interessiert an ihnen vorbei. Er umkreiste sie halb und musterte erst Cain, dann Sylea. "Die Spielregeln besagen, dass ich euch nicht wieder einen Fuß nach draußen setzen lasse. Eigentlich sollte ich Ascan auch vom Antlitz dieser Welt tilgen, immerhin ist er nicht wirklich viel anders als Scintilla oder all die anderen Seelen, die aus dem Maelstrom gerissen wurden. Also solltest du dir etwas überlegen, Sylea..."
      Die Augen der Rubra weiteten sich als sie den rothaarigen Jungen anstarrte. Waren es seine eigenen Beweggründe? Hatte man ein Mittel, wie man ihn dazu bringen konnte, Befehle zu befolgen? Wollte er das alles wirklich, obwohl er es noch gar nicht getan hatte? Er hatte mehr als genug Möglichkeiten gehabt, um sie alle einfach umzubringen und hatte es nicht getan. Auch jetzt wirkte er seltsam wenig feindselig, so wie er mit verschränkten Armen sie beide betrachtete und schließlich einen ersten Schritt auf sie zu tat.
      Sylea wich mit Cain einen Schritt nach hinten. Er durfte sie nicht anfassen sonst würden sie wie die Leiche in der Zelle enden, die einst Cains Schwester gewesen war. Ihr musste etwas einfallen, laufen brachte nichts und Gegenwehr war zwecklos. Sie war machtlos gegen einen Gott, machtlos gegen die Einheiten, die in den Gedärmen dieser Einrichtung lauerten und sie abfangen würden.
      Dagda kam Schritt für Schritt näher. "Komm schon. Du hast dich doch unmöglich für dieses Ende freigekämpft. Oder den Grimm extra bekriegt. Das war doch noch nicht alles, Sylea. Du achtest doch sonst immer so gut auf deine Worte..."
      Panik stieg in Sylea auf während sie Cain mit sich nach hinten riss, weg von dem Jungen, weg von dem Ausgang. Ihr Verstand raste, verstand, dass er ihr unterschwellige Botschaften zukommen ließ. Ihr musste etwas einfallen, es gab einene Weg, den sie nur noch nicht sah. Halt suchend gab sie Cain frei und schlang die Arme um ihren Körper um dafür zu sorgen, dass sie nicht zu hyperventillieren begann. Vor ihnen stand ihr Tod in Gestalt eines Kindes und kam unaufhaltsam näher. Sie begann zu zittern, es musste etwas geben. Er wusste es, sie nur nicht, wieso sollte...
      Sylea riss die Augen auf. Ihre Finger waren auf etwas in ihrer Tasche gestoßen. Etwas kleines und hartes und schlagartig wurde ihr bewusst, wo der Ausweg lag. Hektisch kramte sie in ihrer Tasche und beförderte den Schlüssel ans Licht, den sie von Mortimer erhalten hatte. Sofort krallte sie ihre Finger in Cains Arm, riss an ihm und rannte an Dagda vorbei zu der Zellentür, hinter der Scintilla gewesen war. Sie schlug die Tür zu, steckte den Schlüssel hinein, drehte ihn und riss die Stahltür wieder auf, um das Nichts dahinter freizulegen.
      Es funktionierte auch hier.
      Hinter ihnen kicherte Dagda leise, der nun keine Anstalten mehr machte, ihnen zu folgen. Da war das Schlupfloch gewesen - sie setzten keinen Fuß nach draußen, wenn sie durch das Portal gingen sondern landeten direkt wieder bei dem Babylonier im Archiv. Unter der Erde. Das war die Fußnote.
      Ohne weiter nachzudenken stürzte Sylea mit Cain durch das schwarze Nichts, ließ das Hell Gate, Cordelia, den Gott und alles andere hinter sich zurück. Nur das Trauma, Cain und eine ungewisse Zukunft waren ihre Begleiter.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Unter der Erde, begraben unter scheinbar endlosen und tonnenschweren Schichten aus Beton und Stahl, stand der Babylonier stocksteif vor dem knisternden Feuer eines antikanmutenden Kamin in seinen privaten Räumlichkeiten. Die Illusion von Heimat umgab die alten Seele mit einem brüchigen Schein von Sicherheit. Nichts und Niemand konnte den Gott mit dem kindlichen Gesicht daran hindern auch dieses Gebäude nach Lust und Laune zubetreten. Etwas wie Sicherheit gab es vor einer übermächtigen Entität wie Dagda nicht. Mortimer schauderte bei dem Gedanken zurück in die wirbelnde Leere des Maelstroms zurück geschickt zu werden. Der Ewigkeit bisweilen überdrüssig fürchtete er doch wie jedes lebendige und fühlende Wesen nichts mehr als das Ende. Er hatte Unendlichkeiten gesehen, hatte sein natürliches Dahinscheiden bereits unzählige Male überschritten, gar auf kreative Weise abgewendet, und klammerte sich dennoch ängstlich wie ein Neugeborenes an die vertraute Wärme des Lebens. Der Babylonier drückte den Rücken zu einer geraden Linie durch und lauschte in die tröstliche Stille seines Archives. Der beruhigende Geruch altem Papiers, der sich mit den Düften exotischer Gewürze und Feuer vermischte, füllte seine Sinne mit der tröstlichen Erinnerung eines vergangenen Lebens.
      Ein leises 'Plop' weckte Mortimer aus seiner Starre.
      Kaum merklich drehte der Bibliothekar den Kopf in Richtung des Geräusches und reckte neugierig das Kinn. Auf der ganzen Welt existierte lediglich ein Weg das unterirdische Archiv auf diesem Weg zu betreten. Eine einzige Person besaß den sprichwörtlichen wie physischen Schlüssel in die gut gesicherten Hallen. Da keines seiner errichteten Schutzsysteme anschlug, versuchte auch kein Fremde sich widerrechtlich Zugang zu verschaffen. Eine elegant geschwungene Augenbraue wanderte in die Höhe während er aus dem Augenwinkel den Raum nach der Tür absuchte, die sich offenbar im Verborgenen geöffnet hatte. Zuweilen besaß das Archiv ein seltsames Eigenleben, gespeist durch die Ernergie und die Erinnerungen seines Schöpfers. Hinter wertvollen Vorhängen aus schweren, purpurnen Stoffen bewegte sich etwas in der dahinter liegenden Dunkelheit. Ein Klicken signalisierte, dass die Tür geöffnet worden war.
      Der Babylonier verlagerte das Körpergewicht auf die Fußballen und drehte sich leichtfüßig auf der Stelle um bis er die Wärme des Feuer im Rücken spürte. Das Feuer war nicht echt, aber es fühlte sich sehr real an. Tatsächlich wäre eine richtige Flamme in der Nähe kostbarer Memoiren und Aufzeichnungen mehr als grob fahrlässig gewesen.
