Jolene Forgefield:
„Was liest du da?“ - „Hm?“ Blinzelnd linste Jolene über den Rand ihrer Zeitschrift zu dem grünen Paaraugen, das sie tellergroß anschaute. Die kleine Steffanie hatte die Hände hinterm Rücken versteckt und wippte leicht auf ihren Füßen, indem sie sacht auf die Zehenspitzen ging und sich wieder absenkte. Jolene setzte ein Lächeln auf. „Oh das? Das ist nur eine Modezeitschrift. Interessiert du dich auch für Mode?“, fragte sie mit so viel Enthusiasmus in der Stimme wie sie nur konnte und zeigte dem kleinen Mädchen dabei demonstrativ das Cover, auf dem Florence Pugh zu sehen war. Steffanie schien ein wenig skeptisch und schnaubte leicht.
„Also Papa sagt immer, Frauen, die so etwas lesen haben keinen Respekt vor sich selbst.“ Oh, das saß hart. Schockiert über den verbalen Slam Dung einer 9-jährige konnte Jolene nur die Augenbrauen in die Höhe reißen. „Ich… eh… Echt?“, begann sie zu stottern, ehe sie sich schnell mit einem Räuspern fing. „Nein, ich mag sowas. Hier sind viele schöne Klamotten drin in bunten Farben. Magst du dir das mit mir zusammen ansehen?“ Steffanie zuckte die Schultern, kletterte allerdings im selben Atemzug auch schon zu ihrer Babysitterin auf die Couch und landete in ihrem Schoß. Die Barbies mit denen sie zuvor gespielt hatte, ließ sie achtlos und vergessen einfach auf dem Boden zurück.
Jolene machte das wirklich gerne. Ehrlich! Seit drei Jahren passte sie gelegentlich auf Steffanie auf. Doch langsam aber sicher wurde die Kleine wirklich aufmerksam und Jo verstand, warum ihr Vater diese Abenden außer Haus wirklich gebrauchen konnte. „Was steht da?“, patschten ihre Finger direkt auf eine der Seiten und sie wählte ein willkürliches Wort. „Und hier? Und da? Worum geht es hier?“ Jolene bewies Geduld und las ihr alles vor, was sie wissen wollte, bis sie beide zu dem Artikel kamen für den die verzweifelte Schülerin überhaupt erst die Zeitschrift gekauft hat. Es ließ sie seufzen. „Wie gefalle ich meinem Schwarm. 10 Taktiken, um ihn dazu zu bringen dich zu bemerken“, las Jolene der kleinen Steffanie vor. Diese bemerkte die Veränderung in der Stimmung und schaute mit großen Augen zu der Älteren rauf.
Sie imitierte ihr Seufzen und schmiss sich noch ein bisschen mehr in die Arme des Mädchens. „Also Papa sagt immer, wenn eine Frau einem Mann gefallen will, darf sie nicht zu haben sein.“ Jolene senkte das Magazin und schaute das kleine Ding auf ihrem Schoß erneut komplett erstaunt an. „Was?“ Steffanie nickte sehr eindringlich. „Hat Papa gesagt!“ Das Mädchen nickte. „Was… dein Papa nicht alles sagt…“ Kopfschüttelnd beendete Jolene das Thema einfach. Wenn es ihr auch nicht aus dem Kopf ging.
Wenn eine Frau, einem Mann gefallen möchte, darf sie nicht zu haben sein? In verfügbar? In vergeben? In einer Beziehung? Am Abend lag das Mädchen kopfüber in ihrem Bett, starrte an die Decke und spielte mit ihren langen braunen Haaren herum. Es gab Filme zu der Thematik. Der Held, der erst erkennt was ihm entgeht, wenn die Heldin im Begriff ist seinen besten Freund zu heiraten. Augenblicklich kam ihr das Bild von Bens bestem Freund Frank in den Sinn und mit einem angewiderten Ton schüttelte sie sich. „Igitt, igitt! Pfui! Nein! Raus aus meinem Kopf!“ Als könnte sie die Gedanken ungesehen machen legte Jolene sich die Hände aufs Gesicht. „Nein das ist definitiv keine Option!“, nuschelte sie zu sich selbst.
„Joey Liebling! Essen ist fertig!“ - „Komme, Mum!“
Vielleicht könnte sie was mit jemandem aus ihrer Klasse was anfangen, dachte sie sich am nächsten Tag im Unterricht. Der Gedanke wollte und wollte sie nicht los lassen. Felix vielleicht? Jolene mochte seine schwarzen Locken. Sie sah unauffällig zu ihm herüber. Nein. Nein, das war es nicht. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Generell konnte sie sich nicht vorstellen plötzlich mit irgendeinem Mann etwas anzufangen. So ganz ohne Gefühle. Und wenn es nur zum Schein gewesen ist? Quasi eine Abmachung? Wir tun nur so und gehen unsere getrennte Wege nach der Schule.
