Vessels [Asuna & Winterhauch]

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    • „Das hat dir einen Schrecken eingejagt? Was soll ich dann sagen als diejenige, der es widerfahren ist?“
      Sylea sah Cain nicht an, sondern betrachtete ebenso wie er das Bild von Enkelin und Großvater, wie sie für zwei weitere Personen den Tisch deckten, der für sie allein eigentlich eh zu groß ausgefallen war. Vage konnte sich Sylea an ähnliche Szenarien erinnern, wie sie mit ihren Eltern in einer kleinen Küche am Tisch gesessen hatte und Essen aufgetischt wurde. Damals wurde noch viel gelacht, die Atmosphäre war unbeschwert. Nur hatte sich ein Nebel über diese Erinnerungen gelegt, dick und schwer und grau und drohte, die Sicht bald vollends zu nehmen.
      „Ich glaube, ich war in dem Augenblick stärker dissoziiert als sonst. Vermutlich hast du ihn deswegen so stark gespürt. Immerhin war er auch sehr laut in meinem Kopf. Er hat mich nicht absichtlich weggedrückt, sondern eher… beisammengehalten“, fügte sie noch etwas zögerlicher hinzu, doch nun spürte sie seinen Blick auf sich. Nur auf sich. Am Ende seiner Worte nickte sie kurz. „Habe auch nicht von dir erwartet, dass du glücklich über meinen Wunsch bist. Ich glaube sowieso nicht, dass er in Erfüllung gehen wird, aber das bisschen Hoffen reicht mir.“
      Sylea ergriff ohne weitere Umschweife die Hand des Seekers. Das schmallippige Lächeln, das sie ihm als Erwiderung schenkte, war mehr als sie sich selbst zugetraut hatte. Sie wusste, dass er es verdiente, alles zu erfahren, was auch sie in Erfahrung hatte bringen können. Die Restriktionen, die ihr von Ascan auferlegt worden waren, hatte sie größtenteils lösen können und war hinter immer mehr Detail und Informationen gestiegen, die er ihr wohl vorenthalten wollte. Trotzdem spürte sie, dass nicht alles davon auch wahrlich für Cains Ohren gemacht war. Als sie sich zusammen mit Cain an den Tisch setzte, hatte er ihr eine Zusage abgerungen, dass sie ihm seine Fragen beantworten würde. Nur war ihr von vorherein klar, dass sie Ascans Fähigkeiten ausnutzen würde, um ihre Lügen und Ausreden selbst für den Seeker vollständig zu kaschieren.

      Es vergingen beinahe volle zwei Wochen in der Hütte von Ennis und Mairead. Der ursprüngliche Plan, sich schnell von den Flüchtlingen zu trennen, war Mal um Mal vertagt worden, entweder, weil das Wetter unbeständig war, Aurensignaturen nicht stimmten oder Sylea im letzten Moment doch noch kniff. Erstaunlicherweise fiel niemand vom Rat oder den Rubras bei Ennis‘ Hütte ein und auch Ascan hielt sich meistens bedeckt. Immer wieder des Nachts bemächtigte er sich jedoch Syleas schlafenden Körpers und investierte Stunden in der Nacht, um die Aufzeichnungen der Estryreh, die er immer noch bei sich trug und scheinbar in einer Art Subspace zwischengelagert hatte, weiter zu durchforsten. Ob er fündig wurde, offenbarte er seinem Vessel und auch dem Seeker natürlich nicht.
      Sylea hatte sich in der Zwischenzeit mit Mairead angefreundet. Beide erzählten sich gegenseitig von Dingen, die sie anhand ihrer Geschichte nicht erleben konnten und knüpften ein vorerst fragiles Band. Mehrfach hatte sie Cain bestätigen müssen, dass sowohl das Mädchen als auch ihr Opa tatsächlich das waren, was sie zu sein vorgaben; unauffällige Menschen, die keine Aura besaßen.
      Ennis hielt sich dafür eher an den jungen Mann in der Gruppe. Während die beiden Mädchen ihren eigenen Interessen folgten, nutzte der alte Mann die Zeit der Ungestörtheit und wies den Seeker in das Territorium ein, wo sich die Hallen befanden und wie die Rubras die Gegend absicherten. Er erzählte ihm auch von dem Torwächter, dessen Fähigkeiten er selbstredend nicht kannte, aber definitiv wusste, dass das seine Aufgabe war. Ennis vermutete, dass sie deshalb so leicht an ihm vorbeikamen, weil sie selbst das Blut der Rubras trugen.
      Am Ende konnte sich aber auch Sylea nicht weiter davor drücken. Das hier war schließlich das Leben von Ennis und Mairead und nicht das, in welches sie sich einfach drücken konnte. Der Weg, den sie eingeschlagen hatte, ließ sich nicht weiter verschieben, denn das Wasser, das hinter ihnen konstant höher stieg, berührte bereits ihre Knöchel. Stehenbleiben war am Ende nicht die Lösung, die sie wählen konnte. Das merkte das Vessel schlussendlich daran, dass immer mehr von ihren Erinnerungen zu verblassen begannen. Die Gesichter ihrer Eltern hatte sie schon länger nicht mehr vor Augen und die Zeit vor der Kathedrale war beinahe nur noch ein grauer Schleier. Sie hatte ein Zeitlimit bekommen, ohne es wirklich bemerkt zu haben.
      Deshalb suchte sie am Morgen des sechszehnten Tages Cain auf und berichtete ihm, dass sie nun nicht mehr Zeit schinden konnte. Sie offenbarte ihm, dass ihre Erinnerungen sich aufzulösen schienen oder von Ascan absorbiert wurden. Ihr war aufgefallen, dass sie sich immer schwieriger eindeutig von ihm abgrenzen konnte und selbst wenn sie noch die Kontrolle besaß, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie in die fremde Seele einfach überging.
      „Also fürchte ich, wir müssen doch los“, schloss sie mit einem betagten Lächeln ihre Ausführung und nestelte an Cains dunklem Shirt, damit sie ihn nicht weiter ansehen musste.
    • Das regelmäßige Geräusch einer Axt, die mit voller Wucht auf trockenes Holz niederging, erfüllte die Ohren des Seekers. Er spürte die Vibrationen des kraftvollen Aufpralls, wann immer das schwere Beil einen Holzscheit in zwei Hälften spaltete. Mit dem linken Unterarm wischte sich Cain den glänzenden Schweiß von der Stirn ehe er in den frühen Morgenhimmel aufsah. Eigentlich war es bewölkt, wie beinahe jeden Tag in den vergangenen Wochen. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als sich doch ein paar zögerliche Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke trauten. Im Verlauf der letzten Tage hatte sich eine Routine in der kleinen Hütte eingestellt, die Cain anfangs als äußerst befremdlich und später als beruhigend empfand. Nachdem Ennis es nicht mehr ertragen hatte, dass der Seeker unruhig Gräben um die Hüte lief, hatte er ihm eines Morgens das Beil in die Hand gedrückt und auf das Feuerholz gezeigt. Danach hatten die Männer sich zusammengerauft und brüteten seitdem beinahe jeden Tag gemeinsam über den wenigen Informationen, die Ennis besaß. Cain prägte sich so viel davon ein, wie sein Erinnerungsvermögen zuließ.
      Mehr Sorgen als das Territorium der Rubras, ihr mysteriöser Torwächter und sämtliche Unbekannte, die selbst Ennis mit seinem Wissen nicht einkalkulieren konnte, bereitete ihm Sylea. Cain fühlte seit dem Zusammenbruch in dem kleinen Badezimmer eine merkliche Distanz. Jeden Tag schien Sylea sich ein kleines Bisschen mehr zu entfernen. Das Mädchen, das er liebte, verschwand langsam im Nichts. Cain war dagegen völlig machtlos und konnte nicht einmal einen Grund benennen. Nachts konnte Cain nur tatenlos mit ansehen, wie Ascan sich ganz selbstverständlich ihres Körpers bemächtigte. Der Seelendieb hüllte sich in Schweigen, ebenso wie Sylea. Die Tatsache, dass sie ihm nicht alles erzählte, sie musste es nicht einmal in Worte fassen, nagte an dem jungen Mann.
      Wenn das Gefühl der Enge in der Hütte unerträglich und die Luft darin für Cain immer stickiger wurden, hatte der alte Mann sich seine Flinte geschnappt und den ruhelosen Seeker mit auf die Jagd geschleift. Er hatte sich nie für das wortlose Verständnis bedankt.
      Trotz der allgegenwärtigen Sorge brachte die Zeit in der Hütte von Ennis und seiner Enkelin Mairead auch schöne Momente hervor. Die Mädchen knüpften ein zartes Band miteinander und irgendwann hatte auch der misstrauische Seeker eingesehen, dass weder in dem aufgeweckten Mädchen noch ihrem Großvater eine Gefahr schlummerte. Er hoffte nur, dass er es nicht bereute, dem zerbrechlichen Frieden eine Chance gegeben zu haben.
      Die düsteren Gedanken verflogen, sobald er das zaghafte Lachen von Sylea hörte, während Mairead aufgeregt und freudig um ihre neue Freundin herumwirbelte. Es war wunderschön auf der kleinen Lichtung und in der trügerischen, friedlichen Blase, die sie alle umgab. Es fühlte sich ein wenig nach einem Zuhause an, würde nicht das sprichwörtliche Damoklesschwert über ihren Köpfen schweben. Eine Bedrohung, die sie noch nicht sehen konnte, aber die sich irgendwo hinter dem dichten Wald versteckte. Es hatte sich mehr als einmal darüber gewundert, dass noch niemand gekommen war. Vielleicht hatten die Rubras einfach den längeren Atem und wussten, dass die verlorene Tochter bald zurückkehren sollte.
      Ein leises Rascheln verriet Sylea.
      Es war früh am Morgen und damit wohl der einzige Grund, warum Mairead noch nicht an ihrem arm hing. In dem Gedanken lag keine Böswilligkeit, denn die Zeit an diesem Ort, hatte ihnen eine Möglichkeit zum Luftholen gegeben. Ein letztes Aufbäumen vor dem Unvermeidlichen und genau das, sah er nun an dem Blick, den Sylea ihm schenkte. Er lächelte, als er die Axt an den Baumstumpf lehnte, der ihm als Schlagblock diente und legte einen Arm um die junge Frau. Dass er verschwitzt war und vermutlich nicht gerade nach einer Blumenwiese roch, schien sie nicht zu stören. Es war nicht oft vorgekommen in den letzten Tagen, dass sie seine Nähe gesucht hatte und tief in seinem Inneren, wollte er nicht hören, was sie zu sagen hatte.
      „Guten Morgen…“, murmelte Cain mit einem rauen, kratzigen Klang in der Stimme, als hätte er den ganzen Morgen noch kein Wort gesprochen. „Ich hoffe, du hast noch nicht geduscht, weil du im Anschluss gleich nochmal wieder unter die Dusche darfst, wenn du dich weiter…“
      Die Leichtigkeit verschwand, als sie Sylea ihm endlich reinen Wein einschenkte… zumindest in einem Punkt. Als er den Blick senkte, war sie eifrig damit beschäftigt, sein Shirt genauer unter die Lupe zu nehmen. Cain neigte den Kopf, bis er an Syleas lehnte. Der Ernst der Lage hielt Einzug wie ein unwillkommener Gast. Sein Gefühl hatte ihn nicht belogen, Sylea verschwand wirklich.
      „Wir wussten, dass wir nicht ewig hier bleiben können“, antwortete Cain nüchtern. „Aber manchmal habe ich mir gewünscht, wir könnten es. Komm.“
      Er fühlte Sylea zu einer kleinen Holzbank, die Ennis im Schatten der Laubbäume platziert hatte und bedeutete ihr, sich zu setzen. Cain ging vor ihr in die Hocke und strich sich das verschwitzte Haar zurück. Ein wenig Dreck von den Holzscheiten klebte an seiner linken Wange. Behutsam legte er die Hände auf ihren Knien ab und sah sie unverwandt an.
      „Es tut mir leid.“
      Alles.
      Er lächelte. Dieses kleine Lächeln, das nur für Sylea bestimmt war.
      „Einen Tag um uns zu verabschieden? Was sagst Du?“
      Geduldig wartete Cain, bis er ein Nicken als Antwort bekam und stimmte sich aus der Hocke hoch. Ebenso wenig überstürzt, ließ er sich neben Sylea auf der Bank nieder. Die Sonne kitzelte ihn an der Nasenspitze.
      „Da du heute entschieden hast, mit mir über die Wahrheit zu sprechen“, begann Cain. Obwohl sein Wortlaut anderes vermuten ließ, lag keinerlei Vorwurf darin. „Du hast mir eine Frage immer noch nicht beantwortet: Welche Rolle spielt dieser Junge…dieser Gott, Dagda, bei alldem?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Das sanfte Gewicht, das Cains Stirn gegen ihren Schädel erwirkte, erdete Sylea in einer ungeahnten Art und Weise. Kurzweilig gestattete sie sich, ihre Lider zu schließen, sich dem Dunkel zu ergeben, vor dem sie so konsequent in den letzten Wochen geflohen war. Sie fühlte den Stoff des Shirts zwischen ihren Fingern und wie er leicht klamm war. Dass der junge Mann sich beinahe jeden Tag körperlich betätigte war ihr natürlich aufgefallen, doch wer war sie schon, dagegen Einspruch zu erheben? Wenn es ihm half, sich mental zu finden, dann sollte er ruhig so viel Holz spalten bis er eine ganze Stadt mit Brennholz versorgen konnte.