      Ein Mädchen, bleich wie der Tod, und ein verstörter Seeker stolperte durch die Vorhänge in das Herz des Archives. Das Echo eines machtvollen Ernergiepulses folgte ihnen und Mortimer erwartete für eine Schrecksekunde den rechtschaffenden Gott direkt hinter ihnen, doch die Tür schwang mit einem fast sanften Klicken wieder zu und löste sich in der Schwärze der Schatten auf.
      Vom Regen in die Traufe, dachte der Archivar und ignorierte das beängstigende Gefühl der Machtlosigkeit.
      Stumm beobachtete Mortimer, wie das zierliche Persönchen unter der Last des Seekers wankte, dessen Geist eindeutig zwischen Realität und Gedanken schwebte. Die goldenen Augen zuckten ruckartig durch den Raum ohne wirklich zu sehen. Die Pupillen kontraktierten in einem eigentümlichen Rhythmus, wurden groß und weit, dann wieder winzige wie Stecknadelköpfe. Der Archivar spürte die unnatürlichen Schwankungen, die von der bloßen Anwesenheit des jungen Mannes das Gefüge seines Konstrukts störten wie ein fehlerhaftes Signal.
      Welches Geheimnis die Zellen im Bauch des Hellgate auch freigegeben hatten, sie hinterließen ein instabiles Chaos aus Traumata, Hilflosigkeit und Leere. All das zusammenhalten von einer einzigen Präsenz, die unter dem Gewicht zubrechen drohte. Die graubraunen Augen, die ihm aus dem anderen Gesicht entgegen starrten, gehörten nicht länger Anifuris.
      "Ah.", entfloh es Mortimer ohne sein wissendes Grinsen, ohne Funkeln in den Augen. "Sie haben den Schlüssel gefunden. Schlaues Mädchen."
      Beschwichtigend hob der Babylonier die Hände bevor die erwachte Rubra ihm Beschimpfungen oder Schlimmeres entgegen schleudern konnte. Genau betrachtete, versteckten sie sich alle am selben Ort vor einem Gott. Cain stolperte voran und verlor schließlich das Gleichgewicht, als hätte sein Gehirn vergessen die entsprechenden Befehle an seine Muskeln zusenden. Der Seeker sackte in sich zusammen, bis seine Knie mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden aufschlugen und dabei die zitternde Rubra mit sich zog.
      Bei dem Anblick erwartete Mortimer ein störendes Ziepen in seiner Brust, einen letzten Rest des Mitgefühls, das im Angesicht des Ewigkeit noch nicht verwelkt war. Aber Herz und Gesicht des Babyloniers blieben unbewegt.
      "Gratulation. Einem Gott zu entkommen, gelingt nicht jedem. Er hat euch gehen lassen.", fuhr Mortimer fort in dem Wissen, dass Dagda ihn ebenfalls hatte ziehen lassen. "Und, willkommen zurück, Sylea Rubra. Bedauerlich, dass ich meinen neuen Freund für eine Weile nicht sprechen werde, aber dafür beschenkt mich das Leben mit ihrer reizenden Anwesenheit. Ein Friedensangebot, Miss Rubra, obwohl ich mich mit meinem überstürzten Abgang nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert habe: Ihr Begleiter sollte sich setzen. Er wirkt... durcheinander. Ich helfe Ihnen."
      Ein, zwei bedächtige Schritte später hatte sich der Babylonier den freien Arm des Seekers, der nicht um die Schultern der Rubra ruhte, umgelegt und den angeschlagenen Mann spielend leicht auf die Füße gestemmt. Ein wenig ungelenk aufgrund des Größenunterschiedes begusierte er den Seeker zu einem der etwas pompös wirkenden Ohrensessel am Feuer. Er vollführte eine drehende Bewegung mit dem Zeigefinger und zwei Gedecke aus hübschen, filigranen Porzellantassen mit duftendem Tee schwebte heran. Es roch nach Jasmin und der gebrannten Süße braunen Zuckers.
      "Tee?", fragte er und fischte eine der Tassen aus der Luft, als Cain keine Anstalten machte die Hände aus dem Schoß zunehmen. "Herrje, das sieht nicht gut aus, meine Liebe. Aber so ist das mit Geheimnissen, die besser im Verborgenen bleiben. Unwissenheit kann ein Segen sein, nicht wahr? Zumindest scheint unser gemeinsamer Freund die Seele ihres Partners wieder freigegeben zu haben. Ich hatte ihn ja gewarnt, obwohl seine Talente herrausragend sind, denn Ihre Verbindung ware bereits viel zu stark."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sylea konnte sich nicht daran erinnern, Mortimers Tür je benutzt zu haben und das Gefühl in ein schwarzes Nichts zu treten war bereits Überwindung genug gewesen. Dann in einem schummrigen Raum ausgespruckt zu werden, den wankenden Cain noch immer am Arm, und sich durch schwere Vorhänge kämpfen zu müssen, war ein Akt seinesgleichen. Als sie sich des Raumes bewusst wurde und kurz die Lage sondierte, fand sie unter dem Seeker nicht einen Augenblick einen ruhigen Stand. Er wirkte apathisch, nein, noch mehr als das, aber die junge Rubra konnte sich erst im Anschluss darum kümmern. Noch stand zur Frage, ob der Babylonier ihnen nun doch feindlich gesinnt war, nun da Ascan nicht mehr die vorherrschende Kraft in ihrem Konstrukt war.
      Syleas Augen fanden augenblicklich den Archivar, der sich vor seinem Feuer umgedreht und ihnen zugewandt hatte. Er trug noch immer seine typischen Kleidungen, doch seine Mimik war unleserlich und verhältnismäßig ausdruckslos. Seine Aura jedoch war nicht mehr ganz so gleichmäßig wie zuvor - der aalglatte Spiegel wurde minimals gestört von etwas, das Angst sein konnte. Die Augen des Mädchens verschmälerten sich zusehend während sie sich bereit machte, dem Babylonier alles entgegen zu werfen, was sie aus ihrem ledierten Körper zu holen vermochte. Da hob Mortimer allerdings beschwichtigend die Hände, eine harmlose Gestik, die sich tatsächlich in seiner Aura widerspiegelte. Während dieses Anstarrens wurde dem Vessel das Gewicht des Seekers erst richtig bewusst als dieser vorwärts stolperte und sie mit sich zu Boden riss. Für einen winzigen Augenblick war sie geneigt, sich einfach platt auf den Boden fallen zu lassen. Die Anspannung loszulassen, regungslos auf dem Boden liegen zu bleiben und einfach nur die Augen zu schließen. Nach ihrer langen Abwesenheit war die Last zu groß, die sie gerade zu schultern hatte und nichts wünschte sie sich mehr als etwas Zeit ohne all diesen Druck. Ohne die Gewissheit, wer sich in den Ecken ihres Geistes tummelte und dass sie unwiderruflich mit Cain verbunden war. Vermutlich sogar, ohne dass er es je gewollt hatte.
