Vessels [Asuna & Winterhauch]

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • "Nur zu", entgegnete Sylea, erhob sich von Cains Schoß und sah ihm nach, wie er zur Tür ging.
      Sie war sich nicht sicher, ob es Absicht gewesen war, wie der Spiegel im Flur angebracht worden war. Aber nach einer kleinen Korrektur ihrer Position konnte sie im Spiegelbild Jace erkennen. Fast augenblicklich wurde ihr schwindelig, als Anifuris mit aller Macht an dem fragilen Netz rüttelte, das ihre gemeinsamen Auren darstellten. Sie fasste sich an die Brust und ging fast in die Knie bei dem Versuch, das Netz und somit die alte Seele unter Kontrolle zu behalten.
      In ihrem Geist stand Anifuris augenscheinlich ruhig neben ihr und sah stur gerade aus. Das Vessel konnte nicht verhindern, dass sich ein Hauch seiner nachtblauen Aura wie ein Nebel aus ihrem Kontrukt löste und sich auszubreiten begann. Sylea vermied es, Worte zu benutzen. Einerseits, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Andererseits war sie sich nicht mal sicher, ob es ihre eigene Stimme sein würde. Schnell merkte sie jedoch, dass dieser Nebel eine Art Sonar darstellte. Ein Sonar, das ausschlug, sobald es auf Cains goldene Aura traf und dann eine fremde Aura berührte. Sylea erstarrte als sie die fremde Aura buchstäblich an ihrer eigenen spürte, obwohl sie etliche Meter getrennt voneinander standen.
      Die Worte der beiden Männer drangen nur noch leise an die Ohren der jungen Frau, die viel mehr damit beschäftigt war, das Netz weiterhin zu halten. Da Anifuris aber scheinbar nicht stärker protestierte, hatte er schon, was er gewollt hatte. Im nächsten Moment ließ der Druck in ihrem Körper nach und der blaue Nebel kehrte zu seinem Ursprung zurück. Anifuris hatte Jaces Aura auf irgendetwas untersucht und gab sich damit wohl zufrieden.
      Erleichtert seufzte Sylea als sie endlich wieder gerade stehen konnte ohne zu befürchten, die Beine brächen unter ihr zusammen. Ihre Atmung stabilisierte sich, sodass sie sich traute, die Stimme zu heben: "Danke!"
      Ein einfaches Wort dürfte keinen Schaden anrichten. Vermutlich hatte Anifuris die Konversation so weit verfolgen können, dass er es einsah und darauf wartete, dass er seine Forderung erfüllt bekäme. Wäre es nach Sylea gegangen, hätte sich sich in Persona bei Cains Freund bedankt. Ohne ihn wären sie schließlich nicht hier und könnten sich zumindest etwas erholen. Zu gern hätte sie weiter den Anschein erweckt, dass sie ein normales Leben führen konnten. Aber dies würde nie so sein.
      Er wird die Memoiren bekommen. Vermutlich innerhalb von fünf Tagen, wenn ich ihn richtig einschätze.
      Was erhoffst du dir davon?
      Antworten. Sie stammen aus einer Zeit nach meiner physischen Existenz. Mir fehlt ein geraumes Stück an Zeit, das vielleicht in den Büchern erklärt wird.
      "Dann bist du über 800 Jahre alt!", rief Sylea abrupt überrascht aus und schlug sich augenblicklich mit der flachen Hand vor den Mund.
      Dann stockte sie. Woher wusste sie die Zeitspanne? Weder sagte der Name der Person ihr etwas, noch kannte sie diese Schriften. Als sie gedanklich zu Anifuris blickte, sah sie Unbehagen in seinem Gesicht. Einem Gesicht, das ihrem zum Verwechseln ähnlich war und doch anfing, sich zu verändern. Langsam und fließend, als würde die Zeit eine andere Person unter der Fassade hervorbringen.
      Syleas und Anifuris Erinnerungen begannen langsam im Einklang zu schweben.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Ein gewöhnlicher Mensch ohne zusätzlichen Sinn, hätte den eisigen Schauer wohl beiläufig abgetan.
      Cain wusste, dass die Kälte in einem Rücken keinesfalls ein Zufall war. Die alte Seele streckte ihre Fühler aus und verhielt sich dabei überraschend passiv. Scheinbar sah sich Anifuris nicht dazu veranlasst einzugreifen, da der Seeker sich fürs Erste seiner Forderung beugte. Eine gewisse Neugierde an den antiken Schriften konnte auch Cain nicht abstreiten. Jace bekam von dem fremden Beobachter nicht viel mit und ließ sich von dem Seeker alle Informationen geben, die Cain zur Hand hatte.
      Erst als eine weibliche Stimme aus dem inneren der Wohnung an die Tür drang, ließ er sich ein wenig ablenken. Der Hacker lehnte sich etwas um seinen alten Freund herum, konnte aber nicht erkennen. Bevor Cain ihn zurück in den allgemeinen Hausflur schieben konnte, grinste Jace mit breiter Miene.
      "Nichts zu danken!", rief er offensichtlich bester Laune zurück. Jace wusste vielleicht nicht über alle Details und sämtliche Geheimnisse Bescheid, die sich um das mysteriöse Mädchen in Cains Apartment ranken, aber ein wenig Freundlichkeit und Manieren hatten noch niemandem geschadet. Nach einer knappen aber freundschaftlichen Verabschiedung war der Hacker wieder verschwunden. Immerhin wartete eine nicht gerade einfache Aufgabe auf ihn.
      Der überraschte Ausruf aus dem Inneren der Wohnung ließ beide Männer den Kopf herumdrehen. Jace zog verwirrt die Augenbrauen zusammen und Cain fuhr sich mit einem tiefen Seufzen über das Gesicht.
      "Okay...", sagte Jace. "Ich bin normalerweise nicht der Typ, der viele Fragen stellt, aber...."
      "Kein Grund jetzt damit anzufangen.", seufzte Cain. "Du meldest dich sobald du etwas herausgefunden hast?"
      "Jaja, ich bin schon weg. Verstanden, die Turteltauben wollen allein sein." Damit drehte sich Jace auf dem Absatz um, reckte aber noch einmal abschließend das Kinn über die Schulter. "Tut nichts, was ich nicht auch tun würde.."
      Cain knallte ihm förmlich die Tür vor der Nase zu, nachdem er sich zu allen Seiten im Flur umgesehen hatte. Es konnte unmöglich jemand Jace gefolgt sein, aber seiner inneren Paranoia folgendes versicherte er sich, dass wirklich niemand Unerwünschtes da war.
      Voll bepackt betrat er die Küche und stellte alles auf der Arbeitsplatte ab, ehe er ins Wohnzimmer zu Sylea ging.
      "Alles in Ordnung?", fragte er besorgt und ging auf die junge Frau zu. "Ich konnte Anifuris für einen Augenblick im Flur spüren?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Alles wunderbar. Er wollte nur mal kurz Jace befühlen, würde ich schätzen."
      Sylea runzelte die Stirn. Wäre der alten Seele etwas bei Jace aufgefallen, würde sie es wissen. Die Stille zwischen ihren Geistern bedeutete ihr aber, dass augenscheinlich nichts Besonderes den Hacker umgab. Ein Segen, wenn es nach ihr ging.
      "Er will die Schriften weil ihm ein Stück Zeitspanne fehlt. Deshalb ist er älter als die Schriften, also über 800 Jahre alt. Weiß man eigentlich, wie alt die Memoiren wirklich sind? Wenn nicht... dann hat er mir das gerade verraten. Er kannte Estryreh."