      „Ich wäre fein damit gewesen, hier zu bleiben. Selbst wenn wir nicht verwandt sind“, murmelte Sylea, die nur ein einziges Mal an die kleine Wohnung in Edinborough zurückgedacht hatte. Zu tief saß die Enttäuschung darüber, dass sie dieses einfache, normale Leben nicht haben könnte. Zu tief hatte sich das Bild eines Blondschopfes in ihre Erinnerung gebrannt, als dass sie öfter an die Zeit zurückdenken mochte. Also folgte sie dem Seeker zu der kleinen, charmanten Bank, setzte sich und heftete den Blick auf Cain, als er sich vor ihr in die Hocke setzte.
      „Du sollst dich doch nicht entschuldigen. Das ist mein Job.“ Eisern hielt sie ihren Blick auf Cain gerichtet. Wenn sie ihre Augen zusammenkniff und genau hinsah, dann würde seine Körperwärme leichte Dunstwolken in der Morgensonne aufsteigen lassen. Heute war der Wald nicht so feucht wie sonst und die wenigen Sonnenstrahlen verbannten die restlichen Nebelfetzen in die Tiefen des Gehölzes. „Wir hatten das Thema ja schon ein paar Mal.“
      Ohne das Vessel wäre der Seeker niemals hier gelandet. Er wäre niemals aus den Fängen des Rates ausgebrochen, hätte niemals den Verbleib seiner Schwester klären können und wäre seinem unvermeidlichen Ende in Form eines jungen Mädchens nie begegnet. Wäre ihm nicht aufgetragen worden, das seltsame Vessel in der Nähe Barhills ausfindig zu machen, hätte das Schicksal andere Fäden und Stoffe gesponnen, aus denen sich andere Geschichtenteppiche hätten weben lassen können. Doch nun war das Garn und der Zwirn beinahe aufgebraucht und das Ende der Spindel erreicht. Einzig die Spitze der Nadel in der Mitte, ihr gemeinsames Ende, würde dann noch auf sie warten.
      Einen Tag zum Verabschieden. Das klang nach einem Plan, weshalb Sylea nickte und ein melancholisch anmutendes Lächeln zustande brachte. Cain verschwand aus ihrem Blickfeld, während sie die gestapelten Holzscheite betrachtete und die Bank knarzte, als er sich neben sie setzte. Als er endlich mit der Sprache rausrückte, streckte das Mädchen die Beine lang aus und kippelte auf dem Rande ihrer Fersen hin und her.
      „Du meinst, bei allem? Die Antwort wird dich nicht glücklich machen“, fing sie an und klang dabei so herrliche belanglos, als würde sie von einem Kaffeeklatsch mit zwei Freundinnen berichten, die sie gar nicht hatte. „Dagda spielt keine Rolle. In gar nichts. Als du vom Grimm überwältigt wurdest und ich dich nicht allein habe rausholen können, hat er seine Hilfe angeboten. Natürlich nicht ohne einen Preis, aber den war ich gewillt zu zahlen. Er verlangte für seine Hilfe, dass ich ihn in dem Moment rufe, wenn ich gehen sollte. Weil er dieses Mal wohl sichergehen will, dass alles seine Richtigkeit hat. Denke ich.“ Sie seufzte. „So genau weiß ich das auch nicht mehr, wenn ich ehrlich sein soll. Was er wollte, war nicht sofort und brachte keinen von uns um. Wir haben keine Halsbänder angelegt bekommen oder haben irgendwas verloren. Das war für mich erst mal ein guter Deal….“
      Ein viel zu guter Deal wenn man bedachte, dass sie einen Handel mit einem Gott abgehalten hatte. Ihr war damals gar nicht aufgefallen, dass Ascans nichts von dem Handel mitbekommen hatte. Als sie in einer ruhigen Minute seine Erinnerungen durchforstet hatte, fand sie nur eine schwarze Stelle für den Zeitraum, wo der Grimm ausgebrochen war. Entweder hatte sie oder Dagda selbst den Seelendieb ausgeschlossen und nachdem ihr diese Erkenntnis kam, tat sie alles dafür, dass es auch so bleiben würde. Es musste einen Grund geben, warum Ascan keine Kenntnis von dem Handel haben sollte und nach einer Weile war es ihr schließlich aufgefallen. Der Sinn hinter dem eigentlichen Handel, den sie nicht benennen durfte, tat sich so plötzlich auf wie das Wissen um die Existenz der Götter auf Erden. Solange sie es nicht aussprach, würde Ascan nichts ahnen, genauso wenig wie Cain. Als würde sich das Vessel in Schweigen hüllen, bis der Moment gekommen wäre und sie den Handel einlösen musste.
      „Wir müssen und auch noch um…. Ihn hier kümmern“, fing Sylea nach einer Pause wieder an und zog einen einsamen und unscheinbar wirkenden Schlüssel aus ihrer Hosentasche. Jenen Schlüssel, den ein gewisser Archivar ihnen zugespielt hatte. „Sonst taucht er vielleicht genau dann auf, wenn wir es am wenigsten gebrauchen können.“
    • Ein missmutiges Schnauben erklang an Syleas Seite. Cain zog eine Augenbraue vielsagend in die Höhe, trotz der Ernsthaftigkeit des Themas. Wann hatte ihn das letzte Mal eine Antwort wirklich glücklich gemacht sobald es um den Rubra-Clan, mächtigen Seelen und allerlei Verschwörungen gegangen war? Die Einmischung eines Gottes war letztendlich das berühmte Tüpfelchen auf dem I. Allein die Tatsache, dass sie einem leibhaftigen Gott begegnet waren, der es für nötig befand, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen, war so verrückt, dass Cain nicht daran glaubte, dass ihn noch irgendetwas schockieren konnte. Er hatte in den vergangenen Tagen seinen Frieden mit vielen Dingen gemacht. Sein Geisteszustand befand sich irgendwo zwischen Resignation und Akzeptanz. Beides für sich allein stellte eine sehr, sehr bittere Pille dar. Vor allem, da ihnen wieder vor Augen geführt wurde, was Sylea und er niemals haben würden. Auf der anderen Seite, war dieser bröckelige Frieden ein letzten Geschenk. Er würde die Zeit nicht damit verschwenden, wie ein trotziger Junge gegen das Schicksal zu wettern, das sich ihm eh nicht beugte.
      Also lauschte er Sylea während sein Blick über die Baumkronen streiften, deren Blätter in der frischen Morgenbrise zitterten. Eine kurze Pause entstand und Cain schloss die Augen. Er lauschte dem Rascheln der Zweige über ihren Köpfen. Dieser Ort hier war anders, als Edinburgh. Es war ruhig und friedlich. Meilenweit spürte Cain nichts, außer die sprunghaften, flüchtigen Auren der kleinen und großen Waldbewohner. Die Reizüberflutung der Ortschaften und Stützpunkte blieb fort.
      "Ich soll also glauben, dass Dagda lediglich einen Job als Gott erledigen und einen Fehler korrigieren will?"
      Cain schlug die Augen auf und sah Sylea direkt an.
      Er erinnerte sich daran, dass Dagda ihm eindringlich zu verstehen gegeben hatte, dass er eine Seele nur im Ganzen in den Maelstrom zurückschicken konnte und da die Grenzen zwischen Sylea und Ascan zunehmend verwischten...Der Gott schlug zwei Fliegen mit einer Klappe. Zwei Seelen, die ihre vorherbestimmte Existenz schon längst überschritten hatten. Ein Bedrohung, die der Gott vom Angesicht der Erde wischte. Einen Mann, der mit gefährlichen Mächten spielte. Der Preis war die Seele eines unschuldigen Mädchens. Cain wusste nicht, ob er am Ende tatsächlich damit Leben konnte. Für ihn war der Preis zu hoch.
      "Ich verstehe.", murmelte er.
      Zumindest glaubte der Seeker ein paar Bruchstücke zu verstehen. Der Blick in den goldenen Augen gab Sylea deutlich zu verstehen, dass er spürte, dass ihm entscheidende Puzzleteile fehlte. Aber Cain gab nach und ließ sich von dem präsentieren Schlüssel ablenken. Beim Anblick des Schlüssels taten sich gemischte Gefühle auf. Mortimer war ihnen bereits einmal in den Rücken gefallen. Er hatte mit ihren Leben gespielt zu seinem Vergnügen und war geflüchtet, als die Gefahr zur groß wurde. Allerdings hatte er ihnen auch die nötigen Mittel für eine Flucht hinterlassen...
      Behutsam nahm er den Schlüssel aus ihren Fingern.
      Nachdenklich strichen seiner Fingerspitzen über das Metall, das warm von Syleas Körperwärme war.
      "Der Schlüssel funktioniert nicht mehr. Er hat gesagt, dass er uns nicht wieder ins Archiv führen wird."
      Cain blinzelte und zog die Augenbrauen zusammen.
      "Vielleicht kann er uns damit orten. Er funktioniert zwar nicht mehr, aber spüre Rückstände seiner Aura. Ich frage mich, was passiert, wenn wir versuchen ihn trotzdem zu benutzen..."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Wortlos gab Sylea den Schlüssel an Cain, selbst wenn sie in seinen Augen deutlich ablesen konnte, dass er ihr natürlich nicht vollends glaubte. Dafür war die Geschichte nicht fundiert genug. Nicht, um den ohnehin misstrauischen Seeker vollends in die Irre zu führen.
      „Möglich, dass der Schlüssel nicht mehr so funktioniert wie der von damals. Immerhin hat er gesagt, dass er uns nicht mehr in das Archiv führen wird. Muss er ja auch gar nicht, wenn Mortimer nicht mehr da ist“, sagte Sylea, wobei ihre Mundwinkel spitzbübisch nach oben wanderten. „Vielleicht war das ein subtiler Hinweis darauf, dass der Schlüssel uns einfach woanders hinführen wird.“
      Orten konnte Mortimer sie dem Schlüssel zweifellos. Ascan hatte ihr sehr früh erklärt, dass, ein Gegenstand erschaffen von einem Konstrukteur, wie ein Teil seines Körpers fungierte. Ob mit Aura ausgestattet oder nicht – er gehörte zu dem Wesen und war immer wieder auffindbar.
      „Ich glaube, der Schlüssel ist dafür gar nicht das Problem.“ Sie ließ den Blick sinken und betrachtete das ehemals gebrochene Bein, wo das Gold seiner Aura durchsetzt war mit anderen Fragmenten. „Er hat dein Bein geheilt. Spätestens damit hat einen Peilsender, würde ich sagen.“
      Damit konnte Mortimer sie garantiert finden. Es war dann nur die Frage, ob sie das Thema vorerst abschließen wollten oder nicht. Mit der Ungewissheit, dass er plötzlich wirklich einfach auftauchen konnte, wollte Sylea nicht arbeiten und sich in die Hallen stürzen. Wobei… Würde Mortimer ernsthaft freiwillig in die Hallen eintreten? Oder eher – warum nicht?
      Da schlug sich Sylea mit den flachen Händen auf die Oberschenkel und erhob sich. Dann reckte sie Arme gen Himmel und streckte sich, ließ die Waldluft sie umfangen und ihr eine leichte Gänsehaut bescheren. Anschließend ließ sie die Arme fallen und schlug die Augen auf. Halb wandte sie sich dem jungen Mann auf der Bank zu, der noch immer den Schlüssel in seinen Fängen wusste.
      „Ich höre von Ascan keine Einwände, auch wenn er derjenige ist, der den Handel abgeschlossen hat. Er meint allerdings, dass er lieber allein gehen würde, eben weil es sein Handel mit Mortimer war. Würdest du mich allein gehen lassen und auf mich warten, wenn es klappt?“, fragte Sylea mit einer unglaublichen Leichtigkeit, so als würde sie sich nicht allein in eine ungewisse Dimension mit zwei unberechenbaren Seelen begeben.
    • "Eine versteckte Einladung, hm?", antwortete Cain. "Er vertraut doch nicht wirklich darauf, dass Ascan seinen Teil des Deals einhält?"
      Andererseits, wer wusste schon, was in dem verstaubten und verdrehten Verstand des Archivars vor sich ging? Der Babylonier interessierte sich für keine Partei, wählte keine Seite und schien nach Lust und Laune das zu tun, wonach ihm gerade der Sinn stand.
      Er ließ den Schlüssel durch seine Finger gleiten und spielte den Gedanken durch, wem diese Einladung gegolten hatte. Zweifellos spekulierte der Babylonier mit der Möglichkeit, dass sein zwielichtiger Freund ihm einen Besuch abstattete. Wenn Mortimer sie zu jedem erdenklichen Zeitpunkt aufspüren konnte, blieb Ascan kaum eine andere Wahl. Oder Sylea. Oder Cain. Wirklich begeistert zeigte sich Cain über einen möglichen Überraschungsbesuch nicht.
      Als Sylea sein Bein erwähnte, stieß Cain ein gedehntes Seufzen aus.