      Doch Sylea riss sich mit dem letzten bisschen eisernen Willens zusammen und riss den Kopf hoch, kaum war Cain zusammengesackt. Ihr Blick war auf den Archivar gerichtet und trug eine stumme Warnung mit sich. Mehr als äußerste defensive Haltungen brachte ihr Geist nicht mehr zustande. "Ist mir schon aufgefallen, dass er uns hat gehen lassen. Danke für den Hinweis. Immerhin konnten wir nicht so einfach abhauen."
      Mit genau dem gleichen Ausdruck in den Augen heftete sich Syleas Blick an Mortimer, der sich ihnen näherte wie man sich nur wilden Tieren näherte. Ihre Lippen waren nurmehr ein dünner Strich in ihrem Gesicht als sie dem Archivar gewährte, Cain anzufassen und ihn auf die Beine zu hieven. Sylea selbst blieb erschlagen am Boden sitzen während sie dabei zu sah, wie sich die beiden Männern zu einem großen Sessel bewegten und Mortimer Cain dort absetzte. Ihre Gedanken zogen sich wie Gummie, träge und zäh versuchten sich zusammenhängende Gedankenketten zu formen, die immer wieder abbrachen. Ihre sonst so wach und glitzernd erscheinenden Augen waren matt als sie von Weitem so richtig den katastrophalen Zustand des Seekers sehen konnte. Prägnant festigte sich ein Gedanke in ihrem Kopf, den sie einfach nicht loswerden konnte: Wäre das nicht passiert wenn ich ihm gesagt hätte, dass Cordelia tot ist?
      Der Tee, den Mortimer aus dem Nichts beschwor, hatte für Sylea keinen Geruch, keine Wärme, kein Gefühl. Sie spürte nur den Boden unter ihren Gliedern, die Last auf ihren Schultern und eine wahnsinnige Erschöpfung, die sich mit jedem Pulsschlag wie ein schwerer Mantel um sie legte. Das Blinzeln verstärkte sich, ihre Atmung war unglaublich langsam und sie fror bitterlich.
      "Er trägt einen Grimm in sich", erklärte sie, wobei ihre Stimme nur ein schwacher und kratziger Abschlag ihres vollen Glanzes war. "Ich habe ihn stabilisiert, aber ich glaube nicht ganz. Er hat die Grundfeste seiner Motivation zum Leben verloren..." Was waren das denn für komische Formulierungen aus ihrem eigenen Mund? Diese Frage waberte nur kurz in ihrem Kopf und ließ sich nicht recht greifen. "Ascan ist gestört, mehr nicht. Dagda hätte ihn einfach auflösen sollen, das wäre besser für die Welt gewesen und wir nur ein kleiner Preis."
      Sylea wankte seicht von links nach rechts ohne es wirklich zu merken. Das Ungleichgewicht zog immer noch an, ihr Bewusstsein hatte sich noch gar nicht richtig in ihrem Körper eingefunden. Sie verlangte zu viele Ressourcen von ihm, der unter Ascans Vorherrschaft keine wirklich Pflege empfangen hatte. Sie war hungrig, müde und voller Sorge, ob Cain je wieder zu sich zurück finden würde. Oder ob sie ihn zwar am Leben gehalten, dafür aber in ein Wrack verwandelt hatte.
      "Ich weiß gar nichts mehr.... Wird er wieder? Irgendwie? Ich...", murmelte Sylea bevor ihr die Augen nach hinten rollten und sie ohnmächtig wurde.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Archiv des Babyloniers
      Eine ungewisse Zeit später

      Grenzenlose Ewigkeiten verbrachte der Babylonier breits ohne ansprechende Gesellschaft und aufeinmal befanden sich gleich zwei fremde Individuen in den wohlsortierten Hallen, die absurderweise ausgerechnet auf seine Hilfe angewiesen waren. Er, der vor langer Zeit jegliche Bande der Menschlichkeit durchtrennte um friedlich zu existieren und gelegentlich zweifelhafte Vergnügen und Abenteuer in einer sich stetig wandelnden Welt suchte. Natürlich amüsierte es die alten Seele ungemein dabei eine gehörige Portion Chaos zu verbreiten.
      Mit unbewegter Miene lehnte Mortimer im Türrahmen eines angrenzenden Raumes und bewunderte den unvergesslichen Anblick, der sich ihm bot. Zu seinen Füßen bedeckter polierter, weißer Sandstein den Boden und führte seinen Blick mit den darauf gemalten kunstvollen, verschnörkelnden Linien zu einem ebenfalls aus Stein gefertigten Geländer. Den Säulen hatte der Künster das Antlitz artenreicher Flora und Fauna gegeben. Prächtige Greifvögel, edle Rösser und hübsche Blüten waren mit Hammer und Meisel im Stein verewigt worden. Der Babylonier hob den Blick zu Decke und blickte auf ein filigranes Gitter aus geöltem Holz über das sich dunkelgrünes Efeu schlängelte und eine natürliche Schattenquelle vor der Sonne bot. Unter das Efeu hatten sich weitere exotische Pflanzen gemischt deren zarten Blüten in allen Farben des Regenbogen mit der Strahlkraft der Sonne wetteiferten. Das beeindruckende Farbenspiel ergoß samt des grünen Blättermeeres über den Rand des Baldachins und floss wie ein Wasserfall in die Tiefe außerhalb seines Sichtfeldes. Zu beiden Seiten der balkonähnlichen Struktur wogen imposante Palmen im Wind, der eine angenehme Wärme mit sich trug.
      Ein süßer Duft von orientalischen Lilien, Hyazinthen und Rosen erfüllte die Luft und wirkte dabei erstaunlich unaufdringlich. Der Geruch umspielte die Sinne und der Babylonier atmete tief ein um es vollständig auszukosten. Dabei lag sein Blick auf dem Rücken des Seekers, der seine Hände auf dem weißen Sandstein des Geländers aufgestützt hatte und mit erschreckend gleichgültiger Miene über die abfallende Struktur der Gärten hinabsah.
      Mortimer seufzte gedehnt und schüttelte ein wenig fassungslos den Kopf.
      Für den zauberhafte Anblick der Hängenden Gärten von Babylon hätten sich renomierte Archäologen mit einem Lächeln freiwillig jeden Finger einzeln von der Hand getrennt. Gut möglich, das Mortimer die letzte lebendige Seele auf dem gesamten Planeten war, der noch eine existierende Erinnerungen an das monumentale Bauwerk besaß.