Jolene runzelte die Stirn, während ihre Wange noch auf ihrer Hand lehnte. Nein, auch das fühlte sich… nicht ganz… richtig an. Männer verstanden so schnell so viel falsch. Und welchem Jungen konnte sie schon trauen, dass er sich nicht einfach einen Spaß daraus machen würde und es direkt Ben erzählt. Oder angab oder sonst irgendwas.
„Du bist aber still heute, Joe! Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“, stieß eine ihrer Freundinnen sie mit dem Ellbogen an, als sie in der Kantine beim Mittagessen gewesen sind und plötzlich war Jolene wie aus einer anderen Welt heraus gerissen. Die anderen am Tisch lachten über ihren bedröppelten Ausdruck, als sie erschrocken neben sich sah. Beinahe in einer Panikreaktion fing sie an mitzulachen. Sogar am lautesten. „Klar! Ich hatte letzte Nacht einen Alptraum, dass unser Geschichtslehrer sich in einen riesigen Wurm verwandelt hat“, log sie irgendwelchen Schwachsinn, doch ihre Freunde spielten mit und fingen an das Gespräch in diese Richtung zu lenken. „Habt ihr es schon gehört? Dieser Tommy aus der achten! Der ist schwul! Er ist jetzt zusammen mit einem der Artkids!“, erzählte Grace mit einem breiten Grinsen und Ben schien das erste Mal interessiert an der Unterhaltung der Mädchen zu sein. Er saß mit Frank bei Kopf und sie beide sind in ihrem eigenen Gespräch gewesen.
„Echt jetzt?“, fragte er erstaunt. „Der Sohn des Coaches? Tommy Miller? Scheiße, ist er deswegen so mies drauf momentan und scheucht uns wie wild durch die Gegend?“, wendete er sich am Ende wieder an seinen besten Freund und dieser zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern und lehnte sich zurück. „Soll sein Sohn doch Schwul sein. Was ist heute schon dabei?“ Ein Paar der Mädchen am Tisch um Jolene herum machten Kommentare und fragten Frank woher der plötzliche Liberalismus kam.
Tommy und ein anderer Junge aus der achten? Zwei Jungs? Sehr genau beobachtete Jolene die allgemeine Stimmung am Tisch. Homosexualität schien einstimmig kein großes Thema zu sein. Klar machten sie hier und da ein paar Sprüche. Aber eigentlich verlautete die gesamte Truppe, dass es daneben wäre etwas gegen Schwule zu sagen. Galt das auch… für Lesben? Irgendwann an diesem Tag endete Jolene auf einer Treppe im Flur und schaute nachdenklich nach draußen. Eine vorgetäuschte Beziehung mit einer Frau… Warum eigentlich nicht? Die Brünette versuchte sich vorzustellen wie es wäre von einem Mädchen umarmt zu werden oder mit ihr Händchen zu halten vor den anderen. Und sie konnte nichts verwerfliches daran erkennen. Sie würde sich sicherer fühlen als mit einem Mann.
Ben hatte aufgesehen als es um Tommy ging. Er hatte also trotz allem zugehört und wenn es auch nur am Rande gewesen ist. Vielleicht würde ihn das ja wirklich interessieren. Vielleicht würde es Jolene interessanter machen. Aber wen könnte sie denn fragen? Das war ja fast schwieriger als einen Kerl dafür zu finden.
Die kommende Woche war Jolene sehr intensiv auf der Suche nach einer festen (fake) Freundin. Und irgendwann, nach einer langen Liste, die sie wegstreichen konnte kam sie dann schließlich auf Evelyn Collins. Sie beide waren in einer Klasse. Eve war sehr hübsch aber immer ein bisschen allein. Sie war groß und plötzlich stellte Jolene sich vor, dass sie beiden gut zusammen aussehen würden. Vor allem da die Brünette nun selbst ja angefangen hatte weiblicher mit sich selbst umzugehen. Wäre das nicht fast wie in einem Hollywoodfilm? Ihre Augen wanderten immer öfter zu Eve. Wann immer sie in der Nähe gewesen ist, schien Jolene das regelrecht zu spüren und sofort ihren Blick zu ihr zu wenden.
Das wars! Sie hatte sich entschieden! Sie wollte mit Eve (zum schein) zusammen sein! In einer Freistunde lauerte sie der schwarz-haarigen ein wenig auf und überfiel sie, als sie gerade draußen auf einer Bank Platz nahm. „Hi!“, grüßte Jolene sie strahlend und kam auf sie zu. „Wie geht’s? Wir haben irgendwie länger nicht mehr miteinander geredet!“ Puh, jetzt wurde sie irgendwie doch ein wenig nervös. Zumindest nun, da sie sich gegenseitig in die Augen sehen konnten. „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest… naja… Meine feste Freundin zu sein!“ Es bedarf einer langen Stille, bis Jolene begriff, dass sie einen kleinen Teil ausgelassen hatte. „Oh! Äh! Ich meine nicht wirklich! Also nicht so richtig! Sondern nur so… zum Spaß! So tun als ob! Damit… jemand den ich mag mich endlich wahrnimmt und das Gefühl bekommt ich entrinne ihm?“ Sie setzte ein flehendes Lächeln auf. „Bitte, bitte?“