      "Natürlich. Gemäß dem Fall wir hätten den Schlüssel zur Vorsicht entsorgt...Davon", sagte Cain und streckte das Bein aus. "...können wir uns nicht so einfach trennen."
      Manchmal vergaß er, dass Mortimer den zertrümmerten Knochen in Windeseile zusammengesetzt hatte. Eine silbrige, metallische Substanz hielt die Knochensplitter zusammen. Er hatte keine Schmerzen. Nicht immer, jedenfalls. Es war eines der Dinge, die Cain nicht begriff. Mortimer hatte ihnen geholfen. Mehrfach. Er hatte ihnen einen kurzfristigen Unterschlumpf gewährt, ihnen eine Flucht ermöglicht. All das, nachdem er sie eiskalt im Hell Gate zurückgelassen hatte und feige durch eine Tür entschlüpft war. Der Archivar hätte sie alle über die Klinge springen lassen und dabei nicht einmal geblinzelt. In manchen Augenblicken hatte der Seeker es in der Aura des Babyloniers gespürt: Es gab nichts, das Mortimer... das Baltazar an diese Welt band. Der spürbare Schimmer seiner Aura fühlte sich losgelöst von allem an, kühl und einsam wie hinter Glas. Cain erwischte sich dabei, wie ein Hauch von Mitgefühl sich in seine Gedanken schlich. Wie musste es sein beinahe ewig zu leben?
      Kopfschüttelnd lehnte sich Cain zurück gegen die geschnitzte Rückenlehne der Bank.
      "Das heißt: Wir sollten uns an den Handel halten, wenn wir keine unangenehme Überraschung erleben wollen", schlussfolgerte er. "Es gefällt mir nicht, dass du allein gegen willst. Wer weiß, ob Ascan dieses Schlupfloch nicht ausnutzt um mit dir zu verschwinden? Oder, ob Baltazar euch einfach wieder gehen lässt, wenn er bekommen hat, was er wollte? Vielleich reicht ihm das nicht."
      Wieder ein schwerer Atemzug.
      Cain betrachtete Sylea, die scheinbar völlig sorglos über ein riesiges Problem sprach.
      Es triggerte etwas in dem Seeker. Ein Gefühl, das zwischen Unverständnis, Enttäuschung und Wut schwankte. Die goldene Aura wallte kurz protestierend auf. Das Zucken seiner Mundwinkel, war der einzige Anflug eines schmalen Lächeln. Die pure Resignation spielte sich auf seinem Gesicht wieder.
      "Habe ich wirklich eine Wahl?"
      Zur Not konnte Ascan...vielleicht sogar Sylea, und der Gedanke war äußerst befremdlich, ihn einfach außer Gefecht setzen.
      Cain erhob sich und gesellte sich an ihre Seite.
      "Wenn du es versuchen willst, dann testen wir deine Theorie heute Nacht, sobald Ennis und Mairead schlafen. Sie sollten nichts davon mitbekommen. Ich bezweifle, dass Ennis vor Freude in die Luft springt, wenn wir er davon erfährt. Obwohl ich ihn ungerne belüge. Er war freundlich zu uns und hat uns bei sich aufgenommen. Das ist mehr, als ich nach der ersten Nacht hier erwartet habe. Ich befürworte die Abmachung nicht, die er mit den Rubras geschlossen hat...aber er ist ein guter Mensch, der tut, was in seiner Macht steht. Viel lässt der Clan ihm nicht."
      Geräusche drangen aus der Hütte zu ihnen herüber. Ennis.
      'Du musst darauf vorbereitet sein, dass du sie gehen lassen musst, Junge.'
      Cain nahm Syleas Hand und drückte seine Lippen gegen ihre Handknöchel.
      "Lass uns reingehen bevor Mairead die ganze Hütte auf den Kopf stellt. Sie lässt sich kaum von dir trennen, hm?"
      Er rümpfte die Nase.
      "Und ich brauche wirklich dringend eine Dusche."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • „Doch, ich glaube schon, dass er daran glaubt. Denn wenn nicht, dann haben wir zwei Enti… Entitu… Nein, Entitäten war das Wort. Dann haben wir zwei Entitäten, die nicht nur sich, sondern auch alles um sie herum sprengen.“
      Im Gegensatz zu Cain wusste Sylea, dass Ascan nur daraufsetzte, dass der Babylonier ihn nicht einzuschätzen wusste. Er spielte gefährlich mit dem Unwissen und der Skepsis der deutlich älteren Seele, aber das war nun mal seine einzige Trumpfkarte. Das und das Wissen über Techniken, von denen der Konstrukteur noch nichts gehört hatte. Ascan hegte Respekt für das Wesen, das in einer völlig anderen Nische überaus begabt war.
      Ihr Blick ging abermals zu Cains Bein, dann lächelte sie. Natürlich ließe sich das Bein nicht abnehmen oder unschädlich machen. Das wollte sie auch gar nicht. Sein Bein war längst Teil eines Planes, den Sylea über die letzten Tage ausgearbeitet hatte. Es war keine Nacht und Nebel Aktion, die sie hier plante.
      Bestimmt schüttelte sie den Kopf. „Wir halten uns nicht an einen Deal, er tut es auch. Oder ist er seitdem einfach aus dem Nichts aufgetaucht? Ich denke, er geht davon aus, dass ich den Kampf gegen Ascan verlieren werde und er somit besser mit ihm Handel abschließt. Ich will nur dafür sorgen, dass Ascan keinen Scheiß produziert, wenn er Mortimer aufsucht, verstehst du?“ Das Lächeln war wieder zurück, dieses Mal mit einer Selbstüberzeugung, die keinerlei Spielraum zuließ. „Ich wage zu bezweifeln, dass er mich so leicht überwältigen kann. Jetzt nicht mehr, denn jetzt kann ich den Spieß wenigstens ein bisschen umdrehen. Und wenn mich Mor-, Baltazar, nicht gehen lassen will, finde ich schon Mittel und Wege. Habe ich doch bisher immer, oder nicht?“
      Vor ihren Augen geriet die goldene Aura, die recht gleichmäßig um den Seeker gelegen hatte, in Aufruhr. Sie schlug aus, als wolle sie sich gegen ein Gefängnis erwehren und war das Sinnbild für Cains Gefühlslage, die man auf seinem Gesicht jedoch gar nicht hatte ablesen können. Ihr eigenes Lächeln wurde ein bisschen steifer. „Eine Wahl hast du durchaus. Es ist ja kein Soloprojekt, das ich fahre, aber wenn du mitkommst, hat Baltazar einen weiteren Hebel gegen mich.“
      Eine weitere Schwachstelle wollte sie den Seeker nicht nennen. Er war ihre Stütze, ihre Grundfeste und keine Schwäche. Nichts, das man ausnutzen konnte, aber wenn man dem Haus das Fundament entriss, fiel es dennoch in sich zusammen. Ein weiteres Mal wollte sie seine Sicherheit nicht riskieren und auch etwas freier handeln können, als wie, wenn er anwesend war.
      Cain hatte sich neben das Vessel gestellt und sie nutzte die Nähe, um ihren Kopf an seinem Oberarm anzulehnen. Die Ruhe vor dem Sturm, wie man so schön zu sagen pflegte. „Ich weiß immer noch nicht, wieso er so nett ist. Vielleicht sieht er in uns ja wirklich seinen Schwiegersohn und Tochter… Aber ja, ich mag ihm auch nichts vormachen. Deswegen gehen wir morgen ja auch.“
      Damit keiner von Beiden der Gefahr noch länger als unbedingt notwendig ausgesetzt sein musste. Ihre Hand wurde zu warmen Lippen geführt und wieder freigelassen, doch Sylea griff um und fing Cains Hand ein. Fest drückte sie seine Finger mit ihren und gab ihn nicht mehr frei, als sie sich langsam in Bewegung setzte.
      „Ja, ja, ja…. So schlimm stinkst du doch gar nicht.“

      „Hä? Wieso denn jetzt schon?!“
      Als Cain im Bad verschwunden war, hatte Sylea am Tisch die Bombe platzen lassen und Ennis sowie seiner Enkelin gesteckt, dass sie heute den letzten Tag hier verbringen würden. Ennis‘ Blick wurde sogleich betroffen, immerhin wusste er, was ihr Ziel war und dass er sie vermutlich nicht ein weiteres Mal mehr zu Gesicht bekommen würde. Mairead hingegen brach aus wie ein Vulkan. Zuerst hatte sie Sylea nur mit großen Augen angesehen, doch als die Sicherheit sackte, machte sich Entrüstung und kindlicher Zorn auf ihrem Gesicht breit. Sie schnitt eine unflätige Grimasse und hatte die Hände auf den Tisch geknallt, dass die Tassen mit frischem Kaffee und warmer Milch klirrten.
      „Wir waren schon echt lange hier und unser Urlaub ist jetzt fast vorbei. Wir sind schon groß und müssen arbeiten wie normale Menschen, Mai…“ Ihr Spitzname für das junge Mädchen.
      „Dann kündigt halt!“
      „Ohne Geld wird’s schwierig…“
      „Dann wohnt hier bei uns! Ennis mag euch auch!“ Maireads sonst eher blasses Gesicht bekam allmählich Farbe auf den Wangen.
      Sylea seufzte, schenkte dem Mädchen aber das wärmste Lächeln, das sie besaß. „Das liegt wohl eher in der Entscheidungsgewalt deines Opas. Außerdem sind wir ja nicht aus deinem Leben. Wir kommen noch mal und besuchen dich. Und wenn du alt genug bist, dann kommst du einfach mal uns besuchen. Klingt doch nach einem Deal, oder?“
      Mairead zog eine Schnute, setzte sich aber brav auf ihren Stuhl und schob ihre Tasse hin und her. Natürlich war das für sie viel zu früh – immerhin hatte sie in dem Vessel eine ungeahnte Freundin gefunden. Eine durchaus gefährliche, aber das konnte sie schließlich nicht wissen.
      „Ich habe Cain den besten Weg für eure weitere Reise erklärt, das sollte also kein Problem sein. Nehmt ihr alles mit, was ihr bei euch habt?“, fragte Ennis, der gerade kleine Teller aus der Küche holte und sie auf dem Tisch verteilte.
      „Ja klar. Wir können deine Hütte ja nicht als Zwischenlager benutzen. Außerdem brauchen wir wohl alles auf dem weiteren Weg. Ohne Papiere und alles wird’s reisen wohl schwierig“, antwortete Sylea nachdenklich. „Ich hoffe einfach, dass es nicht so… anstrengend wird…“
      „Du kannst auch hierbleiben…“, warf Mairead mit unschuldigem Blick ein und erntete einen tadelnden Blick seitens Syleas. „Oder eben… nicht.“
    • Cain stockte der Atem. Die eisige Kälte verdrängte die Luft aus seinen Lungen und lenkte seinen Fokus für einen Augenblick einfach auf die simple Tätigkeit weiter zu atmen. Zähneknirschend erduldete der Seeker das eiskalte Wasser, das auf seine Schultern prasselte. Die Haut war dieses Mal nicht von der Hitze sondern vor Kälte gerötet. Jeder Tropfen glich einem Nadelstich. Er versuchte buchstäblich einen kühlen Kopf zu bewahren. Sylea hatte ihn mit dem Rücken zur Wand gestellt. Natürlich hatte sie Recht, wenn er die begleitete, gab er dem Babylonier ein Druckmittel in die Hand. Sie hatte es nicht aussprechen müssen, aber war zu einem signifikanten Schwachpunkt geworden. Cain presste die Hände, mit denen er sich abstützte, fester gegen die gefliesten Kacheln der Dusche. Kontrollierte Atemzüge arbeiteten gegen den Druck auf seinen Brustkorb, erzeugt von der Kälte und Machtlosigkeit.
      Es dauerte vielleicht gerade einmal dreißig Minuten, da verließ Cain das kleine Bad und gesellte sich an den Esstisch, an dem Ennis bereits das Frühstück servierte. Seine Aura hatte sich eng um seinen Körper zurückgezogen, kontrolliert und seltsam ruhig. Cain hatte beschlossen, seine Gefühle nicht den Plan gefährden zu lassen. Die Luft um ihn herum war nicht annähernd so kühl, wie im Hell Gate, aber sein Gemütszustand dennoch ähnlich. Dieses Mal benötigte er Ascans Hilfe nicht, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er hatte nicht das Recht wegen einer zweifelsfrei, sinnvollen Entscheidung wütend auf Sylea zu sein. Nichts davon bedeutete im gleichen Atemzug, dass sich etwas an seinen Gefühlen oder seiner Unterstützung für Sylea geändert hatte. Er konnte sich schlicht und ergreifend nicht damit abfinden.
      Dennoch blieb ein Brodeln tiefvergraben in seiner Brust, dass der Grimm hütete wie einen Leckerbissen. Fein, sollte der Grimm seine Wut fressen und daran ersticken.
      Cain zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln, während Sylea die Lügen so leicht von den Lippen gingen. Vielleicht hatte Ascan doch wenig mehr auf sie abgefärbt. Immerhin verschwammen die Grenzen zwischen ihnen von Tag zu Tag mehr. Der Seeker griff nach einer der Kaffeetassen, als er auf dem Stuhl neben seiner Partnerin Platz genommen hatte. Bei Maireads vehementen Protest legte er seine Hand kurz auf Syleas Knie und drückte behutsam zu. Die Situation war nicht leicht und der schmollende Gesichtsausdruck des Mädchen mit den hochroten Wangen war ebenfalls kein leichter Gegner.