      Unweit des Seekers im Schatten lag Sylea, bequem und weich auf dutzenden von verzierten Kissen.
      Anifuris, nein, Ascan wie der Babylonier letztendlich erfahren hatte, war wirklich recht sorglos mit der Hülle umgegangen, die im Zuflucht bot. Er hatte entschieden, dass ein erholsamer Schlaf ein vielversprechender Anfang war und sollte sich das Mädchen dazu entscheiden, dem Land der Träume zu entfliehen, standen bereits ein paar Kleinigkeiten auf einem Tisch bereit, den ein herrliches Muster aus schimmerndem Mosaik zierte. Als Mortimer einen vorsichtigen Schritt in Richtung der Bewusstlosen setzte, erfüllte ein tiefes Grollen den Balkon. Jedenfalls war der Seeker wieder ansprechbar.
      "Du solltest lernen den Grimm unter Kontrolle zu bekommen. Oder soll ich dir einen Maulkorb besorgen?", scherzte der Babylonier und näherte sich Cain mit geradem Rücken. Die Hände hatte er locker hinter dem Rücken verschränkt.
      "Die ganze Zeit spüre ich ihn an der Innenseite meines Schädels kratzen. Allein der kurze Gedanke an Cordelia...", antwortete Cain und presste die Kiefer aufeinander bis es schmerzte. Der Grimme rebellierte gegen das notdürftige Konstrukt, dass ihn fest unter der Aura des Seekers einsperrte.
      "Ich kann dir nicht sagen, dass er wieder verschwindet, Cain. Vermutlich wird er das für den Rest deines Lebens nicht. Ein Grimm entsteht nicht über Nacht, er muss bereits lange Teil von dir gewesen sein. Er ist das Gegenstück zu deiner von der Goldaura gesteigerten Empathie. Dein Grimm ist das Nichts, das sich jedes Gefühl einverleibt, weil er selbst nicht fähig ist zu empfinden. Er wird dich aufzehren, wenn du ihn lässt, und alles was dir lieb und teuer ist. Deine Schwester ist fort, aber es gibt immernoch jemanden der dich braucht. Ganz und nicht nur ein Fragment.", sagte der Babylonier und obwohl seine Stimme eine seltsame Neutralität barg, erkannte Cain die Aufrichtigkeit darin.
      Der Seeker senkte das Haupt und berührte gedankenverloren eine der zarten Lilienblüten, die den Balkon säumten.
      "Ist das real?", fragte er.
      "Hmhm, meine eigene Erinnerung.", nickte der Babylonier und trug ein unerwartet melancholisches Lächeln zur Schau.
      "Es fühlt sich echt an."
      "Was daran liegen mag, dass eine Meisterin ihrer Kunst dieses Abbild für mich gefertigt hat. Es war ein Geschenk. Meine eigenen Kreationen wirken täuschend echt, enthalten aber kein Leben. Sie sind hohl.", erklärte Mortimer und wanderte über den lichtdurchfluteten Balkon bis zu dem Tisch, auf dem sich neben den Köstlichkeiten eine Sanduhr befand. Sie war so schlicht und unscheinbar, dass sie nicht recht in die prachtvolle Kullisse passte. "Sie nannte es Traumsand. Natürlich geht es nicht wirklich um Träume, aber der Anblick ist schon traumhaft, nicht wahr? Sie war eine Weberin, die geschickteste ihrer Handwerks."
      Fragend sah Cain seinen Gegenüber an, der lächelnd abwinkte.
      "Das ist eine Geschichte für einen anderen Tag. Oder nie.", antwortete er.
      "Aber warum eine Sanduhr? Was passiert, wenn der Sand vollständig durch die Uhr gefallen ist?", hakte Cain nach.
      "Das Konstrukt der Erinnerung zerspringt, um die Realität hinein zulassen. Der Sinn und Zweck dahinter ist, dass es mich daran erinnern soll, nicht in der Vergangenheit zu versinken. Eine Erinnerung bringt temporären Frieden bis wir uns unwiderruflich darin verstricken. Aber am Ende ist es schlicht und ergreifen nur das: Eine Erinnerung. Was verloren ist, kommt nicht zurück. Und was du besitzt, kannst du dennoch verlieren."
      Der Bayblonier wandte sich um und tippte beiläufig mit dem Zeigefinger gegen das Kristallglas der Sanduhr.
      Eine Schonfrist, wie Cain letztendlich begriff. Sobald der Kreis der Erinnerung sich schloss, war es Zeit das Archiv zu verlassen.
      Als der Archivar fast durch die Tür geschlüpft war, drehte der Seeker sich in seiner Richtung. Mit dem natürlich gebräunten Ton seiner Haut, den dunklen Haaren und den geliehen Kleidungsstücken des Babylonier, einer weite Stoffhose aus hellem Leinen und dem ärmellosen Oberteil, fügte sich Cain beinahe nahtlos in das Gefüge der Erinnerung ein.
      "Sollten wir dir trauen?", stellte er die Frage.
      "Nein.", antwortete Mortimer lächelnd. "Aber habt ihr eine andere Wahl?"
      Cain sah schweigend zu, wie der seltsame Babylonier mit dem viel zu jungen Gesicht durch die Türspalt verschwand.
      Einen Augenblick lang starrte er die geschlossenen Tür an, als könnte er die gewünschten Antworten aus ihr herauskitzeln. Er fühlte sich aus der Balance gebracht und unglaublich erschöpft. Sein eigenes Gewicht schien ihn sekündlich mehr gen Erdboden zu ziehen. Nach langem Zögern brach sein Widerstand und Cain gab dem sanften Zug der silbrigen Aura nach, die sich brüchig und kraftlos anfühlte. Ohne Syleas Hilfe konnte er nichts sehen, aber fühlte, wie geschwächt ihr Geist und Körper war.
      Und er hatte dazu beigetragen.
      Behutsam schlüpfte er hinter der schlafenden Sylea auf die unendlich weichen Kissen und zog sie mit einem Arm sanft an sich. Der schmalen Rücken lehnte an seiner Brust, durch die der vertraute Herzschlag spürbar pochte. Einen Arm um ihren Körper, schob er den zweiten unter ihrem Nacken hindruch um ihren Kopf sachte zu stützen.
      Sich ergebend vergrub Cain das Gesicht in ihrem Nacken und schloss die Augen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • [....]
      All I know
      Time is a valuable thing
      Watch it fly by as the pendulum swings
      Watch it count down to the end of the day
      The clock ticks life away

      [....]

      I kept everything inside and even though I tried
      It all fell apart
      What it meant to me will eventually
      Be a memory of a time when I tried so hard


      I tried so hard and got so far
      But in the end it doesn't even matter
      I had to fall to lose it all
      But in the end it doesn't even matter

      [....]