      Es wunderte das Vessel, dass die Seele sie unbehelligt sprechen ließ. Vermutlich lag es daran, dass er nicht auf ewig alle Geheimnisse für sich behalten konnte oder vielleicht wollte. Sollte Sylea irgendwann etwas ausplaudern, das nicht für Cains Ohren bestimmt war, dann würde Anifuris vermutlich kurzen Prozess mit dem Seeker machen.
      Nun aber schob sich die junge Frau an Cain vorbei, um die Tüten in der Küche zu inspizieren. Sichtlich neugierig packte sie die Tüten aus und nahm jedes Produkt, das ihr in die Hände fiel, sorgfältig unter die Lupe. Es war lange her, dass sie verpackte Ware in Händen gehalten hatte.
      "Mit anderen Worten war sein Bewusstsein nicht ununterbrochen auf der Erde. Warum oder wo er war, weiß ich nicht. Aber er will herausfinden, wer den Bannkreis in der Kathedrale gezogen hatte. Der erste Kreis, der ihn zu halten vermochte. Er glaubt, dass derjenige ihn vielleicht aus meinem Körper lösen kann."
      Wieder stockte Sylea. Auch das war gefährliches Halbwissen, das sie zuvor definitiv nicht besessen hatte. Der schockierte Blick, den sie dem jungen Mann zuwarf, verdeutlichte dies nur.
      "Ich bekomme langsam Zugriff auf seine Erinnerungen. Seine Gedanken.", sprach sie bedächtig aus und lauschte immer wieder in sich, um die kleinste Reaktion von Anifuris nicht zu verpassen. "Die Blutsiegel, die er dir gezeigt hat, binden sein Bewusstsein an meinen Körper. Er kann ihn freiwillig nicht verlassen, selbst wenn er es wollte. Also sucht er nach einer anderen Möglichkeit, um sich von mir zu trennen und seine Freiheit wiederzubekommen. Es waren nicht nur die Siegel, die es ihm schwer machen. Es ist meine Aurasignatur, die es verstärkt und ihn daran hindert, zu gehen."

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Bis Anifuris die Memoiren erwähnte, war mir nicht bewusst, dass es ein Schriftstück dieser Art überhaupt gibt.", antwortete Cain nachdenklich auf die Frage. "Es wird durchaus seine Gründe haben, warum diese Schriften unter Verschluss gehalten werden. Ich frage mich welche Verbindung Anifuris zu Estryreh hatte. Allerdings müssen wir sowieso noch ein paar Tage warten. Jace meldet sich, sobald er brauchbare Informationen für uns hat. Bis dahin sind wir auf uns gestellt."
      Der Seeker blickte Sylea mit einem nachdenklichen Ausdruck nach und setzte sich schlussendlich in Bewegung, um ihr zu folgen. Das begeisterte Rascheln von Plastiktüten erfüllte den kleinen, aber modern eingerichteten Kochbereich. Wie das Bad, war auch ihr alles in dezenten Grau- und Weißtönen gehalten. Das ganze Apartment wirkte im Augenblick noch recht unpersönlich. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass Cain tatsächlich seit Jahren nicht mehr in diesen Räumlichkeiten gewesen war.
      Ein schelmisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, als er hinter Sylea trat und einen Arm um ihren zierlichen Körper wand, nur um nach einem frischen, grünen Apfel zu greifen. Dennoch lauschte er jedem Wort mit der nötigen Aufmerksamkeit. Was Sylea berichtete, klang für ihn besorgniserregend.
      Den Apfel samt dazugehörigem Arm zog er vorsichtig zurück und trat die wenigen Schritte rückwärts, bis er sich entspannt an die Küchenzeile lehnen konnte. Geräuschvoll bis er in das ergatterte Obst. Als Sylea in ihren Worten stockte, schluckte er gerade das Stückchen der Frucht herunter. Cain war kein Experte für einen speziellen Fall wie den der jungen Rubra, aber er hatte bereits befürchtet, dass Sylea und Anifuris mit jedem Tag ein wenig mehr zusammenwuchsen.
      "Das heißt also, Anifuris erhofft sich durch die Memoiren einen Weg zu finden, sein Gefängnis zu verlassen und macht mich dabei zu seinem Komplizen. Wunderbar.", grummelte Cain und der Gedanke, eine alte Seele wie diese auf die Menschheit loszulassen, behagte ihm nicht. Allerdings gab es eine Sache daran, die alles andere überschattete.
      "Wenn Anifuris es schafft sich von dir zu lösen...", murmelte er und ließ die Hand sinken, die noch immer den Apfel umklammerte. Das Frühstück war beinahe schon vergessen. "...und es war ist, dass er dich am Leben erhält." Den Satz brachte er nicht komplett zu Ende, aber das war auch nicht notwendig. Seufzend vertilgte er den Apfel mit wenigen großen Bissen und beförderte die Überbleibsel in den Biomüll unter der Spüle. Ein mattes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Dieses Damoklesschwert würde noch eine quälende Zeit lang verhängnisvoll über ihnen Schweben.
      "Also? Was willst du Frühstücken? Gib mir schonmal die Schachtel mit den Eiern, dann setz ich heißes Wasser auf."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Welche Verbindung er zu ihr hat, weiß ich nicht. Noch nicht."
      Sylea suchte nach der Pappschachtel mit den Eiern, fand sie und reichte sie dem Seeker. Anschließend sortierte sie den Inhalt der Tüte nach gekühlten Produkten und begann damit, sie im Kühlschrank zu verstauen, der noch gähnend leer war.
      "Ich wusste, dass man den Siegeln der Rubra nicht leicht entkommen kann und wir deshalb prädestiniert für das dauerhafte Versiegeln von Seelen sind. Genauso klar war mir, dass es Einheiten gibt, die diese Siegel brechen können. Deswegen sterben ja immer wieder Menschen meines Clanes bei dem Versuch. Aber ich wusste nicht, dass Anifuris nur wegen der Signatur das Siegel nicht brechen kann. Wäre es eine andere, könnte er es. Er hat es mir bisher noch nicht bestätigt, aber... woher zum Teufel weiß er so viel über meinen Clan? Ich glaube nicht, dass er einfach nur bewandert ist."
      Als Antwort gab die alte Seele ein abfälliges Schnaufen von sich. Offensichtlich unzufrieden mit der Lage, dass das blutjunge Mädchen immer mehr gegen seinen Willen erfuhr, schien er seine gedanklichen Mauern ein wenig höher zu ziehen als üblich.
      "Er ist mindestens 800 Jahre alt", sprach das Vessel ihre Gedanken weiterhin laut aus während sie den Kühlschrank schloss und einen Joghurt in der Hand hielt, auf dessen Verpackung eine Maracuja abgebildet war. Eine Frucht, die sie nicht kannte. "Spekulieren wir mal weiter. Was, wenn Anifuris den Begründer des Rubraclans kennt? Und daher so viel von den Runen weiß? Irgendwoher muss er das Wissen ja haben, um quasi aus dem Nichts alle Runen zu schreiben. Aus meinen Erinnerungen kann er sie auf jeden Fall nicht haben."
      Neugierig zog sie den Deckel des Joghurts ab und roch einmal daran. Dann suchte sie sich einen Löffel, den sie in der Schublade fand auf die Cain beiläufig deutete, und schob sich einen Löffel voll Joghurt in den Mund. Ihre geweiteten Augen sprachen Bände.
      "Wow, ist das süß... Ehm, irgendwas mit Kohlenhydraten wäre gut. Ich muss meine Anemie noch ein bisschen ausgleichen."

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Sorgsam nahm Cain den Eierkarton mit dem zerbrechlichen Inhalt entgegen. Eine Sauerei auf dem Küchenboden wollte nun wirklich niemand. Zustimmend nickte der Seeker zu den Überlegungen und füllte einen kleinen Topf mit Wasser aus dem Hahn.