      Langsam nahm er einen Schluck aus der heißen Tasse und nickte dann Ennis zu.
      "Danke für Deine Hilfe."
      Es war ganz und gar aufrichtig.
      "Wir werden uns wohl kein zweites Mal verlaufen."
      Das Lächeln auf seinen Lippen erreichte nicht vollständig seine Augen. Er hatte, ohne es zu wissen, dieses Ort liebgewonnen.
      Er wandte sich an Mairead.
      Cain lächelte etwas breiter. Das Mädchen konnte am wenigsten für die ganze Misere und er verspürte den Wunsch sie aufzuheitern.
      "Na komm, verbringen wir unseren letzten Tag hier nicht mit Schmollen. Hattest du nicht von einem Spiel erzählt, dass du uns noch zeigen wolltest?"
      Vielleicht konnten sie wirklich zurückkommen.
      Wenn sie Glück hatten.
      Vielleicht.
      ______________________________________________________________________

      Mit einem leisen Klicken schlossen sich die Tür zu Ennis' Schlafzimmer.
      Geduldig verharrte Cain im schwummrigen Schein des kleinen Nachtlichts, dass auf dem Wohnzimmertisch lag. Sie hatten warten müssen, bis Ennis beschlossen hatte endlich ins Bett zu gehen. Die Anspannung war über den Abend hinweg mit jeder Stunde weiter angewachsen. Sie hatten versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Um Mairead den letzten Abend zu versüßen, hatte sie sich den Bauch mit Keksen vollschlagen dürfen und sie hatten ein Spiel nach dem anderen gespielt. Alles was Mairead ihnen präsentiert hatte, war mit Begeisterung aufgenommen worden. Cain hoffte, dass das Mädchen sich mehr an diese Stunden erinnerte, als an den bevorstehenden Abschied. Sein Blick glitt zu Sylea, dann zu dem Schlüssel zwischen ihren Fingern.
      Als Sylea an ihm vorbei ging, den Schlüssel bereit zu einem Testeinsatz in den Händen, schnappte er blitzschnell nach ihrem Handgelenk. Der Griff war locker, aber sorgte dafür, dass sie stehen blieb. Wenigstens einmal wollte er es noch versuchen, bis er sich für eine ungewisse Zeit dazu verdammen ließ, die geschlossene Tür vom Sofa aus anzustarren.
      "Bist du dir immer noch sicher, dass du allein gehen willst?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Am Ende des Tages hatte sich Sylea auf die Couch zurückgezogen, eine Decke über ihre Beine geschlagen und Ennis sowie Mairead eine gute Nacht gewünscht. Cain stand noch neben ihren Rucksäcken, wohlwissend, dass sie unter der Decke bereits den Schlüssel befingerte, der seltsam warm in ihren Fingern lag. Über den gesamten Tag stand die Freude Maireads im Kontrast zur Kühle Cains, der für alle anderen normal wirkte, doch Sylea kannte ihn tiefergreifend als sie alle zusammen. Sie hatte die Wut ganz klein in seinem Inneren gespürt, aber davor erhob sich eine Wand aus Kälte, aus widerwilliger Akzeptanz und dem Versuch, der Logik Zuspruch zu erteilen.
      Sie wartete noch eine Weile ab bevor sie sich aus der Decke schälte und aufrichtete. Ihre Miene war nicht besonders euphorisiert oder deprimiert, sondern vielmehr entschlossen für das, was sie nun vorhatte. Zunächst scheute sie sich davor, ihrem Freund einen weiteren Blick zu schenken, doch dann trat eine stumme Entschuldigung in ihr Gesicht. Dann ging sie an Cain vorbei, doch bevor sie auch nur einen weiteren Schritt machen konnte, hatte er sie an ihrem Handgelenk gepackt und zum Innehalten gebracht. Umgehend wandte sie sich um und musterte sein Gesicht. Was sie darin las, ließ ihr das Herz nur noch schwerer wiegen.
      „Ja“, bestätigte sie mit einem Nicken, auch wenn ihre Stimme nicht so entschlossen war, wie es die Antwort hätte vermuten lassen. „Rein logisch betrachtet ist es besser so. Aber schau mich nicht so an. Bitte… Das macht es nicht leichter für mich.“
      Sie ließ den Schlüssel in einer ihrer Taschen verschwinden, legte den freien Arm um seine Taille und schmiegte sich an ihn. Ihre Stirn legte sie dabei in altbekannter Geste an seine Schulter und ließ sich von der Wärme einlullen, die ihn ständig zu begleiten schien. Der spärliche Geruch von Keksen umgab ihn noch und ließ Sylea schmunzeln.
      „Willst du unbedingt mitkommen? Auch wenn das bedeuten kann, dass es schlimmer ausgeht, als wenn du hierbleibst? Wenn du mir versprichst, dich im Schatten zu halten und dich nicht einzumischen, dann können wir da nochmal drüber sprechen. Aber es ist mir trotzdem noch zu gefährlich.“
      Langsam begann sie damit, seinen Rücken sanft zu kraulen. Natürlich verstand sie seine Sorge, natürlich fühlte sie die Angst, die ihn ihretwegen umgab. Genauso spürte sie jedoch auch die Wut über den Entschluss, die sie über seinen Kopf hinweg getroffen hatte. Sie wollte ihn einbinden, sie hatte den Plan ja gut durchdacht. Aber so von ihm nun angefangen zu werden, brachte ihren Entschluss doch wieder zum Wanken. Natürlich wäre es einfacher, wenn sie ihn als Rückhalt hinter sich wusste. Natürlich wäre er eine weitere Konstante, falls es den Bach runtergehen sollte.
      Natürlich stellte er aber auch die größte Schwachstelle für sie dar. Und genauso sehr wollte sie ihm nicht zeigen, was sie gedachte, Baltazar zu erzählen und vorzuschlagen. Im Falle würde sie Cain eigenhändig überwältigen müssen, und dass das ein verstörend großer Einschlag in ihrem gegenseitigen Vertrauen sein würde, war ihr von vornherein bewusst.
    • "Das letzte Mal, als du versucht hast mich zu beschützen, hätte ich dich beinahe verloren. Nach dem Übergriff durch Helyon bin ich aufgewacht und du warst fort. Dein Körper war noch da, aber in deinen Augen sah ich nur Ascan", brummte Cain und die düsteren Gewitterwolken über seinem Kopf verdunkelten sich ein wenig mehr. "Ich will dir helfen, Sylea. Irgendwie. Doch je näher wir unserem Ziel kommen, umso mehr bekomme ich das Gefühl, dir ein Klotz am Bein zu sein. Ich kann dich nicht beschützen, weder vor Ascan noch vor deiner Familie. Helyon, Farina, Baltazar,... Sie alle wollten ein Stück von dir und ich konnte nichts dagegen unternehmen, außer mit einer Zielscheibe auf meinem Rücken daneben zu stehen."
      Zögerlich, unwillig das Mädchen gehen zulassen, das sich an ihn schmiegte und ihm die Entscheidung noch schwerer machte, entließ ihr Handgelenk aus seinem Griff. Stattdessen schlang er beide Arme um ihre schmalen Schultern und drückte die Nase in den braunen Haarschopf. Cain atmete den unverkennbaren Duft ein, der seine aufgewühlten Sinne etwas beruhigte. Sylea in seinen Armen zuhalten, besänftigte seinen Beschützerinstinkt zumindest für ein paar flüchtige Augenblicke. Das Bedürfnis, Sylea gar nicht erst wieder loszulassen bis der Morgen anbrach und sie wie angekündigt ihre Reise fortsetzten, war beinahe übermächtig. Cain stieß ein langgezogenes Seufzen aus, als seine Freundin ein weitere Mal versuchte, ihm ein Versprechen zu entlocken, das gegen jeglichen seiner Instinkte ging.
      Selbst der Grimm in seiner Brust, dieses körperlose und nimmersatte Schattenwesen, sträubte sich dagegen mit befremdlicher Sympathie und der Schatten hatte sich seit dem Gespräch am Morgen ausgebreitet. Nah unter dem schimmernden Gold lauerte die Schwärze und die Barriere wurde stetig dünner und fragiler.
      "Wenn ich mit dir komme, kann ich dir dieses Versprechen nicht geben und das weißt du", antwortete Cain.
      Sylea verdammte ihn bereits mit einem anderen Versprechen zur Tatenlosigkeit.
      Ein Zweites wollte und konnte der Seeker ihr nicht geben.
      Er würde es nur schlimmer machen.
      Widerwillig löste Cain die Umarmung und brachte es doch nicht übers Herz sie endgültig freizugeben. Warme Hände umschlossen sanft ihr Gesicht, schoben verirrte Haarsträhnen fort und streichelten mit den Daumen über ihre Wangen.
      "Eigentlich ist es nur fair, wenn du mir jetzt ein Versprechen gibst", flüsterte Cain mit einem dünnen Lächeln.
      Ein glühender, goldener Blick wanderte über die vertrauten Züge ihres Gesichts. Er zählte die silbrigen Sterne in ihren Augen, folgte der sanft geschwungenen Linie ihres Nasenrückens bis hin zu ihren rosigen Lippen, deren Mundwinkel sich besorgt nach unten neigten. Er wollte Sylea wieder lachen sehen, frei und glücklich. Sein Blick hing an ihren Lippen und er verwarf das Versprechen, das er hatte einfordern wollen: Sie sollte sicher zu ihm zurückkommen.
      Stattdessen neigte Cain den Kopf ein wenig und fing Syleas Mund zu einem Kuss ein. Sehnsüchtig, gar eindringlich, presste er seine Lippen auf ihre und hielt dabei ihren Kopf sanft aber bestimmend in seinen Händen. Cain küsste Sylea als wollte er nie wieder etwas anderen für den Rest seines Lebens tun. Er transportiere alle Emotionen, all seine Wünsche, seine Liebe mit diesem Kuss. Er lockte ihre Lippen mit neckenden, zarten Bissen. Erst die Oberlippe, dann die Unterlippe bis sich Sylea öffnete und er das dringend benötigte Luftholen spitzbübisch ausnutzte um den vertrauten Geschmack ihrer Zunge zu kosten. Sie schmeckte nach süßem Tee und den noch süßeren Keksen, die sie gegessen hatten.
      "Bleib", forderte Cain atemlos zwischen den Küssen.
      Hinter halbgeschlossenen Augenlidern blutete schwarze Tinte in die goldene Iris und der Griff um Syleas Kopf verstärkte sich.
      Seine Finger verwoben sich mit den weichen, braunen Strähnen. Unsichtbar für Cain vibrierte die goldene Aura, als stünde sie unter Strom. Ganz langsam übertrug sich die Spannung auf seinen Körper bis der Seeker selbst am ganzen Körper bebte.
      Wenn er es ihr nur schwer genug machte, konnte sie nicht gehen.
      "Bleib. Bleib bei mir. Geh nicht."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • An den Überfall in der Wohnung wollte Sylea nicht noch einmal erinnert werden. Selbst jetzt noch lagen die Erinnerungen greifbarer vor ihr, aber es waren nicht ihre Erlebnisse, sondern einzig die von Ascan, anhand derer sie die Geschehnisse hatte zusammenpuzzeln können. Warum sie sich damals ins Nichts abgesetzt hatte, konnte sie immer noch nicht erklären. Es war einfach passiert, aber sie hatte durch die Erinnerungen gesehen, wie Cains Gesicht sich verändert hatte, als die Erkenntnis eingesackt war. Die Angst, sie plötzlich für immer verloren zu haben.
      „Aber du hilfst mir doch. Du bist mein Rückhalt, die einzige Stütze, die ich wirklich in meinem Rücken weiß. Wir sind mit Narben herausgekommen, aber keiner von uns hat sein Leben oder das des Anderen dafür gegeben“, sagte Sylea und ließ sich von Cain gefangen nehmen. Sein Atem kitzelte ihren Scheitel, wie er es jedes Mal tat, und das Verlangen, einfach hier stehen zu bleiben wo es warm und angenehm war wuchs stetig weiter an.
      Sie wand sich ein bisschen in seinen Armen, doch er gab sie nicht frei. Also drehte sie den Kopf leicht zur Seite, damit sie nicht in seine Brust nuschelte. „Ich weiß nicht, ob du es nicht geben kannst. Deswegen schlage ich es dir ja vor. Es wird schwierig, aber ich hätte es nicht für unmöglich gehalten.“ Immerhin war er sonst immer so gut im Beobachten und Abwarten gewesen. Dank seiner Ausbildung war er nie der Typ der offenen Konfrontation gewesen und sein plötzlicher Wunsch nach genau diesem überraschte das Vessel mehr und mehr. Vielleicht lag es daran, dass er seine einzige Stütze genauso sehr schützen wollte wie sie die ihre.