      Sylea konnte nicht mehr sagen, wie lange sie wirklich ohnmächtig gewesen war. Oder ob es wirklich nur eine Ohnmacht war oder der endgültige Versuch ihres Körpers, der übermächtig wirkenden Erschöpfung beizukommen. Irgendwann wurde ihr Körper jedoch wieder wach, fing an sich leicht zu bewegen während ihr Bewusstsein in den wachen Zustand wechselte. Normalerweise war sie immer höchst alarmiert wenn sie plötzlich wieder zu sich kam und sich erst orientieren musste. Doch sie spürte etwas warmes und vertrautes in ihrem Rücken. Eine wohlbekannte Aura, die ihre eigene perfekt zu ergänzen schien. Sie schlug ihre Augen auf, langsam, um sich an das Licht zu gewöhnen, das untertage eigentlich gar nicht herrschen dürfte. Doch das erste was sie wirklich sah, war der nackte Arm um ihren Leib, der sie eisern an sich band. Dann der Atem, der ihren Nacken streichelte, und erst danach die Umgebung, die sie noch nie so gesehen hatte.
      Doch es war Ascan in ihrem Inneren, von dem aufrichtige Verblüffung stammte, als das Mädchen den Blick durch die hängenden Gärten Babylons schweifen ließ. Das konnte sich unmöglich im Archiv des Babyloniers verstecken. Diese Gärten existierten nicht mehr, also wurden sie auch nicht woanders hingebracht. Was den Rückschluss zu ließ, dass das hier eine Nachbildung oder eine Täuschung war. Vielleicht ein Konstrukt.
      Noch während sie die Ranken über ihren Köpfen und die zahlreichen exotischen Blumen musterte, fing sie an zu sprechen. "Hey...." Es war nur ein einziges Wort, leise gehaucht mit der Furcht behaftet von der Reaktion, die sie womöglich erwartete. Ohne ihn zu sehen vermochte Sylea nicht viel über Cains Verfassung zu sagen, denn nach seiner Aura zu greifen war ihr im aktuellen Zustand zu heikel. Der warme Wind strich über ihren Körper und sorgte dafür, dass sie nicht mehr fröstelte. Doch die Erschöpfung saß tief in ihren Knochen und jede einzelne Bewegung fühlte sich an wie ein gewaltiger Kraftakt. "Geht es dir wieder ein bisschen besser?"
      Wo steckte eigentlich Mortimer? Sonst war er immer wie ein Bewacher um sie herum geschwirrt wenn sie in seinem Archiv gewesen waren. Nun fehlte von ihm jedoch jegliche Spur ohne jedoch bei dem Mädchen das Gefühl der Ungestörtheit zu erzeugen. Wieso hatte er sie beide hier abgesetzt? War es tatsächlich wirklich sinnvoll gewesen, dies hier als letzte Rettung zu sehen?
      Das ist eine Erinnerung. Ein temporäres Konstrukt, geschaffen aus Erinnerungen. Er hat euch Zeit gegeben euch zu sammeln.
      Sylea horchte gedanklich auf. Da war er wieder, die altbekannte Stimme in ihrem Kopf und die altbekannte Gestalt in ihrer Gedankenwelt. Zu ihrem Erstaunen jedoch war er nicht mehr die nebelige Gestalt mit den stechenden Augen in ihrem Kopf. Voller Überraschung fand sie neben sich die vollends enthüllte Gestalt eines Mannes mittleren Alters. Er sah sie nicht direkt an, doch selbst aus dem Profil erkannte sie seine markanten Gesichtszüge und die leicht schiefe Nase, die zu groß für den Rest seines Gesichtes schien. Seine Lippen waren schmal, die Augen noch immer stechend klar und von einem ähnlich Braunton wie der ihre. Seine Haare waren fast so lang wie ihre eigenen, als sie sie noch lang getragen hatte und waren eng an seinen Kopf geflochten, sodass er eher den Eindruck eines Stammesangehörigen machte. Dafür sprach auch seine Kleidung, die aus einer einzigen langen Kutte bestand. Vielleicht eher doch eine Sekte als ein Stamm... Sekte... Waren die Rubras vielleicht eher eine Sekte als ein Stamm? Wie sie es auch betrachtete, es war mehr als seltsam zu sehen, wie ein Ahne vor einem selbst stand und kommunizierte.
      "Es tut mir leid, Cain. Ich hab gewusst, dass Cordelia nicht mehr lebt und Scintilla sie komplett aufgelöst hat. Ich konnte es nicht sagen weil Ascan es mir verwehrt hat. Genauso wie ich seinen Namen erst erfahren habe, als ich weg war. Er konnte in der Zeit nichts vor mir verheimlichen, ich weiß jetzt über ihn Bescheid...", sprach sie leise weiter und kuschelte sich noch enger an den Körper des Seekers.
      Mehr Wissen bedeutete nur leider nicht eine Befreiung aus ihrer Lage. Noch immer war sie untrennbar mit Ascan verbunden. Noch immer war sie mit Cain verbunden. Ihr Problem hatte sich noch immer nicht gebessert selbst wenn sie ein paar mehr Antworten auf ein Warum nun besaß.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Hey...", antwortete Cain mit gedämpfter Stimme.
      Wenige Herzschläge verstrichen zwischen Syleas ersten, zaghaften Silben und der geflüsterten Antwort des Seekers. Die Stimme glich dem Wispern des Windes über ihren Köpfen und transportierte in einer Silbe eine schier unendliche Farbpalette der unterschiedlichsten Emotionen. Eine gefühlsreiche Komposition aus tiefgreifender Schuld, schmerzlicher Traurigkeit und letztendlich der unendlichen Erleichterung die als Echo alle anderen Töne überwog. Letzteres erwies sich als zwiespältige Empfindung, die seine ganze Existenz von einer Seite zur anderen Seite im ständigen Wechsel hin und her zerrte. Die Gewissheit über das Schicksal seiner Schwester peinigte Cain und gleichzeitig verspürte er eine Form der Befreiung von einer alten, erdrückenden Last. Es war dieser Gedanke, der das schlechte Gewissen und alles, was damit zusammen hing, ins schier Unermessliche steigerte. Am Ende hatte er Cordelia weder beschützen noch retten können. Er hatte als großer Bruder versagt und dennoch fühlte er wie ein tonnenschwerer Stein von seiner Brust genommen worden war. Und diese Vorstellung fraß ihn förmlich auf.
      Im Inneren seines Schädels heulte der Grimm in seinem Gefängnis auf.