      Während das Wasser friedlich vor sich hin plätscherte, warf er einen Blick zu Sylea.
      "Die Fähigkeiten des Rubra-Clans gibt es in keinem einzigen der anderen Familien. Kein Clan sonst ist dazu in der Lage.", überlegte Cain. Natürlich wusste Sylea das bereits und lerne durch die wachsende Symbiose mit Anifuris täglich mehr über ihre Gaben und Talente. Oder den Fluch. Das kam ganz auf den jeweiligen Blickwinkel an.
      "Eine Theorie wäre natürlich, wenn Anifuris den Begründer eures Clans kannte. Wobei sich mir die Frage stellt, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen, dass über dieses Wissen verfügt. Was wäre mit der Möglichkeit, dass Anifuris ein Mitglied des Rubra-Clans war? Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass sich Familienmitglieder von ihren Verwandten und Freunden abwenden. Vielleicht haben sie seine Methoden und Forschungen nicht toleriert. Er hat uns bereits verraten, dass er für seine Arbeit nicht geschätzt wurde."
      Mit dem ausreichend gefüllten Topf trat Cain an die bereits heiße Herdplatte und stellte das Utensil darauf ab. Äußerlich völlig gelassen öffnete er den Eierkarton und wartete mit trommelnden Fingern darauf, dass das Wasser zu kochen begann.
      "Mein Wissen über den Rubra-Clan beläuft sich nur auf das, was ich in unseren Archiven finden konnte. Und wie wir bereits fest gestellt haben, wird den Angestellten des Rates ein Reichtum an Wissen vorenthalten. Vor allem den Gruppierungen, die lediglich zu funktionieren haben."
      Das Wasser begann zu kochen und Cain ließ das empfindliche Gut in den Topf sinken. Fragend drehte er sich um, als sich ihre Stimme etwas anhob. Mit Unverständnis sah er sie an, bis er den Joghurt mit der exotischen Frucht darauf erblickte. Cain verzog das Gesicht.
      "Oh, die kannst du gerne alle haben. Ich. Hasse. Maracuja.", sagte er leicht angewidert und wie aufs Stichwort schüttelte sich hochgewachsene Mann auf beinahe komödiantische Art und Weise.
      Aus einer letzten Tragetasche zog er eine Papiertüte mit normalen Brötchen aber auch süßeren Varianten hervor. Ganz oben erkannte der Seeker ein Brötchen in dem Schokotröpfchen eingebacken waren. Er steckte sich die Backware halb in den Mund und reichte Sylea auffordernd die Tüte. Erst als er sich wieder dem Herd zuwandte bis er von dem Brötchen ab und brummte zufrieden.
      Auch Cain schien langsam zu begreifen, wie viel Hunger er eigentlich hatte. Er grinste schief in Begleitung eines dezenten schlechten Gewissens.
      "Ich hätte dir wohl zuerst Frühstück machen sollen, aber ich war ein wenig abgelenkt..." murmelte er.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Ein wenig abgelenkt? Ein bisschen sehr abgelenkt würde ich eher sagen", grinste Sylea, die sich daran machte die Brötchentüte nach etwas zu durchsuchen, das ihr gefiel.
      "Ich bin mir sicher, dass er in irgendeiner Beziehung zum Rubra-Clan steht. Welcher weiß ich noch nicht. Anders lässt es sich nicht erklären, dass er solch ein Wissen besitzt. Ich wusste zum Beispiel auch nicht, dass die Runen nur wirken, wenn man sie auf dem Körper eines Clanmitgliedes zieht. Ich dachte, es geht immer, egal wo man sie sieht. Aber scheinbar müssen die Runen im direkten Kontakt mit Auren stehen."
      Die junge Frau hatte ein gekörntes Brötchen erwählt, suchte ein Messer in den Schubladen sowie einen Teller. Sie schnitt das Brötchen über der Spüle auf, klappte es auf dem Teller auf und schaute im Kühlschrank nach Belag. Zurück kam sie mit einer Frischkäsevariante und musste zunächst mit der Verpackung kämpfen, um an den Inhalt zu kommen.
      "Ich werde versuchen, ein bisschen mehr aus dem alten Sack herauszubekommen während wir auf die Memoiren warten. Was die Zwischenzeit betrifft..." Sie ließ die letzten Worte auslaufen als sie endlich die Verpackung geöffnet bekommen hatte und zufrieden ihr Brötchen bestrich. Als sie fertig war, griff sie wieder nach dem Joghurt und löffelte sich in schneller Abfolge durch den Plastikbecher.
      "Müssen wir mal überlegen, wie wir die Zeit totschlagen. Du wirst bestimmt das ein oder andere Mal noch rausgehen können. Ich hingegen... würde es erst mal nicht tun. Vielleicht sollten wir uns Pläne machen, damit wir nicht vergessen hin und wieder was zu essen."
      Dann steckte sich das Vessel den letzten Löffel in den Mund und sah hinüber zum Wohnzimmer, wo sie ein bisschen vom Panoramafenster erblicken konnte. Sie kannte keine Großstädte, war behütet im Clan aufgezogen worden. Man hatte keinen Sinn darin gesehen, dem kleinen Mädchen die Welt zu zeigen wenn sie eh nur dafür da war, eine Seele auf Lebzeiten zu bannen. Viel hätte Sylea dafür gegeben, einfach durch die Straßen ziehen zu können und die Eindrücke auf sich wirken zu lassen.
      "Darf ich dich mal was ganz anderes fragen? So total aus dem Kontext?", fragte sie urplötzlich in einem sehr nachdenklichen Tonfall. Noch immer sah sie zu dem Fenster mit neutraler Mimik hinüber.
      "Wie würdest du das beschreiben, was wir sind? Ich hab's von dir nie aus deinem Mund gehört, aber würdest du das als Liebe bezeichnen? Oder einfach nur jugendlicher Leichtsinn? Dass du meiner Aura verfallen bist?"

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Über die Möglichkeiten sich in den nächsten Tagen die Zeit am besten zu vertreiben, hatte Cain bereits nachgedacht.
      Der Gedanke war zwar äußerst verlockend, aber sie konnte nicht 24 Stunden ausschließlich im Bett verbringen. Der Stadt einen Besuch abzustatten, war erst einmal von der Liste gestrichen. Cain konnte aber einen kleinen Teil der Stadt zu ihr in das Apartment bringen. Vielleicht würde er am Nachmittag einen kleinen Abstecher in die belebten Straßen machen, dann konnte er noch ein paar Kleinigkeiten besorgen. Jace war zwar gut in seinem Job. Aber Gedanken lesen, konnte der Hacker auch nicht.
      Mit einem Lachen warf er einen Blick auf die digitale Zeitanzeige des Küchenradios, das unter einem der Oberschränke montiert war. Zwei Minuten noch, dann konnten die Eier aus ihrem Sprudelbad erlöst werden.
      "Uns fällt schon etwas ein, womit wir die Zeit herum bekommen. Ein oder zwei Ideen hätte ich da eventuell schon," grinste er und reckte das Kinn über die Schulter um ihr zu zuzwinkern.
      Als eine weitere Minute verstrichen war, nahm er den Topf vom Herd und goss das heiße, dampfende Wasser ins Waschbecken. Die Eier kühlte er kurz unter einem Strahlen von kaltem Wasser ab, ehe er diese in eine kleine Schüssel legte und auf den kleinen Tisch stellte, der gerade für zwei Personen ausreichend Platz bot.
      Die Frage der jungen Rubra traf den Seeker völlig unvorbereitet. Beinahe wäre ihm der Teller aus der Hand geglitten, den er ebenfalls auf dem Tisch platzierte. Zwischen einer nervenaufreibenden Flucht, den angespannten Gesprächen mit Anifuris und der emotionalen Achterbahn war es schwer gewesen, sich eine Sekunde Zeit zu nehmen und einen klaren Gedanken zu fassen.