      Da lösten sich seine Arme um ihren Körper. Einen Schritt rückwärts durfte Sylea machen, dann fing er ihr Gesicht mit beiden Händen ein und zwang sie dazu, ihn anzusehen. Was sie auch ohne den dezenten Hinweis getan hätte, denn das dünne Gold knapp oberhalb der schwarzen Schatten darunter weckten Besorgnis in ihr. In den letzten Tagen hatte sie tunlichst darauf geachtet, wann der Schatten sichtbarer und wann nicht wurde, und eigentlich hatte sie angenommen, dass Cain und der Grimm eine stabilere Koexistenz gefunden hatten. Dass das Schwarz aber nun schon wieder so nah an der Oberfläche lauerte, versprach nichts Gutes. Die Sorge, die ihr Verschwinden ihm bereiten würde, könnte der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Und wenn sie dann nicht hier wäre, wären sowohl Ennis als auch Mairead ihm schutzlos ausgeliefert. In dem Moment war nicht das Vessel die Gefahr, sondern vielmehr der harmlos wirkende Seeker.
      Ihre Augen bemerkten das dünne Lächeln und ein Stein bildete sich in ihrem Magen. „Auge um Auge, was?“, versuchte sie ein aufheiterndes Schmunzeln, welches ihr sogar teilweise gelang. Er würde ihr ein mindestens genauso schwerwiegendes Versprechen abringen wie es auch andersherum ergangen war. Es käme mit Einschnitten daher, mit Restriktionen, von denen sie nicht wusste, ob sie sie einhalten könne. Das Schmunzeln verblasste, bis nichts mehr davon in ihrem Gesicht zurückgeblieben war. Stattdessen waren ihre Augen groß geworden, folgten den Bewegungen seiner bernsteinfarbenen Augen, die ihr Gesicht systematisch abzuscannen schienen. Ihre Augenbrauen zogen sich fragend zusammen als sie bemerkte, wie seine Augen auf ihren Lippen verharrten. Schlagartig begann der Stein in ihrer Magengrube zu glühen, einzig und allein durch die Blicke, die er ihr zuwarf.
      „Was ist – „, begann sie ihre Frage, da erstickte er ihre Worte mit seinen Lippen und Syleas Körper wurde weich wie Butter. Ihre Hände schossen zu seinen Unterarmen, Finger krallten sich fest im Spagat zwischen Abwehr und Hingabe. Er küsste sie mit solch einer Inbrunst, wie schon lange nicht mehr und das eine Mal im Badezimmer kam nicht annähernd an diesen Kuss heran. Er raubte ihr den Atem, löste ihre Gedanken in einen zähen Sirup auf und ließ die Kraft aus ihren Gliedern weichen. Er war unnachgiebig, ließ sie beide nicht einmal zu Atem kommen, und als sie Beide schließlich doch nach Luft schnappen musste, nutzte er es schamlos aus und beanspruchte auch noch ihre Zunge für sich. Sofort wandelte sich ihr Puddingkörper in eine Säule aus Beton, als die Hitze durch ihren Körper schoss. Er spielte mit unfairen Mitteln, das realisierte erst viel zu spät und nur am Rande ihres Bewusstseins. Ihre Finger drückten sich fest in seine Arme, als er schließlich seine Forderung aussprach und Sylea eigentlich genau jetzt auf Abstand hätte gehen müssen, um den Einschnitt möglichst gering zu halten.
      Doch sie verpasste den Absprung, als ihr ein leises Keuchen entfloh. Die Vibration der goldenen Aura, die das Schwarz unscharf machte, ging unweigerlich auf das Vessel über, so nah standen sie sich. Er steckte ihre silbrige Aura an, die sich nicht gegen die Annäherung wehren konnte und im Kanon zu seiner Vibration ansetzte. Selbst unter ihren Fingern spürte sie die Auswirkungen, indem Cains ganzer Körper zu zittern begann. Zu gern hätte sie seine Worte angenommen und von ihrem Vorhaben abgesehen, aber der pflichtbewusste Teil in ihr war nicht minder stark. Ihr Griff um seine Arme wurde noch stärker, bis sie seine Hände von ihrem Gesicht lösen konnte und es schaffte, auf Abstand zu gehen. Die Distanz fühlte sich an, als würde die Luft um sie herum ihren Körper verbrennen, ihre Atmung war bereits nur noch kurz angebunden.
      „‘s wichtig“, stieß sie mit rauer Stimme hervor. Leider hatte sie unterschätzt, wie unnachgiebig Cain sein konnte. Sie hatte das Wort gerade fertig gesprochen, da war er schon wieder direkt vor ihr. Aus purem Reflex wich sich noch weiter vor ihm zurück, die Augen groß vor Überraschung. Doch der trainierte Seeker war ihr natürlich haushoch überlegen, packte sie am Oberarm und brachte sie aus der Balance. Er dirigierte ihren Fall auf die Couch, wo sie mit einem dumpfen „Uff“ zum liegen kam, er oben auf. Ihr Blick schoss zu ihm, nun in mehrfachem Sinne brennend heiß.
      „Ich mein’s erst, lass mich gehen. Es ist wichtig“, untermalte sie ihren flammenden Blick, doch das Glühen der Bernsteinaugen verriet nichts Gutes.
    • Die erbitterte Gegenwehr stieß bei Cain auf Unverständnis. Wohin war die Hingabe verschwunden, mit der Sylea sich seinem Kuss ergeben hatte? Warum wollte Sylea ihn wegstoßen? Er wollte sie doch lediglich beschützen, begriff sie das denn nicht? Die Fragen wirbelten hinter seiner Stirn durcheinander. Gedanken formten sich zu Worten, die auf ein einziges Ziel hinausliefen: Er durfte sie nicht gehen lassen. Niemand, weder der Babylonier noch der Seelendieb durften ihm Sylea wegnehmen. Die Arme legten sich fester um ihren schlanken Körper, als Cain spürte, wie sie alle Muskeln mobilisierte um sich weiter gegen seinen Halt zu stemmen. Etwas flammte in seiner Brust auf. Etwas Verzweifeltes. Etwas Zorniges.
      Ein dunkles Grollen erfüllte seinen Brustkorb, vibrierte durch seine Kehle wie ein Donnergrollen. Cain schlug die Augen auf und senkte seinen Blick auf die Finger, die seine Unterarme umklammerten und mit aller Kraft seine Hände nach unten drückten. Da spürte der Seeker sie wieder: Die Auflehnung gegen seine Bemühungen. Goldener Nebel driftete aus seinen Augenwinkeln und verflüchtigte sich langsam in der angespannten Atmosphäre, die sie allgegenwärtig umgab und mit jeder verstreichenden Sekunde anwuchs. Die Vibration seiner Aura nahm an Intensität zu. Sie schlug Welle um Welle über den gewöhnlich kontrollierten, goldschimmernden Spiegel. Zwischen den stürmischen Wellen lugte eine unergründliche Schwärze hervor, kämpfte sich durch das aufgewühlte Chaos nach oben.
      Cain hörte sie nicht.
      Er sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten.
      Was er hörte, war das tiefe Grollen, so dunkel und so tief, das es drohte seinen Schädel zum Bersten zu bringen.
      Er durfte sie um keinen Preis der Welt gehen lassen.
      Sylea wagte es einen Schritt zurückzuweichen und brachte damit das Fass zum überlaufen. Das jahrelange Training zeigte sich in den blitzschnellen Reflexen, als er augenblicklich nachsetzte wie ein ausgehungerter Jäger, der seine Beute flüchten sah. Tief im hintersten Winkel seines Verstandes zwickte es unangenehm, doch da öffnete der Grimm bereits seine gierigen Kiefer um seine Reißzähne in Sylea zu vergraben. Er packte ihren Oberarm, um das Vessel mit einem kräftigen Ruck aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Momentum nutzend, bugsierte er Sylea auf die Couch. Bevor sich das Mädchen aufrappeln konnte, war er bereits über ihr und umschloss ihre Oberarme mit beiden Händen um sie unnachgiebig in das zerschlissene, weiche Polster zu drücken. Wie ein Schraubstock drückten seine Finger zu, bis er das leichte pulsieren ihres Blutes unter seinen Fingerspitzen fühlen konnte. Der Rhythmus ihres Pulses übertrug sich auf ihn, schneller und schneller. Gepaart mit dem verlockenden Anblick, sie unter sich zu wissen, fühlte er einen schwindelnden Triumph. Sein ganzer Körper drückte Sylea in die Couch. Er thronte über ihr, hatte sich Raum zwischen ihren Beinen erkämpft, damit es schwieriger wurde, nach ihm zu treten. Die feinen Nackenhaare stellten sich auf, als das Vessel ihm einen feurigen Blick schenkte.
      „Ich mein’s erst, lass mich gehen. Es ist wichtig."
      Er vergrub das Gesicht an ihrem gestreckten Hals ließ die Andeutung von Zähnen über die papierdünne Haut gleiten. Eigentlich musste er seine Maul nur ein wenig weiter öffnen um seine Reißzähne in seiner Beute zu vergraben. Er würde sie festhalten, bis sie aufhörte zu zappeln.
      "Nein", knurrte er.
      Cain blinzelte hektisch, als er den eigenartigen Doppelklang seiner Stimme vernahm und begriff. Die Grenzen zwischen dem Grimme und seinem eigenen Bewusstsein verschwammen. Dieses Knurren, dass war nicht er gewesen. In jeder Silbe schwang etwas Bedrohliches mit, das kurz davor stand, vollkommen außer Kontrolle zu geraten. Er war eine tickende Zeitbombe.
      Der Grimm hatte sich an seiner Verzweiflung, seiner Enttäuschung und seiner Wut sattgefressen. Er hatte sich genährt an Cain und Sylea, hatte die Emotionen aufgezehrt, ganz subtil in winzigen Bissen über die vergangenen Tage hinweg, bis er Cains primitivsten Wunsch befeuern konnte. Im Grunde zogen sie an einem Strang. Im Kern aller Bedürfnisse pochte ein Gedanke lauter als alle anderen:
      Sylea musste bleiben. Niemand durfte sie ihm wegnehmen.
      Cain begann zu zittern.
      Es war kein lauerndes Vibrieren mehr, das hier war anders. Seine Muskeln krampften und zuckten.
      Er fühlte die Haut unter seinen Händen, die er zu fest umklammerte.
      Er fühlte ihren Körper, der sich nicht vor Begehren an die drückte, sondern weil er sie an sich presste.
      Er fühlte ihren Widerwillen im silbrigen Schimmer der Aura.
      Cain sah nicht auf, als er stocksteif über ihre verharrte, weil er es nicht wagte Sylea ins Gesicht zu sehen.
      "Lass mich schlafen", murmelte er.
      Atem streichelte über ihren Puls am Hals hinweg, als er ein bedrückten Lächeln gegen ihre Haut presste.
      "Es ist okay."
      Der Seeker erbebte erneut.
      Das unterschwellige Grollen kehrte zurück und Schwärze verschluckte die goldene Aura.
      "Wir werden dich nicht gehen lassen, wenn du es nicht tust."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Cain reagierte fortan nicht mehr auf Worte. Das war ihr ab dem Zeitpunkt klar, in dem er sie angesehen, ihren Worten gelauscht und einfach gehandelt hatte. Erst mit einem weiteren Wimpernschlag schaltete sie vollends ihre Aurensicht ein und stellte mit Erschrecken fest, dass das fade wirkende Schwarz nun fast so dominant wie das Gold ausgeprägt war. Binnen kürzester Zeit hatten sie sich angeglichen, so schnell, dass sie nicht darauf geachtet hatte. Ein nervöses Japsen entkam ihr noch, dann war sein Gesicht aus ihrem Blickfeld verschwunden und sein Atem an ihrem Hals.
      Nein, es war nicht nur sein Atem. Er glitt mit seinen Zähnen an ihrer Haut entlang und erstmals war Furcht Syleas Spielpartner in dieser Angelegenheit. Sie verharrte stocksteif unter ihm, atmete nur noch flach, um dem Grimm, der eindeutig gehörig Einfluss hierbei hatte, nicht noch mehr Spielraum als nötig zu geben. Wie schlau sie damit tat, erschloss sich ihr eine Sekunde später, als Cain ein atypisches Knurren von sich gab, das nur halb von dem Mann stammte, den sie liebte. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinab.
      Also zog Sylea ihren Silberstreif fester um sich, baute ihn auf und schirmte sich mit aller Macht von Cain ab. Damit sie dem Grimm nicht noch mehr zuwarf, damit sie das Zittern, das ihn nun durchlief, nicht noch verstärkt wurde. Sie wollte sich wehren, gegen ihn ankämpfen, das mit jeder ihrer Muskelzellen. Aber sie durfte nicht und kniff die Augen zusammen, um den Drang zu widerstehen. Dann flüsterte Cain etwas und sofort gab sie ein heiseres „Was?“ zurück. Erst danach verstand sie, was er wollte. Nur konnte sie ihn nicht so einfach schlafen legen. Nicht mehr. Ein weiteres Mal ließ er seine Lippen ihre Haut entlang gleiten, ein weiteres Mal löste es einen Schauer aus. Ganz leicht, so weit es ihr möglich war, drehte sie den Kopf, um wenigstens ein bisschen von Cains Körper sehen zu können und bereute es fast augenblicklich. Nach einem weiteren Beben war das Gold fast vollkommen unter dem Schwarz verschwunden und der Grimm trat in den Vordergrund. Die Ambivalenz in seiner Stimme trieb ihr einen Morgenstern in den Magen.