      Cain verstärkte den Halt seines Armes um den zierlichen Körper neben sich und drückte sein Gesicht ein wenig mehr gegen die erwärmte Haut. Die Nasenspitze strich über die weichen Härchen im Nacken, als der Seeker ein weiteres Mal zitternd ausatmete. Die Gedankengänge ähnelten jenen über Cordelia, als Cain die Augen einen Spalt öffnete und nichts sah außer ein Meer an braunen Haarsträhnen. Er hatte Syleas Seele riskiert um einem erfolglosen Ziel nach zu jagen, nachdem er sich von Anifuris, nein Ascan, wie ein einfältiger Narr hatte manipulieren lassen. Cain verlor sich in den Selbstzweifeln und fühlte wie der tiefschwarze Selbsthass in seiner Brust köchelte. Beinahe hätte er sie beide verloren, Cordelia und Sylea. Die Muskeln in seinem Unterarm zuckten, während er das erschöpfte Mädchen in seinem Arm als mentalen und physischen Anker missbrauchte. Jedenfalls viel ihm keine bessere Umschreibung dafür ein. Er hatte es nicht verdient, dass sie hier bei ihm war. Er hatte nichts von alldem verdient, nachdem was er riskiert hatte.
      "Der Nebel in meinem Kopf ist verschwunden.", antwortete er. "Es ist seltsam, ich erinnere mich an alles, was geschehen ist während Ascan einen Teil meiner Seele besessen hat. Trotzdem fühlt es sich an wie die Erinnerung eines Fremden."
      Dieser Cain, ohne Liebe und jegliches Mitgefühl, war ein furchtbarer Mensch und niemand, zu dem er je wieder werden wollte.
      Aufmerksam lauschte er dem Klang ihrer Stimme und verspürte einen verräterischen Stich in seiner Brust. Sie hatte es gewusst, aber Cain durfte ihr daraus keinen Vorwurf machen. Es machte durchaus Sinn, dass Ascan ihr nicht erlaubt hatte darüber zu sprechen. Dadurch hätte er einen wichtigen Hebel verloren, um den Seeker wie eine Marionette zu lenken.
      Durch die Nähe spürte Cain den geliebten Herzschlag tief im eigenen Brustkorb und jedes Mal war er geradezu fasziniert davon, wie sich Rhythmus und Stärke aufeinander einspielten. Es war unsagbar beruhigend, dass dieses innige Band nicht zerrissen war und ihn davon abhielt völlig der Verstand zu verlieren. Wie hatte er es vermisst sich Sylea so nahe zu fühlen, auf einer Ebene, die kaum ein Menschen je begreifen konnte.
      "Es ist nicht deine Schuld. Ich sollte mich bei dir entschuldigen weil ich mich wie ein Anfänger von Ascan habe einlullen lassen", murmelte Cain schlicht aber nicht weniger aufrichtig. "Erzähl mir davon."
      “We all change, when you think about it.
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    • Nach ein paar Minuten hatten Sylea vorerst genug von dem Konstrukt um sich herum gesehen. Noch immer war sie erschöpft, sodass sie zwar wach blieb, ihre Lider sich jedoch widerstandslos wieder schlossen. Es genügte ihr zu wissen, dass Cain wieder voll da war. Nicht dem Grimm sofort wieder nachgab und nicht mehr den Anschein erweckte, er sei mental völlig gebrochen. Es reichte, dass er sie weiterhin festhielt als sei sie nun noch das Einzige in seinem Leben, das ihn in seinem eigenen hielt. Eine durchaus traurige Vorstellung, doch ein kleiner Teil tief in ihrem Inneren freute sich darüber, endlich den Platz eingenommen zu haben, den sie schon immer haben wollte. So wichtig für eine andere Person zu sein wie niemand sonst.
      "Du warst zu dem Zeitpunkt auch nicht vollständig. Ist nur klar, dass es sich nicht anfühlt wie die eigenen Erfahrungen... Immerhin hast du dich auch nicht wie du selbst gefühlt", bestätigte sie ihm seine Worte und dachte dabei über ihre eigene Situation nach. Es gab Momente, in denen Ascan die Kontrolle übernommen hatte, wo auch sie Erinnerungslücken aufwies. Lieber hätte sie fremdwirkende Erinnerungen gewählt als gar keine. Das Unwissen war in ihren Augen wesentlich schlimmer. Nun jedoch war sie sich sicher, dass solche Amnesien nicht noch einmal willkürlich auftreten würden. Dafür war sie nun zu eng mit der anderen Seele verbunden, die in ihrem schmächtigen Körper steckte und wie ein lästiger Zuschauer alles mitansah.
      "Er ist alt und er war ein Mensch. Er versteht besser als die Götter selbst aus welcher Motivation Menschen handeln. Er hatte bei dir einfach ein leichtes Spiel weil er zu viele Informationen hatte und genau wusste, welche Knöpfchen er drücken musste." Sylea zuckte mit den Schultern. "Anifuris ist eine Zusammensetzung aus dem Lateinischen. Ani für die Seele und fur für den Dieb. Er war deswegen so scharf auf die Aufzeichnungen der Estryreh weil er mit ihr eine Partnerschaft geführt hatte. Aus diesen beiden ging der Rubraclan hervor, sie haben ihn gegründet und all unser Wissen, unsere Techniken, beruhen auf den Forschungen, die Ascan einst angestellt hat. Zusammen mit Estryreh hat er Nachkommen gezeugt, die meine Vorfahren sind. Wir vermuten, dass das einen Teil dazu beiträgt warum meine Seele nicht unter seiner Herrschaft zerbrochen ist."
      Was auch immer in der Zeit geschehen war, in der Syleas Bewusstsein zu Staub zerfallen war - sie war wortwörtlich in jede Ritze von Ascans Erinnerungen gedrungen. In diesem Zustand des Nichts hatte er sich nicht gegen sie wehren können und war ernsthaft davon ausgegangen, dass sie sich wirklich auflöste. Nun hatte er ein wissendes Vessel vor sich, die höchstwahrscheinlich genau wusste, wie ihre gemeinsame Zukunft nun aussehen würde.
      "Dagda hat uns nicht trennen können weil er dann uns beide wieder in den Maelstrom hätte schicken müssen. Das heißt, Ascan und ich bleiben bis zu dem Zeitpunkt untrennbar verbunden bis einer von uns aufgibt und sich freiwillig vom anderen auflösen lässt. Dann würde der eine Teil des jeweils anderen werden und nicht mehr in den Maelstrom zurückkehren. Und du kannst dir denken, dass das keiner von uns will...", beendete sie ihre Ausführung und ließ eine Hand über Cains Bein streichen, einfach nur um sich zu vergewissern, dass sie ihn wirklich wieder bei sich hatte.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Mit geschlossenen Augen jedoch nicht weniger aufmerksam lauschte Cain der Erzählung über den Ursprung von Ascans Existenz.