      Der Seeker setzte sich auf den freien Stuhl am Frühstückstisch, nachdem er alles, was sie brauchten bereits gestellt hatte und blickte einen kurzen Moment auf seinen noch leeren Teller.
      Als er endlich den Blick hob, leuchtete das das Gold in seinen Augen mit einer intensiven Wärme. Selbst der Schimmer seiner Aura nahm für den Bruchteil einer Sekunde etwas zu. Trotzdem war die Miene auf seinem Gesicht ernst.
      "Sylea...", setzte er an und schien die Worte in seinem Kopf noch einmal abzuwägen. "Unsere Auren reagieren aufeinander. Heftig. Das ist eine Tatsache. Aber glaube mir, wenn ich dir sagen, dass deine Aura meine Empfindungen und Sinne nicht manipuliert. Ich glaube diese Verbindung bringt nur schneller und heftiger zu Tage, was von Anfang an da war."
      Cain seufzte schwer, ehe er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Ein zurückhaltendes Lächeln ruhte auf seinen Lippen.
      "Ich bin nicht gut in Gefühlsdingen.", versuchte er sich zu erklären. Sylea wusste, dass er sich in der Vergangenheit davon stark distanziert hatte.
      "Ich weiß nicht, was wir sind Sylea. Brauchen wir überhaupt ein Label oder eine Schublade in die wir uns einsortieren können? Das hier..." Cain machte eine andeutete Bewegung zwischen sich und Sylea, ehe er ihre Hand ergriff und einen Kuss auf ihre Knöchel hauchte "...ist für mich auch neu. Und wenn ich sage, dass ich mich in die verliebe, ist das die Wahrheit."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Diese Ruhe am Morgen am Frühstückstisch mit jemanden zu teilen war eine Vorstellung, die sich die junge Rubra lange Zeit nicht gegönnt hatte. Es jetzt greifbar in ihren Händen zu halten erschien Sylea einfach nur unwirklich. Wie eine manische Fantasie, zu der ihr Hirn sie gerade nötigte. Doch ihre Hand in Cains viel größerer war der Beweis, dass sie sich das hier nicht einbilden konnte.
      "Es gibt dafür wohl kein Label", stimmte sie ihm zu als sie ihre Hand zurückbekam und ein Ei aus der Schale zu ihrem Teller bugsierte. Es klackte während sie das Ei aufschlug und mit flinken Bewegungen die Schale löste, um sich nicht die Finger zu verbrennen.
      Deutlich erinnerte sich das Vessel an verschiedenste Worte, die sie allesamt zur Vorsicht trieben. Am lautesten war dabei natürlich Anifuris, der ihr bereits angedroht hatte, diejenigen zu verletzen, die ihr etwas bedeuteten. Nun, da sie sich für den jungen Mann ihr gegenüber geöffnet hatte, war sie um einen Schwachpunkt reicher geworden.

      Ein paar Stunden später hatte sich Sylea mit einem weiteren Joghurt auf die Dachterasse zurückgezogen. Einen Stuhl hatte sie sich mit nach draußen geholt, auf dem sie nun saß und über die Brüstung ihren Blick schweifen ließ. Der Wind hier oben plusterte ihr Haar in alle Richtungen, aber es störte sie nicht während ein Löffel nach dem anderen in ihrem Mund verschwand. Sie hatte noch immer die gleichen Klamotten an und fröstelte ein wenig als der Wind durch den dünnen Stoff drang. Cain hatte gesagt, dass er gleich in die Stadt gehen würde. Seitdem saß sie unter dem freien Himmel und ließ die Gedanken schweifen.
      Es war, wie der Seeker angedeutet hatte. Fand Anifuris einen Weg sich von ihrem Körper zu trennen, dann würde sie zweifelslos sterben bei dem Prozess. Ob die Memoiren dabei halfen würden sie erst sehen, wenn er sie in Händen hielt. Doch Sylea spürte, dass mehr hinter dieser Absicht steckte als die alte Seele offenkundig zugeben wollte. Er suchte nicht nur nach einem Weg sich zu befreien. Er suchte noch nach etwas anderem, dass sich ihr nicht gänzlich erschloss.
      Kannst du mir eigentlich noch ein paar Runen beibringen? Damit ich bei der nächsten Konfrontation nicht unbedingt unseren Körper aufs Spiel setze?
      Sicher.
      Meinst du, wir gehen unter in dieser Masse an Menschen? Einfach zu lokalisieren sollten wir ja nicht sein.
      Möglich.
      Sylea runzelte die Stirn. So kurzum war die alte Seele noch nie gewesen. War er... nachdenklich? Die junge Rubra verlagerte ihr Gewicht während Anifuris begann, ihr die ein oder andere Rune zu erklären und in ihrem Geist zu zeigen, wie sie aussah und geschrieben werden musste.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Die Sekunden zogen sich quälend in die Länge, während er über ihren Handrücken zu Sylea über den Frühstückstisch sah. Die schlichten Worte waren sicherlich keine überschwängliche Liebeserklärung, aber Cain konnte die Zurückhaltung nachvollziehen. In den letzten Stunden war so viel passiert, dass es einem normalen Menschen das Hirn frittiert hätte. Der Seeker nahm die friedliche Stille als etwas Positives auf und ließ das Thema zunächst auf sich beruhen. Das Gefühl beschlich ihn, dass beide Parteien einen Augenblick zum durchatmen dringend benötigten.
      Nachdem Frühstück scheuchte Cain die junge Rubra mit sanfter Bestimmtheit aus der Küche und summte leise zum laufenden Radio, während er das Chaos auf dem Frühstückstisch beseitigte. Die Alltäglichkeit brachte eine beruhigende Stimmung mit sich. Es war spielend einfach sich kurz der Illusion hinzugeben, dass sie ein ganz normales Paar am Morgen in der gemeinsamen Wohnung waren. Cain legte sich das Geschirrhandtuch über die Schulter und wusch das wenige Geschirr in der Spüle ab. Alle paar Sekunden lauschte er angestrengt in die Wohnung und lauschte wie Sylea durch die Räume wanderte und sich wohl Zeit nahm, sich alles genauer anzusehen.
      Cain würde sie für ein paar Stunden allein lassen müssen, auch wenn ihm der Gedanke nicht behagte. Da Jace nicht ewig die Rolle des Laufburschen übernehmen würde, brauchten sie endlich etwas Bargeld. Der Hacker hatte bereits in einem dezenten Schließfach einen Umschlag hinterlegt. Noch hatten sie keine Möglichkeit auf Konten zuzugreifen.
      Seufzend schaltete er das Radio ab und schlenderte herüber ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Bisher waren sie in der Großstadt unbeschriebene Blätter, aber nichts konnte ihn dazu bringen in Jogginghose das Apartment zu verlassen.

      Am späten Nachmittag erst, länger als erwartet, kehrte der Seeker in die Wohnung zurück. In der Jeans mit den ausgefransten Löchern an den Knien und dem schlichten, aber gewohnt schwarzen Shirt wirkte Cain unbeschreiblich gewöhnlich. Nur die goldenen Augen stachen aus der Menschenmenge hervor, weswegen er trotz leicht bewölkten Himmels eine Sonnenbrille auf der Nase trug. Die ungewohnt lässigen Sneaker streifte er an der Tür ab und betrat das Wohnzimmer. Während sein Blick einen Moment benötigte, um Sylea auf der Dachterrasse ausfindig zu machen, hatte seine schimmernde Aura sich längst verselbstständigt. Zielstrebig suchte das Gold nach einem Gegenpart und die pulsierenden Wellen ließen sich erst durch die fast zärtliche anmutende Berührung des Silbers besänftigen. Cain entließ den angehaltenen Atem aus seinen Lungen.