      Woher sollte sie wissen, wie lange sie Cain ausschalten sollte? Wie lange das Treffen mit Baltazar andauern würde und ob ihr Einfluss ausreichte, um zu verhindern, dass Cain im nächsten Moment über Ennis und Mairead herfiel? Viel zu viele Fragezeichen, die mit so einer banalen Lösungsstrategie nicht zu beantworten waren. Das Risiko war zu hoch und deswegen konnte Sylea diesen Weg nicht wählen. Ganz davon zu schweigen, dass sie den Grimm dafür erstmal unterjochen musste.
      „Okay“, setzte sie schließlich angespannt nach, „dann werde ich wohl bleiben müssen, hm? Reicht dir das? Bist du damit zufrieden oder was willst du tun?“
      Du willst ihn füttern? Interessante Strategie.
      Wenn er gesättigt ist, zieht er sich in der Regel zurück und dann komm ich wieder an Cain heran.
      Oh, ich fürchte, du solltest nicht versuchen, ein Wesen mit einem Menschen zu vergleichen. Sicher, sie teilen sich einen Körper und ähnliche Begierden, aber der Grimm ist etwas Urtümliches und die neigen nicht unbedingt zu Sorgfalt.
      Noch immer hatte Sylea streng die Augen zusammengekniffen. Er war doch noch nicht vollkommen ausgebrochen. Er war doch noch nicht so unkontrollierbar, dass sie ihn nicht händeln könnte. Sie würde immer einen Weg finden, um ihm Steine in den Weg zu werfen, aber wieso musste es immer mit Gewalt sein? Sie musste ihn nur ein wenig zum Einlenken bringen und da würde schon nicht viel passieren, wenn sie nach seinen Regeln für einen winzigen Moment lang spielte.
      Schließlich hatte Sylea schon Schlimmeres erlebt.
    • Ein winziger, kaum erwähnenswerter Rest seines Bewusstseins wollte Sylea aus Leibeskräften anbrüllen. Zuerst stocksteif verflüchtigte sich der Widerstand mit jedem neuen Wimpernschlag ein wenig mehr. Binnen Sekunden wurde der Körper des Vessels butterweich unter dem Gewicht, das ihr beinahe vollständig die Bewegungsfreiheit nahm. Sie musste sich zur Wehr setzen, gegen das Monster kämpfen, das danach gierte alle Emotionen zu verschlingen, die es aus Sylea herausquetschen konnte. Cain war dem Irrglauben erlegen, dass sich der Grimm seinem Schicksal fügte und sich mit den wenigen Bröckchen, die er ihm zuwarf, zufrieden gab.
      Cain saß handlungsunfähig auf dem Beifahrersitz seines eigenen Körpers und hatte jegliche Kontrolle an die schattenartige Bestie verloren. Dieses Mal verschwand sein Bewusstsein nicht in der Dunkelheit, sondern er sah bestürzt dem Horrorfilm zu, der gerade vor seinen Augen ablief. Nun war es der Seeker, der sich eingesperrt wiederfand.
      Tiefes Schwarz verfärbte Cains Augen. Selbst das milchige Weiß seiner Augäpfel verschlang es binnen Sekunden. Wer in nun in seine Augen blickte, versank in einer pechschwarzen Leere. Die einst goldschimmernde Aura, vom Grimm überlagert und verdrängt, pulsierte schwach unter den Schatten. Noch behielt der Körper des Seeker seine Konturen bei, denn der schwarze Nebel hatte ihn noch nicht gänzlich verschluckt. Dafür breitete sich eine Kälte, die alle Wärme absorbierte, aus.
      Sylea stellte alle Gegenwehr ein und versuchte den Grimm auf diese Art zu bändigen. Der Versuch ihn mit bedachten Worten zu besänftigen und ihm vorzuhalten, wonach er begehrte, machte das Biest letztendlich wütender. Er begnügte sich nicht mehr mit den Resten, die ihm gnädig überlassen wurden. Die Reste vom Teller waren nicht mehr gut genug. Heute würde er ein Festmahl verspeisen, bis sein unersättlicher Hunger gestillt war.
      Er wollte mehr.
      Er wollte immer mehr.
      "Ob das reicht?", grollte der Grimm mit gestohlener Stimme. "Es wird niemals genug sein. Nie."
      Bei jedem Wort schabten seine Zähne über die zarte Haut ihrer Kehle. Er wollte Angst. Er verzehrte sich nach Schmerz. Er verlangte nach Verzweiflung. Lust und Leidenschaft waren vorzügliche Leckerbissen, aber nichts kam der erfüllenden Geschmack von Angst und Schmerz gleich. Als holte sich der Grimm einen Vorgeschmack leckte er die gesamte Länge ihres Halses herauf bis er den Puls unter der Zunge spürte. Schnell und flatternd, wie die Flügel eines ängstlichen Vogels.
      "Gib mir alles..."
      Seine Fingernägel drückten sich wie stumpfe Krallen in ihre Arme. Es bestand kein Zweifel, dass die Abdrücke noch in Stunden auf der Haut prangen würden. Ebenso wie die Spuren seiner Zähne, als er die Lippen öffnete und so fest zubiss, dass er den metallischen Note von Blut auf der Zunge schmeckte. Der Schmerz explodierte in seinem Wahrnehmungsfeld und entlockte dem Grimm ein fast samtiges, selbstzufriedenes Grollen. Es ging ihm nicht um das Blut oder das Aufbäumen ihres Körper, wie sie begann sich zu winden. Dem Monster ging es allein um die köstlichen Emotionen, die er nun auf einem Silbertablett serviert bekam.
      Cain rüttelte mit aller Macht an seinem Gefängnis, aber es hatte keinen Sinn.
      - Tu etwas! Sylea! Wehr Dich! Lass das nicht zu! ASCAN! -
      Aber es war immer noch nicht genug.
      Cains Körper richtete sich auf. Benebelt von dem süßen Schmerz fassten seine Hände nach dem Kragen ihres Shirts. Die Adern in den Unterarmen traten hervor, als die Nähte unter Protest nachgaben und reißend Stückchen für Stückchen blasse, vernarbte Haut freilegten. Witternd atmete der Grimm den erregenden Cocktail aus Emotionen ein, während Sylea in das Gesicht des Mannes blickte, den sie liebte und der nun mit einem toten, schwarzen Augen auf sie herabsah. Sie die Hände auf ihrem Körper spürte, die sie mit Liebe und Zärtlichkeiten verband und die nun mit Gewalt an ihrem Leib zerrten.
      Mit einem weiteren Ruck riss das Shirt noch weiter auf. Die nackte Haut, die verführerischen Konturen unter dem Stoff interessierten ihn nicht. Er hatte keinen Blick dafür, aber er sog auf wie ein Schwamm, was seine Handlungen auslösten. Er zog und zerrte an ihrer Kleidung, an ihrem Körper.
      Der Grimm kannte keinen Anstand und keine Mäßigung.
      Er kannte nur den Hunger.
      Das Gold begehrte auf.
      - ASCAN! Halt ihn auf, bitte! -
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Hatten wir nicht das Thema, dass das Ding unersättlich ist?
      Wieder ein Augenblick, in dem Sylea eher auf Ascan hören statt ihm misstrauen sollte. Bis jetzt hielt sie ihre Angst als Nervosität getarnt, die Sorge gut verschachtelt unter augenscheinlicher Selbstbeherrschung. Aber die Überlebens sichernden roten Signalleuten in ihrem Kopf, die warnend schrill anfingen zu blinken, als Cain die gesamte Länge ihres Halses entlang leckte, hätten sie schon direkt zu einer Handlung zwingen müssen. Aber Sylea war jung, unerfahren, und traf eine falsche Entscheidung, die sie kurz darauf schwer bereuen würde.
      Unablässig tiefer drückten sich seine Finger in ihre Arme. Sie wusste um die Hämatome, die dadurch entstehen würden, aber das war nichts verglichen zu dem, was sie bisher hatte erleben müssen. Das waren Kinkerlitzchen zu den Versuchen, die man in der Kathedrale an ihr durchgeführt hatte und beständiger Trotz begann in ihrem Kern zu wachsen, als…
      Er ihr ungehemmt in den Hals biss.
      In diesem Moment brach die Illusion, die sich Sylea als Vessel jedes Mal aufbaute, wenn sie wusste, dass unerträgliche Schmerzen zu erwarten waren. Schmerzen, vor denen Ascan sie mehrmals gerettet hatte und der jetzt wie ein Zuschauer nur danebenstand und die Show genoss. Jetzt warf sie sich doch mit ihrem Körper gegen den Seeker, kämpfte gegen seinen klauenartigen Griff an und schaffte es, den Aufschrei in ein würgendes Stöhnen abzuwandeln. Ihre Lider flogen auf, wild umherzuckende Augäpfel starrten zur Decke, während sie prozessierte, was hier gerade falsch lief. Der Schmerz pulsierte in ihrem Hals, so deutlich, dass sie wusste, dass er eine Wunde geschlagen haben musste. Schließlich spürte sie, was das Schwarz ekstatisch aufwallte anhand ihrer Emotionen, die ihn speisten wie der Lebenssaft selbst.
      Noch im Schockzustand registrierte Sylea nicht, dass Cain sie losließ und sich aufrichtete. Sie bemerkte auch nicht die Hände, die sich an ihren Kragen legten. Wie apathisch lag sie da, als das Reißen des Stoffes erklang und sie dazu nötigte, den Blick nach vorn zu richten. Und was sie dort sah verdeutlichte ihr: DAS war nicht mehr ihr Cain, der sich an ihr zu schaffen machte. Diese schwarzen Augen waren Löcher, die alles verschlangen, die so unmenschlich wirkten, dass in ihr alles gefror, was kurz davor noch lebte. Es entfremdete sie so schnell von dieser Person wie nichts anderes auf dieser Welt. Unablässig machte er weiter, riss ihr Oberteil entzwei und plante nicht, hier schon zu stoppen.
      Er würde ihr wehtun.
      Richtig wehtun.
      Meinst du, dein kleiner Seeker wird es sich je verzeihen können, was er dir gerade antut?
      Nein, das würde Cain nicht. Und die andere Methode, die sie hätte benutzen können, brauchte mehr Zeit als der Grimm ihr zugestehen würde. Sie müsste ihn anders bändigen müssen, oder zumindest bewegungsunfähig machen. Also griff sie auf ein Wissen zurück, von dem sie Cain noch nichts offenbart hatte. Von dem er nichts wusste und das Sylea nur mit Ascans Hilfe hatte entschlüsseln können.
      Während er noch weiter an ihr riss und sich nun an ihrer Hose zu schaffen machte, führte sie ihren rechten Zeigefinger an die Stelle, wo er sie gebissen hatte. Ein Zucken durchlief sie bei der Berührung, zahllose kleine Nadelstiche durchfuhren sie und dann hatte sie rot glänzende Flüssigkeit an ihrer Fingerspitze. Damit malte sie eine ganz einfache Rune auf ihren eigenen Handrücken; sie achtete nicht genau darauf, welche.
      Du willst es jetzt ausprobieren? Du weißt doch nicht mal, was zu zahlst! Ascan klang nicht gewarnt, sondern vielmehr höchst euphorisiert.
      Soll ich’s in den Hallen das erste Mal ausprobieren??
      Mittlerweile war Cain von ihr abgestiegen, um ihr die widerspenstige Jeans grob von den Beinen zu reißen. Er kämpfte noch mit den Beinen, das Knurren ging ihr bis ins Mark, doch das Momentum war auf ihrer Seite. Sie frischte das Blut an ihrem Finger noch einmal auf und warf sich dann ohne Vorwarnung nach vorn, um die Füße auf den Boden zu stemmen. Cain, der den Stoff noch in den Fingern hatte, wurde mitgezogen, seine nackten Unterarme schön ausgestreckt. Das Zeitfenster war nur unheimlich klein, deswegen reichte es nur für eine kleine, undeutliche Rune aus lediglich zwei Strichen. Aber die Wirkung stellte sich sofort nach Vollendigung ein.
      Bewegungslos.
      Cain gefror in seiner Bewegung zu einer Säule. Das Schwarz des Grimms flippte völlig aus, unwissend, was genau ihn da plötzlich zur Bewegungslosigkeit trieb. Er kämpfte gegen unsichtbare Fesseln, die die Blutrunen einer Rubra niemals durchbrechen können würden. Zeitgleich schrie Sylea schmerzerfüllt auf, zog ihre linke Hand an die Brust und igelte sich ein, um den Lärm zu dämpfen. Schmerz, noch größer als der, den der Grimm ihr vorhin zugefügt hatte, überflutete ihr System und sie brauchte zig Sekunden, ehe sie sich halbwegs im Griff hatte. Ihr Atem ging schwer, Schweiß stand auf ihrer Stirn, als sie nach einem Stofffetzen ihres Oberteils griff und es um ihre Hand wickelte. Hektisch ging ihr nächster Blick zu den Schlafzimmertüren.
      Eine Sekunde.
      Zwei Sekunden.
      Drei Sekunden.
      Vier…
      Fünf…
      Nichts passierte. Waren sie ernsthaft leise genug gewesen?