      Der aufgewühlten Neugierde folgte ein tiefer Fall in die Ernüchterung, als der Einblick in die Erinnerungen der alten Seele keinerlei Lösung des eigentlichen Problems lieferte. Trotz des gewonnenen Wissens standen sie quasi wieder ganz am Anfang. Cain drückte Sylea an sich und reckte träge das Kinn bis er einen hauchzarten Kuss auf ihrem Scheitel platzieren konnte. Die Erschöpfung begleitete den rhythmischen Herzschlag wie ein subtiler Puls über das Band zwischen den Auren. Der Seeker konnte schwerlich differenzieren von wem der Impuls stammte, von Sylea oder von ihm selbst. Die Barrieren seiner goldschimmernden Aura waren gebrochen und gewährten der Rubra freien Zugang zu jeglichen Empfindungen, die seine Aura aufwühlten und gleichzeitig beruhigten. Der Wechsel zwischen Ruhe und Ungleichgewicht verfolgten keinen abgestimmten Rhythmus und reflektierten ungefiltert die klägliche Stabilität des Seekers.
      Ascan, Cordelia, Scintilla und auch Sylea...Sie alle hatten Narben und tiefe Furchen auf ihre ganz eigene Art hinterlassen.
      Der einst spiegelglatte Zustand der goldenen Aura gehörte für den Augenblick der Vergangenheit an.
      Ein tieftöniges Brummen löste sich aus seiner Kehle, das irgendwo zwischen Ungläubigkeit und Ärger über die eigene Blindheit schwankte.
      "Das ergibt Sinn. Und ich habe mich die ganze Zeit über von ihm blenden lassen. Ich habe wirklich geglaubt, dass wir eine Möglichkeit finden Ascan endgültig von dir zu trennen.", murmelte Cain und blickte durch halbgesenkte Augenlider in die prachtvollen Gärten, deren Anblick ihm keinen Frieden schenkte. Es musste eine Lösung geben. Irgendwo. Irgendwie.
      Cains Muskeln zuckten unter den suchenden Fingern an seinem Bein und für einen Augenblick ließ er den Kopf zurück in die himmlisch weichen Kissen sinken.
      "Ascan und Estryreh begründeten also vor all dieser Zeit den Rubra-Clan und führten ihn, bis Estryreh beschloss, dass ihr Gefährte eine zu große Bedrohung durch seinen Wissendurst darstellte?", fragte er und versuchte die zähfließenden Gedanken seines Verstandes in die richtige Richtung zu lenken. "Was hat er getan, dass sie ihm letztendlich den Rücken zukehrte? Sie hat ihn offensichtlich nicht vernichtet, sonst müsstest du nicht deinen Körper mit ihm teilen."
      Schwerfällig löste sich Cain von der jungen Frau in seinen Armen und stemmte sich in eine sitzende Position.
      Die Wichtigkeit dieser Erkenntnisse war ihm zweifellos bewusst, aber etwas anderen drängte sich in den Vordergrund. Sein Arm wog schwer, als er ihn ausstreckte und nach einem der Becher neben der mysteriösen Sanduhr griff. Er würde nicht ein weiteres Mal willentlich dabei zusehen, wie Syleas Verfassung unter Ascans Rücksichtslosigkeit litt.
      "Kannst du dich aufsetzen?", stellte er die Frage und drehte den Tonbecher mit den kunstvoll, eingebrannten Verzierungen zwischen den Fingern. "Für mehr als Wasser reichte es wohl nicht. Ich würde morden für einen Kaffee."
      Obwohl das Grinsen auf seinen Lippen etwas armselig wirkte, gab es Cain einen Teil seiner Selbst zurück. Die Art wie er lediglich den rechten Mundwinkel schief nach oben zog und dabei leicht die Nase kräuselte, verlieh ihm etwas Jungenhaftes.
      “We all change, when you think about it.
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    • So unmöglich es auch wirken mochte: Auch Sylea hoffte, betete gar darum, dass es doch eine versteckte Möglichkeit gab mit der man Ascan von ihr trennen konnte. Es musste auf dieser weiten Welt doch das Wissen geben, wie man Seelen vollständig trennte. Wer sagte, dass der Gott wirklich die Wahrheit sprach? Dass er nicht unter Einfluss von Etwas stand oder einfach nur Lust darauf hatte, Lügen zu verbreiten? Immerhin stellte Dagda ihnen ja immer noch nicht nach - seine Worte waren als nicht alle für bare Münze zu nehmen.
      Syleas Stirn zog Falten als sie in den schier unenedlichen Aufzeichnungen von Ascans und nun ihren Erinnerungen wühlte, um die passende Erklärung auf die Fragen zu finden. "Estryreh hat sich mit den Künsten des Siegelns befasst während sich Ascan in der Faszination verlor, woraus das Bewusstsein besteht. Was einst als Studie begann wurde bald zu Versuchsreihen mit Menschen. Wie genau er an die Technik kam, mit Seelen zu interagieren ist weder ihm noch mir klar. Eines Tages konnte er es einfach. Eine geraume Zeit lang war Estryreh ebenso fasziniert aber als Ascan irgendwann damit anfing, dass seine Probanten immer jünger wurden und er irgendwann damit anfing, die Seelen von Neugeborenen auseinander zu pflücken war es ihr nicht mehr geheuer. Als sie dann schwanger wurde äußerte er das Interesse daran, auch ihr gemeinsames Kind einem Test zu unterziehen. Es wurde für sie immer grenzwertiger bis sie irgendwann bemerkte, dass ihre Worte gar keinen Einfluss mehr auf ihn hatten."
      Die furchtbaren Erinnerungen daran, wie Ascan Säuglinge einer Dissektion unterzog, musste Sylea gewaltsam von sich schieben. Zu grausam waren die Bilder, die Geräusche, die Schreie.
      "Estryreh hat eine Inquisition benachrichtigt, die daraufhin angerückt war und Ascan zum Tod durch Enthauptung verurteilt hat. Man hat ihm nicht einmal einen Tag Zeit gelassen und ihn dort enthauptet, wo nun die Versammlungsstätte der Rubras ist. Das bisschen Zeit hatte wohl ausgereicht, dass er irgendetwas bewirken konnte. Das Gefühl, noch nicht fertig zu sein, der Zorn darüber so unverstanden zu sein hat scheinbar dafür gesorgt, dass seine Seele nicht in den Maelstrom zurückgekehrt ist und wiedergeboren wurde. Er besaß seine Erinnerungen an sein Vorleben, an den Maelstrom und an die Tatsache, dass Seelen existierten. Er setzte seine Forschungen später fort und war der Erste, der eine Seele manifestieren und in ein bewusstes Lebewesen verfrachtet hatte. Damit hat er den Ursprung für all diesen Mist gelegt."