      Ein unscheinbarer, brauner Umschlag landete auf dem Wohnzimmertisch. Darin verbarg sich nicht nur eine stolze Summe Bares, sondern auch die ersten Informationen zu den sehnsüchtig gewünschten Memoiren. Cain hatte einen vorsichtig Blick durch einen winzigen Spalt in den Umschlag geworfen und eindeutig Baupläne und Gebäudeumrisse entdeckt. Damit allein ließ sich allerdings nicht viel bewerkstelligen. Geduld war gefragt.
      Leise schob er die Tür auf und trat zu Sylea auf die Dachterrasse. Mit den Ellbogen stützte er sich auf dem Geländer ab und blickte in die Tiefe. Der Wind hier oben war kühl und er warf einen Blick über die Schulter zu Sylea, wobei er über den Rand der Sonnenbrille schaute.
      "Ist dir nicht kalt?", fragte er mit einem schmalen Lächeln.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Das nächste Frösteln, das über Syleas Körper hinwegstrich, war nicht der Kälte geschuldet. Was sich anfänglich kalt anfühlte, brandete im nächsten Augenblick zu einer Wärme auf, die sie unmissverständlich zuordnen konnte. Augenblicklich warf sie einen Blick über die Schulter zurück zur Tür, die sich auch schon öffnete und Cain freigab. Unweigerlich schmunzelte Sylea bei dem Anblick, den ein casual-Cain bei ihr erweckte. Diese Hose... sah allein schon einfach seltsam an ihm aus.
      "Kalt? Ja, schon", antwortete das Vessel und folgte dem Blick des jungen Mannes über die restliche Stadt hinaus in weite Ferne, "aber es beruhigt mich irgendwie. Das war genauso wie in der Baumhöhle, wo du mich gefunden hattest. Klein, dunkel, kalt. Das bedeutete lange Zeit Sicherheit für mich. Die Kälte erinnert mich an den Großteil meines Lebens zurück - also mag ich die ein oder andere Gänsehaut."
      Ein dezentes Lächeln umspielte ihre Lippen wie der Wind es mit ihren Haaren tat. Immer wieder schielte sie zu dem Seeker hinüber, der sich lässig auf das Geländer gestützt hatte. Zögerlich streckte sich Syleas Silberstreif zum Gold aus, das sich so nah an ihr befand, ohne sie jedoch zu berühren. Als ihre Auren sich trafen und das Silber sanft über die Außenschicht von Cains Aura strich, wuchs das Lächeln im Gesicht der jungen Frau zeitgleich an. Die Kälte schien aus ihren Gliedern zu weichen während sich die Wellen ihrer Auren aneinander anglichen.
      "Wie ist die Stadt? Was hast du neben Bargeld besorgt? Ich nehme zumindest an, dass du Geld geholt hast."
      Langsam wurde der jungen Rubra bewusst, dass sie nicht ständig mit ihren Gedanken an ihrer Lage hängen wollte. Nicht jede kleinste Sekunde damit verbringen wollte, zu überlegen, wer und was Anifuris nun war oder wollte. Die Zeit im Bett mit Cain, in der Dusche... all diese Momente waren kostbarer Balsam für ihren geschundenen Geist, der sich träge von der Tatsache erholte, dass sie praktisch nur auf Willkür eines Anderen noch am leben war.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Wie die Stadt ist?", wiederholte Cain die Frage mit einem Schmunzeln, ehe er den Kopf in den Nacken leckte und hinauf in den bewölkten Himmel sah. "Überfüllt. Laut. Und Chaotisch. Und obwohl ich seit Jahren nicht mehr hier war, fühle ich mich schon wieder ganz wie zu Hause. So viele Möglichkeiten werden geboten, die es in Hollow Point nicht gab. Trotz der vielen Menschen und der Eindrücke, die ich hier filtern muss, fühle ich mich so frei wie nie."
      Der Seeker senkte den Blick zu Sylea und trug dabei ein breites Lächeln auf den Lippen. Der Fußweg durch die belebten Straßen schien ihm gut getan zu haben. Obgleich der schwierigen Situation verströmte Cain ein Gefühl von Zufriedenheit und Freiheit. Das Sylea immer weider so sachlich von ihrer Zeit in dem Bannkreis sprach, würde für ihn immer befremdlich bleiben. Natürlich hatte sie nicht viel davon mitbekommen, dank Anifuris, dennoch...Er seufzte leise, wollte aber die Schwere nicht den Augenblick übernehmen lassen.
      Cain stieß sich in einer gemeidigen Bewegung von dem Geländer ab und ging zu der jungen Rubra herüber, um ihre kühlen Hände in seine zu nehmen. Er führte die Fingerspitzen an seine Lippen und bließ warmen Atem gegen die kalte Haut.
      "Ich verstehe," murmelte er und küsste ihre Fingerspitzen. "Vielleicht nicht vollständig, aber genug."
      Danach gab er ihre Hände wieder frei und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und genoss den Wind, wenn auch etwas eisig, der seine Haare auf liebenswerte Weise zerauste.
      "Richtig angenommen. Jace hat uns mit etwas Bargeld versorgt, bis wir unsere neuen Konten nutzen können. Eine Weile werden wir damit über die Runden kommen." Cain hatte nicht an den möglichen Zeitraum ihrer kleinen Mission gedacht. Die Notwendigkeit früher oder später tatsächlich über Jobs und dergleichen nachdenken zu müssen, hatte er erfolgreich in den Hintergrund verdrängt. Aber aktuell musste sich darum niemand sorgen machen. "Und er hat uns bereits die Baupläne für die Bibliothek besorgt. Viel können wir damit allein aber noch nicht anfangen. Uns fehlen die Standortpläne für Alarmanlagen und Kameras. Ich hoffe Jace kann uns einen Berechtigungsauweis fälschen kann. Damit könnten wir uns am einfachsten rein oder wieder raus, um die Lage vor Ort im Vorfeld zu begutachten. - Warte kurz..."
      Etwas plötzlich drehte sich Cain um und verschwand wieder ins Wohnzimmer. Mit einer Decke und einer unauffälligen Stofftasche bewaffnet, kam er zurück und zog einen weiteren Stuhl neben Sylea. Die Wolldecke legte er vorsichtshalber über die Lehne, falls es einem von ihnen doch noch zu kalt wurde. Auf einem kleinen Bestelltisch legte er ein Messer und zwei Löffel ab.
      "Als du heute Morgen den Joghurt zu begeistert verdrückt hast, habe ich noch ein bisschen eingekauft." Aus der Tasche zog er eine Maracuja hervor, die er gleich in zwei Hälften schnitt und ihr einen Teil samt Löffel reichte. "Das Fruchtfleisch wird gelöffelt. Die Kerne kannst du mitessen." Er hatte noch anderes zur Auswahl. Sylea hatte so viele Dinge noch nie probiert, dass er ihr am liebsten den ganzen Obstand mit gebracht hätte.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Fragend sah Sylea Cain nach, als dieser gefühlt inmitten seiner Berichterstattung plötzlich von Dannen zog. Als er mit einer Decke unter dem Arm und einer Tasche zurückkam, kehrte das Lächeln in ihr Gesicht zurück. Diese unglaubliche Fürsorge seinerseits war einfach unbeschreiblich und für sie schwer zu verstehen. Allerdings verstand sie sehr wohl den Sinn hinter der Frucht, die der junge Mann aus den Untiefen der Tasche zog und sogleich halbierte, um ihr eine Hälfte samt Löffel zu reichen.