      Ihr rastloser Blick ging zu Cain, der noch immer vornübergebeugt dastand, wie sie ihn festgefroren hatte. Die Rune hielt, sehr zu ihrem Erstaunen, sehr solide. Das räumte ihr genug Zeit ein, um die Angelegenheit wieder unter Kontrolle zu bringen.
      Mit zitterndem Körper streckte Sylea ihre Aura nach dem Schwarz aus und weigerte sich, davor zurückzuschrecken. Stattdessen bahnte sie sich ihren Weg hindurch, bis sie das vertraute Gold fand und ein Stück seiner Aura herauslöste. Sie nahm es zu sich, verwob das Gold mit dem honiggelben Gefühl der Zuversicht, das sie mit Müh und Not in sich bilden konnte, und schob sie wieder zurück zum Seeker, wo es sich nahtlos einfügte. Seine Aura verstärkte den Effekt, wodurch sich das Gelb immer stärker ausbreitete und das Schwarz langsam nach unten verdrängte und nur noch Gold und Gelb zurückließ. So machte Ascan das also. Er nahm sich Emotionen und verstärke sie so weit, bis die Betroffenen das taten, was er wollte. Mehr war es gar nicht.
      Es dauerte Minuten, dann war sie fertig und verwischte das Zeichen an Cains Arm. Sofort kehrte das Leben in seinen Körper zurück. Müde und zäh lächelte sie ihn praktisch nackt an, aber sie hatte es wieder unter Kontrolle.
      Ein zweites Mal würde sie nicht mehr riskieren.
      „Wie fühlst du dich?“
    • Neu

      Die blanke Verzweiflung strömte durch das Bewusstsein des Seekers. Eingeengt in dem winzigen Verlies im Zentrum seines eigenen Körpers, sah sich Cain einer nie gefühlten Machtlosigkeit gegenüber. Schutzlos der Willkür des Grimms ausgeliefert, beugte sich sein Körper den monströsen Wünschen der Bestie. Nicht länger Herr über die eigenen Sinne zu sein, übertraf allerdings den Horror nicht, der vor seinen Augen ablief. Augen, die begierig über nackte Haut glitten und abwägten welche Tat den unermesslichen Hunger als nächsten befriedigen sollte. Ein Schauer überfiel Cain, als eine Welle tiefster Zufriedenheit über ihn hinweg schwappte, der er sich nicht entziehen konnte. Er spürte die Hitze, die Gier...und den übermächtigen Wunsch sich zu übergeben. Er fühlte, was der Grimm fühlte. Die Grenzen verschwammen mit den verstreichenden Sekunden und nichts war schlimmer, als das Unwissen, wo der Grimm anfing und 'Cain' aufhörte. Sie waren die zwei Seiten einer Münze, die bereits so schnell um die eigene Achse rotierte, dass ein Unterschied kaum noch erkennbar bar. Und Sylea bewegte sich nicht.
      Sie lag einfach nur da, starrte in sein Gesicht und versuchte unter der verzerrten Fratze Cain zu finden. Der Moment, in dem Cain durch das Blickfeld des Grimm erkannte, dass sie den Anblick vollständig von dem Mann trennte, der sie liebte, erfüllte ihn mit einer unvergleichbaren Erleichterung. Sie sah einen Fremden, nicht Cain. Es war auch der Moment, in dem der Seeker sich aus freien Stücken einem möglichen Ende gebeugt hätte. Lieber ließ er seine gesamte Existenz von Ascan in Stücke zerfetzen und ins Nirvana schicken, als die Kontrolle über seinen Körper noch eine Sekunde länger diesem Monstrum zu überlassen. Er war kurz davor zu flehen und zu betteln, das der Seelendieb sie alle endgültig von dieser Qual erlöste. Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob seine verzweifelten Ruhe überhaupt nach Außen drangen.
      Die Konturen seines Körpers begannen zu zerfallen. Was im Hellgate in einer Explosion aus Dunkelheit geschehen war, schritt nun mehr schleichend voran. Der Schatten, der alles verschlang, befreite sich aus der sterblichen, fleischlichen Hülle. Die Schwärze sickerte augenscheinlich aus jeder Pore seines Körpers und umgab ihn wie ein bedrohlicher, eisiger Nebel, der seiner Umgebung alle Wärme entzog. Die dunklen, leeren Augen wurden in ihren Höhlen sekündlich größer und größer bis die physischen Grenzen aufbrachen. Die Haut um seine Augen und seine Mundwinkel herum schien einzureißen. Sie zersplitterte und entließ noch mehr nebelartige Schwärze in die Freiheit strebte. Der Grimm würden sich allem bemächtigen, was sich in seine Nähe wagte. Er würde nicht aufhören.
      Da ging ein Ruck durch den Körper.
      Eine unerwartete Gegenwehr riss den Grimm nach vorn und in Richtung des Fußbodens. Benebelt von dem köstlichen Festmahl und seiner falsch eingeschätzten Überlegenheit, katapultierte es die hungrige Schattenkreatur beinahe vom Sofa. Etwas berührte ihn am Arm und plötzliche erstarrte der gestohlene Leib zu Stein. Bevor der Grimm ein unmenschliches, zorniges Heulen ausstieß, lähmte die unsichtbare Macht auch seine Stimmbänder. Das zur Unkenntlichkeit verzerrte Gesicht zeigte keine Regung mehr. Lediglich die alles Licht verschluckenden Schatten gerieten außer Kontrolle, sie konnte die erstarrte Hülle nicht halten. In wenigen Augenblicke würden sie Cain mit Haut und Haar verschlingen.
      Die Dunkelheit raubte Cain die Sicht.
      Er war blind.
      Das Geheul des Grimms hallte in seinem Verstand.
      Er war taub.
      Die Stimme verschluckt.
      Er war stumm.
      Der Körper eingefroren.
      Er war gelähmt.
      Für den Bruchteil einer Sekunde war der Gedanke an den Tod erträglicher, als die vollkommene Leere.
      Hatte sich so Scintilla gefühlt, als der Grimm sie verschlungen hatte?
      Sich verlieren.
      Vielleicht fühlte es sich genau so an.
      Cain driftete ins Nichts.
      ...bis er die Augen aufschlug.
      Licht durchrang die Dunkelheit und erfüllte sein Bewusstsein mit einer Wärme, die nichts als Zuversicht und Geborgenheit ausstrahlte. Das Gefühl kehrte in seine Glieder zurück und gab ihm die Kontrolle über seinen eigenen Körper zurück. Die Gesichtszüge normalisierten sich. Es war nicht schmerzhaft aber durchaus unangenehm. Die zuvor gelähmten Stimmbänder würgten ein klägliches Ächzen hervor. All das rückte in den Hintergrund, getragen von der Wärme, die ihn allgegenwärtig erfüllte und stärkte.
      Ein Echo des Silbers durchzog das fragile Gold seiner Aura und der Seeker ließ sich davon zurück an die Oberfläche tragen.
      Das Erste, das Cain sah, war Sylea.
      Sie lächelte, während und der Anblick fühlte sich gänzlich falsch an.
      Die Fingerspitzen hatten seinen Arm kaum verlassen, da floh der Seeker geradezu vom Sofa. Er brachte soviel Abstand zwischen sich und Sylea, wie er im Augenblick ertrug. Mit mühevollen Atemzügen füllte er seine Lungen mit Luft und schluckte die bittere Galle herunter, die seine Speiseröhre hinauf drückte. Er schmeckte Blut auf seiner Zunge. Die Übelkeit überfiel ihn, als er die zerrissene Kleidung ansah, das Blut an ihrer Kehle, die Kratzspuren an ihrem Leib und die blauen Flecken an ihren Armen. Eine ganze Palette an Emotionen flackerten ohne jegliche Kontrolle über sein Gesicht. Keine Zuversicht der Welt, die Sylea ihm einpflanzte, konnte die Abscheu eindämmen, die sich langsam ausbreitete. Der Wunsch, Sylea tröstend in die Geborgenheit seiner Arme zu ziehen, löste nichts anderes aus als einen beinahe übermächtigen Brechreiz.
      Cain wich zurück bis sein Rücken gegen die Haustür stieß und starrte auf seine Hände.
      Er dachte nicht an Ennis oder Mairead.
      Er dachte nicht an die Rubras.
      Oder den Babylonier.
      Oder Ascan.
      Es pochte nur ein Gedanke in seinem Schädel.
      Er dachte nur daran, was er Sylea hätte antun können.
      Nein, der Grimm.
      Er hatte das getan.
      Mit seinen Händen.
      "Warum tust du nie, was ich dir sage?", würgte er hervor.
      Ein unfairer Vorwurf, den Cain sofort bereute, aber nicht zurücknahm, obwohl die unangenehme Frage gegen die Innenseiten seines Schädels drückte, welchen Preis sie dieses Mal bezahlt hatte. Er beäugte den Stofffetzen um ihre Hand. Was hatte sie geopfert um den Wahnsinn zu beenden? Er leckte sich über die blutverschmierten Lippen, ehe er hektisch mit dem Handrücken darüber wischte.
      "Das war verdammt gefährlich!", zischte Cain ungehalten.
      Es dauerte einen Augenblick bis er seine Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.
      Wieder blickte er auf ihre Hand.
      "Was hast du getan?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
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      Sylea hielt sich nicht mehr aufrecht sitzend, sondern sackte flach atmend in das Sofa zurück. Sie hatte den Blick an ihrem eigenen Körper noch nicht hinabwandern lassen, aber sie spürte das Brennen und Ziehen von den Griffen des Grimms. Ohne hinzusehen wusste sie auch so, dass ihr Körper nunmehr aussah wie ein Schlachtfeld als alles andere. Das klebrige Gefühl an ihrem Hals machte es dabei nicht besser. Das Krönchen war nur noch Cains Blick, dieser zutiefst schockierte und angewiderte Blick, mit dem er das Vessel nun musterte und ihr das Lächeln schließlich komplett aus dem Gesicht fiel.
      „Ich konnte nicht“, war ihre trockene Antwort darauf, während sie die eingewickelte Hand weiterhin fest drückte und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Jetzt begann sie doch zu frösteln, ein Schütteln durchlief ihren Körper mit einer Gnadenlosigkeit, sodass sie sich doch wieder aufsetzen und gleich nach etwas zum anziehen suchen musste. Sollte Ennis sie so vorfinden, wollte sie nicht solche Fragen beantworten. „Und dass das gefährlich war, ist mir auch schon aufgefallen. Danke der Nachfrage.“
      Ächzend kam sie auf die Beine, um zu ihrem Rucksack zu schlurfen und mit ihrer unverletzten Hand darin zu wühlen. Ans Licht förderte sie einen neuen Pulli und einen BH, nach ein bisschen weitergraben auch einen Slip. Die Jeans hatte den Angriff wenigstens überstanden, den Rest hatte der Grimm einfach zerrissen.
      „Was ich getan habe? Dich aufgehalten mit einem Blutsiegel. Schon vergessen, worin die Rubras so fantastisch sind?“, murrte sie, stieg umständlich aus der Jeans, um sich den Slip anzuziehen und sich wieder vollends zu kleiden. Dass sie den Pullover mit kleinen Blutstriemen darunter verunstalten würde, war ihr vorerst egal. Aber als sie sich den Pullover überstülpte, berührte sie ihren Hals und zuckte zusammen. Es blutete noch immer, was ihr ein leises Fluchen entlockte. „Du musst etwas bezahlen, damit die Siegel wirken. Je mächtiger das Siegel, desto höher der Preis.“
      Sie wickelte den Fetzen von ihrer Hand ab und um ihren Hals. Hübsch sah es mit Sicherheit nicht aus, aber es erfüllte vorerst seinen Zweck. Ihr war schwindelig und noch immer eiskalt und wenn sie sich jetzt hinsetzen würde, kämen auch die Erschütterungen zurück. Deswegen hielt sie sich in Bewegung, gab ihrem Körper keine Ruhe. Stattdessen präsentierte sie dem Seeker ohne hinzusehen ihre linke Hand, an der ihr bis auf den Daumen sämtliche Fingernägel komplett fehlten. Als wären sie ausgerissen worden.
      „Man weiß den Preis in der Regel vorher nicht. Das macht es so unberechenbar.“ Sie zeigte ihm den Handrücken, wo das Gegenstück der Rune noch prangte. „Als man mich Ascan vorgeworfen hatte, war mein kompletter Körper bemalt worden. Die Bezahlung für das Versiegeln war mein Leben und nicht Ascan, der meine Seele zerstört haben sollte. Eigentlich war ich schon tot bevor er etwas hätte tun können, aber naja.“
      Sylea biss sich auf die Unterlippe und betrachtete nun doch ihre Hand. Ja, die Nägel waren fort, aber es blutete immerhin nicht so brutal, wie sie gedacht hatte. Vielleicht waren sie ja auch nur aufgelöst worden, anstelle physisch herausgerissen. Trotzdem wusste sie nicht recht, was sie von dieser Macht halten sollte. Ein zweischneidiges Schwert, im wahrsten Sinne des Wortes.
      Nach einem tiefen, zittrigen Atemzug sah sie nun doch zu Cain, der seinen Standpunkt noch immer nicht verlassen hatte. Eigentlich wollte sie es nicht so phrasieren, aber er ließ ihr keine andere Wahl.