      Es ging Bewegung durch den Seeker in Syleas Rücken als er sich etwas von ihr schob und sich aufsetzte. Sie drehte sich ein bisschen, um endlich auch sein Gesicht sehen zu können, das noch immer durchzogen war von mehreren Schatten. Allein der Anblick reichte schon, damit ihr wieder schwer ums Herz wurde. Aber immerhin agierte er wieder von selbst und hing nicht wie eine leblose Puppe in irgendwelchen Stühlen.
      Sie ächzte leise als sie sich eigens richtig aufsetzte und Cains Hand folgte, die nach einem Becher griff, der neben einer kunstvollen kleinen Sanduhr stand. Sand rieselte emsig hindurch und Sylea spürte, dass sie das Zentrum von all dem hier war. "Sicher." Sie nahm den Becher entgegen und trank einen Schluck. Ja, für einen Kaffee würde auch sie vieles tun. "Oder stell dir einen Saft vor... Die müssen hier doch bestimmt irgendwelche Früchte haben, aus denen man Saft machen kann..."
      Sylea begegnete dem leichten Grinsen von Cain mit einem Lächeln, das erstaunlich viel Helligkeit besaß. Langsam bekam sie das Gefühl in ihrem Körper zurück, das Zittern stellte sich ein und sie hatte den Eindruck, wieder besser geerdet zu sein. Wenn es sein musste, dann würde sie seinen Anker bilden. Dafür sorgen, dass er sich nicht verlor. Dass er wie eine Kletterpflanze an ihrer Aura ranken können würde und den Halt bekam, den er dringend benötigte. Erst recht, nachdem Scintilla ihm jeglichen Halt einfach entrissen hatte,
      "Wir finden bestimmt irgendwo einen Kaffee zum mitnehmen... Ich glaube, wir können eh nicht mehr lange hier bleiben, oder?" Sie sah zu der Sanduhr hinüber, die unwissentlich das Ende ihrer Ruhephase markierte.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Dann ist Ascan der Ursprung allen Übels.", wiederholte Cain knurrend und mehr zu sich selbst.
      Die Vorstellung der abscheulichen Gräueltaten erschütterte ihn bis ins Mark. Zweifellos brachte die Menschheitsgeschichte in ihrem düsteren Schatten stets neue und brillante Persönlichkeiten hervor die ohne Rücksicht und angetrieben von einem unstillbaren Wissensdurst zu den grausamsten Handlungen fähig waren. Die Erkenntnis, dass sich all die Erinnerungen nun fest verankert in Syleas Verstand befanden, löste eine Welle des Entsetzens und der ungebändigten Wut aus. Der brüchige Auraschimmer erzitterte unter der schieren Wucht eines Donnergrollens, dessen Ursprung die finstere Schwärze seines Seelenkerns bildete. Der schattenartige Grimm warf sich Zähne fletschend und grollend wie ein Monstrum in die astralen Ketten, die ihn banden und gierte nach dem Gefühl des Zorns. Cain und der Grimm bildeten die zwei Seiten einer Medaille: Das Nichts gegen ein schier unendliches Spektrum an Emotionen. Um Syleas Willen führte kein Weg daran vorbei dem ausgehungerten Ungetüm seine Grenzen aufzuzeigen. Mit einem tiefen Atemzug zählte der Seeker gedanklich von Zehn bis Eins herunter ehe er es wagte einen erneuten Blick in das vertraute Gesicht zu werfen. Die Iris glühte unter der Nuance flüssigen Goldes und verdrängte die schwärzlichen Flecken, die sich unter dem Gold ans Tageslicht kämpften. Er war ein Seeker, Kontrolle und Disziplin bildeten für ihn seit Jahren einen natürlichen Reflex wie das Atem selbst. Cain zwang sich ein schwaches Lächeln auf, während er den Blick ein weiteres Mal abwandte und die Sanduhr beäugte, die ihm entgegen starrte wie ein verhöhnendes Mahnmal.
      Frustration und Sprachlosigkeit wechselten sich sekündlich ab, ehe er seine träge Zunge dazu bewegen konnte wieder klare Silben zu formulieren.
      "Wir werden eine Lösung finden. Wir müssen.", sagte Cain, obwohl er die eigene Entschlossenheit in Frage stellte. "Vielleicht benötigten wir einen neuen Ansatz. Denkst du der Rubra-Clan könnte mehr Wissen verbergen, als wir vermuten. Estryreh verfasste Memoiren, vielleicht gibt es andere Anhaltspunkt, denen wir folgen können. Ich werde niemals akzeptieren, dass Ascan dich mit in den Untergang reißt. Es tut mir leid."
      Vorsichtig, als traute er sich selbst nicht, legte Cain einen Arm um die zierlichen Schultern von Sylea während er sie letztem Worte mehr flüsterte als wirklich laut aussprach. Seine Aura mochte geschwächt und angegriffen sein, aber es reichte aus um einen sanften Puls des Mitgefühls über das unsichtbare Band zuschicken. Zufällig richtete sich sein Blick über ihren Scheitel hinweg direkt in Ascans Richtung, als könnte er ihn unbewusst wahrnehmen. Er würde lieber sterben oder sich vom Grimm aufzehren lassen, als Sylea kampflos an Ascan zu verlieren. Der Gedanke allein war absurd, durch die Verschmelzung zog der Seeker selbst die Frau, die er eigentlich zu schützen gedachte, mit den Abgrund. Wie er es auch drehte und wandte, es war eine Zwickmühle.
      Trotz der Schwere erhellte ein ungewollt amüsiertes und heiseres Lachen den bewachsenen Balkon der Gärten.
      "Ich glaube nicht, dass eine Erinnerung so funktioniert.", schmunzelte Cain, obwohl das Gefühl nicht gänzlich seine Augen erreichte, denn Cordelias Verlust wog schwer, auch wenn Cain sich alle Mühe gab es zu verbergen. Stattdessen suchte sein Fokus bereits ein neues Ziel und verschloss die schmerzliche Trauer zusammen mit dem Grimm.
      "Hm, du hast Recht. Wir können nicht für Lange bleiben. Ich befürchte, dass der Babylonier uns in Kürze vor die Tür setzen wird. Er hat mir deutlich gemacht, dass unsere Zeit in den Gewölbearchiven abläuft."
      Cain verbarg das Gesicht an der warmen Halsbeuge und krümmte sich dabei regelrecht zusammen, um den Größenunterschied auszugleichen.
      "Ich weiß nicht wohin, Sylea. Es gab nie einen Plan B. Ich weiß nicht, was wir tun sollen.", flüsterte er und drückte seine Wange gegen die weiche Haut ihres Halses.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”