      "Hm... Dann war das Bild auf der Verpackung ja richtig", sagte sie und musterte die Frucht bevor sie den Löffel in das Fruchtfleisch stieß. "Du wirst allein in die Bibliothek einsteigen müssen, oder? Wenn dir Jace wirklich Ausweise besorgen kann, wäre das ja die entspannteste Möglichkeit. Andernfalls wüsste ich nicht, wie sonst unauffällig da rein kommen solltest."
      Als der erste Löffel mit Frucht in ihrem Mund verschwand verzog das Vessel praktisch umgehend das Gesicht. Obst war etwas, das sie in der Kathedrale nie bekommen hatte. Ausgenommen kleinere Beeren, die aber bei Weitem nicht an das Geschmackserlebnis reichten, die eine exotische Zitrusfrucht mit sich brachte. Es hielt sie nicht davon ab, weiter in der Frucht zu bohren.
      "Woher genau kennt ihr beiden euch eigentlich? Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist man während der Seekerausbildung relativ abgekapselt oder nicht? Und was das Blind Eye mit euch anstellt weiß ich ja zu Genüge."
      Inzwischen hatte die junge Rubra die Beine auf den Stuhlrand gezogen und stark angewinkelt. Sie sah ein bisschen wie ein Äffchen aus, das sich klein machte, damit niemand seine Beute von ihm stibitzte. Hier und da schielte sie zu der ominösen Tasche, aus der Cain die Maracuja gezogen hatte. Sie würde ihr hübsches Köpfchen dafür verwetten, dass dort noch weitere kleine Schätze nur darauf wartete entdeckt zu werden.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Falsche Sicherheitsausweise mit den entsprechenden Zugangsberechtigungen wären wirklich von Vorteil. Zumindest könnte ich mir so vorab ein Bild von der Lage vor Ort machen. Einfacher wird es dadurch nicht das Buch aus dem Sicherheitsbereich zu schaffen. Ich gehe stark davon aus, dass solche seltenen und alten Schriftstücke entsprechend verwahrt werden. Und Archiveinbruch stand leider in meiner Ausbildung nicht auf dem Lehrplan."
      Mit einer gewissen Faszination betrachtete Cain die junge Frau dabei, wie sie mit verzückter Miene die exotische Frucht löffelte. Die Tatsache, dass Sylea sich über etwas Gewöhnliches wie eine Maracuja begeisterte, löste eine Welle von Zuneidung aus. Die goldschimmernde Aura pulsierte friedlich und gleichmäßig, während er seinen Gedanken freien Lauf ließ. Es gab so viele Dinge für Sylea zu entdecken und er fühlte den sehnlichen Wunsch, ihr all das zu ermöglichen. Für das Lachen, das sein Herz leichter werden ließ und für das freudige Leuchten in ihren Augen. Grinsend senkte er den Blick auf die zweite Hälfte der Maracuja, die er ihr wortlos hinhielt, als sie die Reste aus ihrer Hälfte kratzte. Wie er bereits erwähnt hatte, er war kein großer Fan der Zitrusfrucht. Die hier war allein für Sylea.
      "Langsam sonst wird dir schlecht...", mahnte er halbherzig, wobei ein raues Lachen ertönte.
      Cain lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück und schien einen Augenblick über ihre vorherige Frage nachzudenken.
      "Eigentlich hat alles damit begonnen, als ich angefangen habe Nachforschungen über den Verbleib meiner Schwester anzustellen. Wie du dir denken kannst, habe ich mich anfangs mit Halbwahrheiten nicht abspeisen lassen. Ich war sozusagen ein Frischling, der den Ernst der Lage noch nicht recht begriffen hatte. Leider hatte ich nur wenig Erfolg."
      Der Seeker schloss die Augen während er tief in seinen Erinnerungen grub. Schließlich seufzte er.
      "Wir waren keine Freunde, falls du das denkst. Jace ist eines Tages unter einem Vorwand auf mich zugekommen, als ich schon fast aufgegeben hatte, und hat mir seine Hilfe angeboten. Erst dachte ich es sei eine Falle, ein perfider Trick um micht zu testen. Wir trafen eine Abmachung. Jace würde mir helfen Cordelia zu finden und im Gegenzug würde ich ihm so lange meine Fähigkeiten zur Verfügung stellen, bis er sichergehen konnte, dass der Rat ihn nicht mehr ausfindig machen konnte. Die Sinne eines Seekers sind ein hervorragendes Frühwarnsystem. Mit der Zeit wurde aus dieser Zweckgemeinschaft eine Freundschaft."
      Beiläufig beugte er sich vor und ließ erneut seine Hand in der Tasche verschwinden, nur um eine kleine Pappschale mit roten Erdbeeren hervor zuziehen. Davon steckte er sich umgehend eine in den Mund, ehe er weitersprach.
      "Offiziell existiert Jace nicht mehr. Er hat seine komplette Identität ausradiert und agiert kaum in der Öffentlichkeit. Dieser kleine Botengang heute Morgen war ein Risiko. Er sammelt seit Jahren interne Informationen zum Rat und seiner Hierachie. Skandale, Menschenrechtsverletzungen, Folter...", zählte er mit einem sachlichen Ton auf, stockte aber kurz. "Missbräuchlicher Einsatz von Drogen und anderen Substanzen. Die fatale Wirkung des Blind Eye habe ich erst kennen gelernt, nachdem die Hunter mich wieder eingefangen hatten.EIne wirksame Methode mich an die Leine zu legen. Jace und ich hielten losen Kontakt, auch wenn es gefährlich war. Ich war über die letzten Jahre sein Informant in Hollow Point und dem restlichen Bezirk. Wäre ich aufgeflogen, wäre ich vermutlich in irgendeinem dunklen Loch verschwunden. Wir haben beide unsere Gründe warum wir den Rat fallen sehen wollen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Pfft. Ich kann sie so schnell essen, wie ich möchte."
      Kaum hatte Cain ihr die zweite Hälfte der Maracuja gereicht, hatte sich Sylea bereits danach gestreckt und in ihre Gewalt gebracht. Emsig machte sie sich daran, die Frucht auszuhöhlen und nichts vom Fruchtfleisch in der Schale zu belassen. Zwischen jedem Löffel huschte ihr Blick zu dem jungen Mann, der sich zurückgelehnt an seinen höchst eigenen Erinnerungsschatz machte.
      "Ist doch schön, wenn aus einem Nutzen über Zeit eine Freundschaft wird. Mir wurde immer gesagt, dass etwas langsam Gewachsenes immer besser ist als etwas plötzlich Entstandenes."
      Sofort klebte die komplette Aufmerksamkeit des Vessels an der Hand des Seekers, als er sich vorbeugte und eine Pappschachtel aus den Untiefen der Tasche zog. Die Erdbeere leuchtete knallrot zwischen seinen Fingern und beinahe sehnsüchtig verfolgte sie den einseitigen Weg der Frucht bis sie zwischen seinen Lippen verschwand. Erdbeeren waren etwas, an das sie sich vage aus jüngster Kindheit erinnern konnte. Waffeln mit Sahne und Erdbeeren.
      "Auch er hat eine Beziehung zu Seelen, versteh' schon. Hat er auch ein Vessel in seiner Familie oder dergleichen? Muss ja was persönliches sein, sonst entwickelt man keine derartige Abneinung gegen eine Institution", sagte Sylea, die die ausgekratzten Obstschalen zusammenlegte und auf den Boden beiseite legte.
      Anschließend richtete sie wieder ihren Blick auf die unscheinbare Pappschachtel. Eine fade Erinnerung, als ihr Leben noch in Ordnung und ihr eigenes gewesen war. Zeiten, die sie nie wieder erfahren würde.