      „Jetzt ist der Grimm weg. Ich lass‘ mich kein zweites Mal aufhalten und ich warne dich vor. Du bleibst hier und wartest auf mich, verstanden? Versuchst du ein zweites Mal mich aufzuhalten, werde ich mich ernsthaft wehren.“
    • Neu

      Mit seinen barschen Worten hatte er Sylea anscheinend härter getroffen als er beabsichtigt hatte. Wobei, mit Absicht geschah hier gerade rein gar nichts. Das Echo des Kontrollverlustes ließ Cain erschaudern.
      "...Danke der Nachfrage", beendete Sylea trocken ihren Satz.
      Der Seeker zuckte kaum merklich zusammen und presste die Hände flach gegen die Tür in seinem Rücken. Regungslos beobachtete Cain wie das Vessel steif und ächzend auf die Beine kam. Es war grotesk, dass sich ihr geschundener Körper erst in Bewegung setzen musste, damit er das gesamte, grausige Ausmaß begriff. Der Grimm hatte ganze Arbeit geleistet. Es beruhigt ihn auch nicht, dass Cain wusste, dass die Kreatur in seiner Brust nicht bis zum Äußersten gegangen wäre. Der körperliche Aspekt war für den emotionshungrigen Schatten vollkommen uninteressant. Der Gedanke befeuerte lediglich, dass Cain sich beinahe an Ort und Stelle übergeben hätte. Es widerte ihn an, dass diese Seite in ihm schlummerte. Nie wieder durfte er die Kontrolle verlieren, auch wenn das bedeutete, dass er Sylea das gab, was sie im Bad von ihm verlangt hatte. Er musste zulassen, dass sie ihn wegstieß und die Kluft zwischen ihnen vergrößern. Von Anfang an war er zu nah dran gewesen.
      'Du musst darauf vorbereitet sein, dass du sie gehen lassen musst, Junge.'
      Wieder waren da Ennis' Worte in seinem Kopf. Exakt diese, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen.
      "Ich hab' es nicht vergessen", presste er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor.
      Nicht vergessen, aber verdrängt. Sylea benutzt die Runen der Rubras nur im Notfall und führte ihm gerade auf grausamste Weise vor, warum. Schockiert sah Cain auf die blutverschmierten Fingerkuppen. Die Nägel fehlten. Eine unsichtbare Macht hatte sie einfach aus der Haut gerissen. Zweifel fraßen sich in ihn. Hätte Sylea eine Rune verwendet um ihn in Schlaf zu versetzen? Hätte sie einen ähnlichen Preis für diese Bitte zahlen müssen? Der Seeker bis sich so fest auf die Innenseite seiner Unterlippen, dass zu dem Geschmack von Syleas Blut noch sein Eigenes schmeckte.
      Kurz zuckte Cain ein wenig von der Tür weg, aber nur, um sich gleich wieder zur korrigieren. Er würde ihr nicht näher kommen als notwendig. Schweigend lauschte er ihrer Erklärung und ließ zu, dass sich die Kälte unaufhaltsam in seinen Adern ausbreitete.
      "Vielleicht solltest du damals nicht überleben, Sylea, aber du hast es. Du bist am Leben", trotze Cain, bei dem lapidaren 'Naja' zuckten seine Augenwinkel. "Nur weil du damals sterben solltest, ist das kein Grund alles mit Füßen zu..."
      Er kam nicht weiter, denn Sylea unterbrach ihn.
      Die Härte in ihrer Stimme war ihm fremd.
      Noch befremdlicher war, dass er keine Spur von Ascan darin fühlte. Er fühlte sich wie ein ungezogenes Haustier, dass gerade in seine Schranken verwiesen wurde. Passend dazu, ertönte ein schwaches Knurren.
      "Ich wünschte, du hättest ernsthaft versucht, bevor ich dir das antun konnte."
      Nicht er. Ich.
      Damit trat Cain zur Seite und gab den Zugriff auf die Tür frei. Sylea hätte jede beliebige Tür nutzen können. Der Akt war mehr symbolisch. Mit einem schweren Seufzen glitt der Seeker langsam an der Wand herunter und verharrte bewegungslos neben der Tür, wie der klägliche Abklatsch eines Wächters. Er nickte geschlagen.
      Das Gold seiner Aura zog sich eng um seinen Körper zurück. Es war ruhig und mutete so glatt an, dass alles, das sich im näherte womöglich daran abprallte. Er suchte seinen Anker nicht bei Sylea, sondern schloss konzentrierte die Augen. Viele Worten drängten sich auf seine Zunge. Die meisten davon begleiteten den Wunsch, die verletzte Frau auf Knien um Gnade anzubetteln, doch Cain driftete bereits in eine Form von Meditation ab, die er lange nicht mehr angewendet hatte und die ihn von allem abschirmen würde. Zumindest für eine Weile. Am Ende kam nur ein Wort heraus.
      "Geh."

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      This is the problem with even lesser demons.
      They come to your doorstep in velvet coats and polished shoes.
      They tip their hats and smile and demonstrate good table manners.
      They never show you their tails.

      [The Language of Thorns - Leigh Bardugo]


      Mit einer engelsgleichen Geduld, die nur die Ewigkeit zu lehren vermochte, verschränkte der Babylonier die Hände in seinem Rücken. Nachdenklich glitt sind Blick über die Konturen der alten Ruine, die sich am nächtlichen Horizont aus dem Wüstensand emporhob. Von dem einstigen Glanz der berühmten Metropole war nichts mehr übrig außer karger Fels und den laienhaften Rekonstruktionen dieser Pfuscher, die sich selbst als Wissenschaftler und Historiker bezeichneten. Niemand, der Babylon nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte die Faszination dieser Stadt auch nur ansatzweise nachvollziehen. Die Sehnsucht, die Babylon in den Herzen jener geweckt hatte, die am Ende einer langen Reise die prächtigen Gärten, das kristallklare Wasser in den Kanälen und die aus weißem Stein erbauten Gebäude erblickt hatten, konnten sie nicht verstehen.
      Ein Juwel inmitten der kargen Wüste war Babylon gewesen. Eine reale Fata Morgana. Das verheißene Land unter einer erbarmungslosen Sonne und eine Zuflucht in finsterer Nacht, die nun von den weitentfernten Lichtern des neuzeitlichen Bagdads etwas erhellt wurde. Die grellen Stadtlichter trübten selbst aus großer Distanz den Nachthimmel, so dass Baltazar ein wenig Mühe hatte die altvertrauten Sternenkonstellationen aufzuspüren. Die Welt hatte sich gewandelt, seit er das letzte Mal einen Fuß in diesen Wüstensand gesetzt hatte. Obwohl nachts beinahe frostige Temperaturen herrschten, schritt der Babylonier mit nackten Wüsten durch den feinen Sand. Er spürte die winzigen Körnchen, die zwischen seinen Zehen hindurchrannen und die kleinen Steinchen, die seine Fußsohle kitzelten. Tiefer grub er die Zehen in den Sand und müsste der Konstrukteur eine Definition für das Gefühl ‚nach Hause kommen‘ verfassen, würde er diesen Augenblick beschreiben.
      Eine Veränderung in der friedlichen Atmosphäre stoppte Baltazar in seinem nächtlichen Spaziergang. Mit einer galant hochgezogenen Augenbraue warf er einen Blick über die Schulter in Richtung des schlichten Beduinenzeltes, dass unscheinbar zwischen ein paar aufgetürmten Felsbrocken platziert war. Die groben Stoffbahnen, die Wände und Decke des Zeltes bildeten, hielten nachts die Kälte und tags die Hitze fern. Ein wenig hatte Baltazar mit seinem Geschick als Konstrukteur dabei nachgeholfen. Das extreme Wüstenklima zehrte deutlich an seinem derzeitigen, sterblichen Gefäß und der Luxus moderner Klimaanlägen hatte seine Hitzetoleranz sicherlich nicht gefördert. Seine Aufmerksamkeit lag ganz allein auf dem zugeschlagenen Eingang des Zeltes, als er eine Erschütterung in einem Konstrukt spürte. Eine sanfte Vibration, die durch den Sand reichte und sich bin die letzte Faser seines Körpers übertrug. Ein kaum merkliches Lächeln zupfte an seinen Mundwinkel und wollte ihm doch nicht bis zu den Augen reichen. Die Mimik, die er mit freudiger Erwartung verband, stammte allein aus einer Erinnerung. Die kleine Rubra hatte sein großzügiges Geschenk also nicht entsorgt und offensichtlich hatte sie sich endlich dazu entschlossen, dessen Nutzen auf die Probe zu stellen. Baltazar hatte sich bereits gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis sie ihn aufsuchte. Irgendwann hätte er sicherlich den Spuren, die seine kaum erwähnenswerten Manipulationen durch seine Aura im Bein des Seekers oder des augenscheinlich nutzlosen Schlüssels im Weltgefüge hinterließen, gefolgt, aber wenn etwas im Überfluss besaß, war es Zeit.
      Baltazar trat an die zweckmäßige Feuerstelle heran, die er vor dem Beduinenzelt entzündet hatte und ließ sich elegant in einem Schneidersitz nieder. Über dem Feuer hing ein altertümlicher Teekessel aus gehärtetem Ton. Die Oberfläche war zweifellos von Hand bemalt, ebenso wie die der kleinen Tonbecher ohne Henkel. Eine sanfte Brise trug den orientalischen Duft von Zimt, Vanille und Nelken in das gemütliche Zelt. Sein unangekündigter und dennoch erwarteter Besucht würde beim ersten Schritt aus der hölzernen Falltür am Boden weiche, edle Webteppiche unter seinen Füßen spüren. Natürlich besaß das Zelt keinen ‚magischen‘ Keller und sicherlich hätte der Konstrukteur eine Tür in den Stoffen der Zeltwände bewerkstelligen können, aber das hätte nicht den gleichen Effekt erzielt. So erblickte der Besuch während er die hölzerne Klappe öffnete Stückchen für Stückchen das kleine Wunder, das Baltazar aus Fels und Sand geformt und gewandelt hatte. Großzügige Sitzgelegenheit mit weichen Fellen und Kissen mit fernöstlichen Stickereien luden zum Verweilen ein. In einer goldenen, mit Gravuren verzierten Goldschale glühte Räucherwerk und verströmte einen süßen, rauchigen Duft, der sich perfekt abgestimmt mit der Note des Tees vermischte. Die Lichtquellen im Zelt bestanden aus Laternen, mit geschwärztem Eisen und Glas gefertigt. Die einzelnen Elemente waren kunstvoll gebogen und gedreht. Die Szenerie wirkte alt und bar jedes modernen Schnickschnack. Alles ähnelte der extravaganten Ausstattung in seinen alten Privaträumen im Archiv, nur, dass es sich nun auch für Baltazar selbst echt anfühlte.
      Lediglich auf die traditionelle Kleidung hatte der Babylonier verzichtet. Es war ein seltsames Bild, wie er im schwarzen Anzug mit der fragwürdig, gemusterten Weste vor dem Feuer saß. Die teure Anzughose hatte er bis zu den Knöcheln hochgekrempelt und die polierten Schuhe standen am Zelteingang.
      Prüfend warf er einen Blick zum Zelt, aus dessen Inneren er das unnötige, aber stimmungsvolle Knarren der Türscharniere vernahm. Das aufgesetzte Lächeln auf seinen sonst regungslosen Gesichtszügen wurde breiter. Seelenruhig goss Baltazar, wie es sich gehörte um die alten Traditionen zu ehren, etwas Tee in einen der kleinen Tonbecher. Er horchte in die Welt hinein. In den kalten Sand, den leblosen Felsen, die heiße Glut, das vertrocknete Gras. Er spürte die junge Sylea Rubra und den alten Seelendieb Ascan in seine Realität treten. Der Babylonier stutzte kurz. Vor einer Weile noch, war es wesentlich einfacher gewesen, die Differenz in den Auren zu erspüren. Dennoch, war eine Aura ohne Zweifel in diesem Augenblick dominanter.
      „Sylea Rubra…“, sprach Mortimer beinahe andächtig, noch bevor er das Rascheln der Tücher vernahm. „Welch unverhofftes Vergnügen, dass Du mir ausgerechnet heute Abend Gesellschaft leistest und ganz ohne Deinen misstrauischen Leibwächter. Ärger im Paradies, meine Liebe?“
      Der Babylonier gluckste und schlug einen unverbindlichen Plauderton an.
      Er spürte das Ungleichgewicht, das Sylea umgab und mit einem flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel musterte er ihre augenscheinlich gefasste Erscheinung. Fürs Erste ließ er den notdürftigen Verband um ihre Hand unkommentiert und auch die dunkeln Schatten unter ihren Augen. Von den eindeutigen Bisswunden und Kratzern an ihrem Hals ganz zu schweigen, die sie versuchte mit einem Stofffetzen zu verbergen. Mitgefühl war ihm vor langer Zeit abhanden gekommen. Jedenfalls glaubte er das, denn er hatte vergessen wie sich die Empfindung äußerte.
      "Bist Du, nein, seid ihr gekommen um mir das Versprochene zu bringen?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”