      "Meine Mutter hatte damals Waffeln mit Sahne und Erdbeeren gemacht, wenn wir von Riten zurückkamen." Der Wind frischte kurz auf und bescherte der jungen Frau eine weitere Gänsehaut. "Also wenn Jace so scharf auf Informationen ist, dann wäre ich ja fast eine Goldgrube. Rein theoretisch. Ich mein, der Rat arbeitet eng mit den Rubras zusammen. Wenn wir Anifuris dazuzählen besitzen wir Wissen von vor über 800 Jahren. Echtes, unverfälschtes Wissen. Vielleicht könnte man sich damit erkenntlich zeigen?"

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Kein Vessel.", verneinte Cain und schüttelte dabei leicht den Kopf. Einzelne und vom Wind zerzauste Haarsträhnen verirrten sich dabei in seine Stirn.
      "Jace und sein Zwillingsbruder haben beide für den Rat gearbeitet. Sein Bruder gehörte einer Einheit von Huntern an, die vom Rat trotz aller Warnungen und Proteste in einen höchst gefährlichen Einsatz geschickt wurden. Jeder wusste, dass es ein hoffnungsloses Selbstmordkommando war. Kein einziger der Hunter kehrte leben zurück. Ein Vessel war komplett außer Kontrolle geraten, ähnlich wie die Mutation, die mich angegriffen hat. Das Zielobjekt verlor die Kontrolle über seine Kräfte und hat sich förmlich in die Luft gesprengt."
      Cain entging nicht, dass Sylea die süßen Erdbeeren in seinen Händen mit gierigen Blicken fixierte. Wie gebannt, verfolgte sie den Weg der roten Frucht in seinen Mund. Mit einem milden Lächeln hielt der Seeker ihr die Schale hin und bedeutete ihr stumm, sich zu bedienen.
      "Solche Extremreaktionen passierten in den letzten Jahren häufiger. Es wird vermutet, dass die Seelen zu mächtig werden. Das menschliche Gehirn kommt mit der Belastung nicht klar. Und in anderen Fällen hält der Körper nicht durch. Er mutiert oder zersplittert. Die Verfolgungsjagden nehmen an Risiko zu.", beendete Cain mit grimmiger Miene seine Erzählung. "Jace hat da seine ganze eigene Theorie. Bisher konnten wir aber dafür keine Bestätigung finden. Angeblich führt der Rat Experimente durch, um sich der Fähigkeiten spezieller Entitäten zu bedienen, die diese Extremis erst hervorrufen. Somit läge das Problem nicht bei den übernehmenden Seelen, sondern in den illegalen Versuchsreihen des Rates. Stell dir den medialen Skandal vor. Oder schlimmer. Stell die vor, was der Rat mit einer Kraft wie der von Anifuris anrichten könnte. Der Machtmissbrauch wäre katastrophal."
      Über ihre letzten Worte dachte er einen kurzen Augenblick nach. Sicherlich wäre der Reiz das Wissen von Anifuris zu besitzen wahnsinnig groß und verlockend.
      "Ich bezweifle, dass Anifuris seinen Erfahrungsschatz großherzig mit uns teilen wird. Er wir immer eine Gegenleistung verlangen, so lange bis der Preis zu hoch wird. Aber grundsätzlich saugt Jace jede Inforation, die er bekommen kann, wie ein Schwamm auf."
      Cain brachte die Schale mit den Erdbeeren wieder an sich, um selbst noch ein paar stibitzen zu können.
      Tatsächlich fielen die Temperaturen mit fortschreitender Stunde immer weiter ab. Er stellte die Pappschale auf den Tisch und schnappte sich die Decke von der Stuhllehne, um schließlich Sylea darin einzuwickeln.
      "Besser?", lächelte er. "Waffeln mit Sahne? Ich kann mich nicht daran erinnern, das meine Mutter sowas je gemacht hat. Zumindest nicht für mich. Ich glaube sie hatte Angst vor mir und vor den Dingen die ich hörte und fühlte. Als die Ärzte mir nicht helfen konnten, wurde es schlimmer. Ich denke sie war davon überzeugt, dass ihr Kind verrückt war. Dann haben sie mich an den Rat abgeschoben."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Ich würde es deiner Mutter nicht übel nehmen, dass sie dich zum Rat gegebene hatte. Sie war einfach überfordert. Wenn sie dich in ein einfaches Heim abgegeben hätte, dann wäre dir noch weniger geholfen gewesen. Keine wüsste, was bei dir im Argen wäre."
      Leise summte Sylea, als Cain sie in die Decke einschlug. Zäh befreite sie einen Arm aus der Decke, um sich vom Tisch noch eine weitere Erdbeere zu angeln. Sie hatte gerade von der Beere abgebissen, da verharrte sie urplötzlich. Anifuris sprach in ihrem Kopf zu ihr und forderte für etliche Sekunden ihre volle Aufmerksamkeit. Dann war sie wieder im Hier und Jetzt und schaute Cain etwas verdutzt an.
      "Anifuris gibt Jace's Annahme recht", sagte sie überrascht über die Säuerlichkeit, mit der Anifuris ihr seine Meinung dazu mitgeteilt hatte. "Die Seelen werden nicht mächtiger, als sie es bereits waren. Sie bekommen lediglich mehr Wissen, wie die Welt jetzt funktioniert mit jedem Mal, wo man sie in einen Körper steckt. Im Prinzip bin ich das, was der Rat versucht, künstlich zu erzeugen. Ein Körper, der zwei Bewusstseine zeitgleich halten kann und die kompletten Fähigkeiten der Seele nutzen kann, ohne an ihnen zu zerbrechen und willentlich einsetzbar."
      Du weißt, wie genau das Binden von Seelen an andere Körper funktioniert, oder?
      Schweigen.
      Es hat mit der Kompatibilität der Auren zutun, richtig?
      ....Richtig.
      Syleas Mund klappte auf. Sie hatte es nur als Scherz gemeint, dass sie quasi das Ziel des Rates sein konnte. Wenn sie es schafften, ihr Ziel zu erreichen, hätten sie den perfekten Supersoldaten gezeugt. Ansätze waren durchaus schon zu sehen gewesen. Helyon, im vollen Besitz seiner Kräfte aber so unberechenbar, wie es eine alte Seele eben sein mochte. Farina, die zwei Seelen gehalten hatte und vermutlich nur nicht die volle Kraft ihrer Seele hatte nutzen können. Der Rat war schon viel zu nah dran und wenn Sylea nicht aus Hollow Point entkommen wäre, dann hätte man an ihr ein Exempel statuiert.
      Dem Vessel wurde flau im Magen. "Der Rat versucht, ein Vessel zu erzeugen, das im vollen Besitz der Kraft der Seele ist, ohne dass das menschliche Bewusstsein die Kontrolle verliert. Also genau das, was ich bin. Eine Art Supersoldat. Das schaffen sie nur, wenn sie die Aurenkompatibilität beachten, zumindest ist das alles Anifuris' Theorie. Anscheinend hat der Rat nicht das Wissen, das er über Auren hat."
      Natürlich wusste niemand, ob diese Vermutung der alten Seele richtig war. Weder hatte Anifuris Einsicht in den Rat gehabt noch wussten sie sicher, wie viel der Rat über die Jahrzehnte an Wissen hatte ansammeln können. Allerdings war es nur eine logische Konsequenz wenn sie versuchten, das volle Kraftpotenzial der Seelen auszuschöpfen obwohl das Vessel nicht ausreichte. Selbstverständlich liefen sie dann Amok.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Wahrscheinlich hast du Recht.", murmelte Cain und pickte nachdenklich in der Pappschale mit Erdbeeren herum. "Ich hätte irgendwann zwangsläufig den Verstand verloren. Ohne das richtige Training wäre ich durch die Überflutung an Reizen wahnsinnig geworden und eine Gefahr für mich, aber vor allem für andere."
      Im Augenwinkel bemerkte der Seeker die plötzliche Erstarrung von Sylea. Es dauerte lediglich den Bruchteil einer Sekunde, da hatte Cain bereits den schimmernden Umriss seiner Aura eng an seinen Körper gezogen und sämtliche mentalen Mauern hochgefahren, die er zu bieten hatte. Die Warnung der jungen Rubra gegenüber Anifuris hatte er durchaus mit dem nötigen Ernst registriert. Schließlich befanden sie sich nicht mehr in einer geschützten Zelle im Untergrund, sondern in einer pulsierenden Stadt voller Leben. Seine Kontrolle an das alte Bewusstsein zu verlieren, war ein zu hohes Risiko. Bedauerlicherweise war Cain der Einzige, der Anifuris im Weg stand, sollte Sylea ihre Vorherrschaft über ihren Körper und Geist verlieren. Cain zweifelte nicht an ihren Fähigkeiten, aber die zweite Seele in ihrem Kopf hatte bereits einmal zu viel ein Ass aus dem Ärmel gezogen.
      Cain konnte den genauen Augenblick abpassen, in dem bei Sylea der Groschen fiel und auch in seinem Bewusstsein begannen die Zahnräder in schwindelerregender Geschwindigkeit zu laufen.
      "Der Rat hätte dich benutzt, um ihre Fehlerquelle zu finden.", flüsterte er, ehe sein Blick hinauf zu ihren Augen schnellte. "In der Forschungsabteilung hätten sie dich in körperlich und geistig in Einzelteile zerlegt, um hinter das Geheimnis zu kommen. Theorie hin oder her. Das macht die Vorstellung nicht weniger erschreckend. Und gerade Anifuris Kräfte wären eine überaus gefährliche Waffe in den Händen des Rates. Die ultimative Kontrolle."
      Der Seeker sackte etwas tiefer in seinen Stuhl. Die Tragweite, falls sich ihre Vermutungen bestätigten, war enorm und barg ein riesiges Potential an Machtmissbrauch. Es ging nicht mehr nur um die Suche nach Cordelia. Oder um Jace' persönlichen Rachefeldzug. Oder darum eine Lösung für Syleas verzwickte Lage zu finden. Was sich hier in Gang setzte, war größer als sie alle zusammen.
      Seine Hand tastete nach Syleas unter der wärmenden Decke und drückte sanft ihre Finger.
      "Wir besorgen die Memoiren. Vielleicht helfen uns die Informationen weiter."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Syleas Finger lagen warm in Cains größerer Hand unter der Decke in ihrem Schoß. Wieder wanderte ihre Blick über die Stadt hinweg bis sie den jungen Mann an ihrer Seite ansah. Er hatte seine Barrikaden wieder hochgefahren, ganz wie es sich das Vessel gewünscht hatte. Ein trübes Lächeln tauchte kurz auf ihren Lippen auf, verschwand dann aber sofort wieder.
      "Wüsste der Rat um Anifuris Wissen hätten sie mich aus der Kathedrale gezerrt und sonst wo weggesperrt. Da wäre ich nie wieder rausgekommen ohne mich komplett an Anifuris zu verlieren. Wenn sie mit ihren Experimenten Erfolg gehabt hätten, wäre ich vermutlich in dem Prozess sowieso schon verschwunden. Aber ich weiß nicht..." Sie lauschte kurz in sich hinein. "Ich denke nicht, dass er freiwillig mit ihnen zusammengearbeitet hätte."
      Nein, hätte ich nicht. Immerhin sind sie selbst Schuld an ihrem Unwissen.
      "Die Memoiren sind wirklich nur für ihn. Aber er sagt mir nicht, in welchem Verhältnis er zu dieser Estryreh steht..."
      Es war das Beste, dass sich Sylea keine Gedanken darum machte, was unter diesen Umständen mit ihr hätte passieren können. Sie wusste, dass tief in Anifuris Erinnerungen so viele Bilder steckten, die sie für Lebzeiten verstören konnten. Sie kannte den Boswillen der Menschen, das Ausüben von Gewalt ohne Rücksicht auf Verluste. Seien die Gründe noch so vielfältig.
      "Helyon vermutet, wer Anifuris einmal war. Und er weiß, was er kann. Sollte der Hund auch nur ansatzweise mit dem Rat sympathisieren und ihnen das alles verraten, dann setzen sie alles daran, mich zu kriegen. Du wirst nur Kollateralschaden sein", dachte das Vessel laut weiter. "Aber dank der Aktion hegt er wohl einen persönlichen Groll gegen uns und wird dem Rat nichts sagen, denke ich."
      Das Problem löste sich dadurch aber nicht. Je mehr Einheiten von ihrer Existenz wussten, umso brenzliger würde ihr Leben sein. Und umso schwerer würde es sein, die alte Seele unter Kontrolle zu halten, damit sie den Rat nicht wegbombte.

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Vielleicht sollten wir dankbar dafür sein, dass der allwissende Rat am Ende doch nicht alles weiß.", murmelte Cain.
      Sylea hatte Recht. Die Kenntnis über das Wissen und die Kräfte des alten Bewusstsein im Körper der jungen Frau wären eine zu große Verlockung für den Rat gewesen. Billigen wäre in Kauf genommen worden, die Existenz eines eigenständigen Menschen zu opfern, um Macht und Wissen anzusammeln. Ein Preis, der Cain viel zu hoch erschien. Beschämt musste sich aber der quälenden Frage stellen, ob seine Ansichten nicht anders wären, wenn er niemals von der misslichen Lage seiner Schwester erfahren hätte. Sein persönliches Interesse hatte doch erst dazu geführt, dass er sich letztendlich dazu entschlossen hatte Sylea und auch Anifuris zu helfen.
      Sich dabei in die Frau zu verlieben, die noch Minuten zuvor neben ihm mit kindlicher Faszination eine tropische Frucht verschlungen hatte, war sicherlich nicht Teil des dürftigen und lückenhaften Plans gewesen. Der Ausweg, den sie sich gegenseitig geboten hatten, sorgte nun für die Illusion von Freiheit und die Chance auf etwas Gutes. Aber dahinter stand auch die Aussicht auf großes Leid. Cain wusste nicht, ob er es ertrug eine weitere Person, die ihm am Herzen lag, schlussendlich an den Rat und seine Machenschaften zu verlieren.
      "Nein, ich glaube auch nicht, dass Anifuris sich dem Rat untergeordnet hätte.", bestätigte er. "Lass mich raten, er hat auch nicht vor uns jemals zu verraten, wie seine Verbindung zu dieser Estryreh aussieht?"
      Einmal noch drückte er zart die Hand von Sylea, um sie schlussendlich wieder zurückzuziehen. Mit grübelnder Miene verschloss Cain die Pappschachtel mit den übrig gebliebenen Erdbeeren für einen späteren Zeitpunkt.
      "Helyon hat Blut geleckt." Mit grimmiger Miene stützte Cain seine Ellbogen auf den Knien ab während sein Blick sich in die Bodenplatten der Dachterrasse bohrten. "Ich glaube nicht, dass er dem Rat etwas mitgeteilt hat und ich gebe dir Recht, was seinen persönlichen Groll angeht. Er ein Jäger, dem seine Beute vor der Nase weggeschnappt wurde. Mich würde es nicht wundern, wenn er bereits die Fährte wieder aufgenommen hat. Das kleine Bad, dass ich ihm gegönnt habe, wird ihn nicht allzu lange aufgehalten haben."
      Von der Seite sah er Sylea fragend an.
      "Willst du noch draußen bleiben oder sollen wir langsam reingehen?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”