[2er RPG] Burning Desire

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    • Julia hob den Kopf, damit sie Carson ansehen konnte. "Ja, das bist du." Obwohl sie lächelte lag in ihrer Stimme ein ernster Unterton, der keinen Zweifel daran ließ, wie ernst sie diese Aussage meinte.

      Der Spaziergang war genau das richtige für die junge Frau. Zum ersten Mal seit langem hatte sie wieder das Gefühl richtig durchatmen zu können. Immer wieder ließ sie ihren Blick durch die Natur streifen und betrachtete die Umgebung, als würde sie diese zum ersten Mal richtig sehen. Nach der langen Zeit in der Dunkelheit hatte sie das Gefühl, ihre Umgebung zum erste Mal richtig zu schätzen. Bisher war sie immer ein Stadtkind gewesen.
      Sie nickte langsam, als Carson ihr von seinen Plänen erzählte. Auch im Krankenhaus hatte man ihr geraten mit einem Psychologen zu sprechen. Denn auch wenn ihr Körper unbeschadet geblieben war, so war es ihre Seele nicht. "Kannst du mir ein Beispiel nennen, wann du etwas falsch gemacht, oder mich nicht unterstützt hast? Mir fällt nämlich keine Situation ein.", gab sie trocken zurück und legte fragend den Kopf zur Seite. Dass der sonst so selbstbewusste Geschäftsmann dermaßen an sich selbst zweifelte, war ungewohnt für sie. "Vielleicht solltest du auch mit jemandem sprechen. Du hast in den letzten Wochen genauso gelitten wie ich und ich kann nichts für dich tun, da du dich die ganze Zeit nur um mich kümmern und auf mich Rücksicht nehmen willst. Das soll kein Vorwurf sein, ich mache mir nur Sorgen."
      Sie schloss ihre Hand ein wenig fester um seine. Sie wollte Carson wirklich nicht verärgern, denn sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn er sie verließ.

      Einige Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her. "Weißt du, wann die Gerichtsverhandlung ist? Bevor wir losgefahren sind, gab es noch keinen Termin." Da sie sowieso gerade über unangenehme Themen sprachen, beschloss Julia dass sie auch gleich diese Sache hinter sich bringen konnte. "Der Anwalt sagte, dass ich nicht aussagen brauche, aber es schneller zu einem Urteil kommen wird, wenn ich dort auftauche. Weil die Geschworenen Mitleid mit mir haben, oder sowas..." Sie zuckte leicht mit den Schultern. "Meinst du, ich sollte vorher mit Chase reden?"
    • Carson verstand den Punkt, den Julia vertrat. Dennoch wollte es nicht in seinen Kopf hinein.
      "Erstmal musst du wieder fit werden. Danach kümmern wir uns um alles andere", antwortete er darauf und drückte einen Kuss auf Julias Handrücken.
      Er lauschte den trotzigen Vögeln, die sich bereits auf Partnersuche begaben, um allen anderen etwas voraus zu haben. Eigentlich ganz clever. Männchen, die den Winter so gut wegsteckten, dass sie jetzt schon hier rumhingen und um die Gunst der Weibchen buhlten, mussten doch gutes Genmaterial haben.
      "Willst du das wirklich tun? Das ist ein klarer Fall, der kann nur auf eine Art ausgehen", entgegnete er auf Julias Frage hin.
      Aber als er ihren Blick sah, wusste er, dass sie das durchziehen würde. Er bewunderte sie ein bisschen dafür. Er würde diesen Scheißhaufen nicht einen Funken Aufmerksamkeit mehr schenken. Aber sie wollte ihnen gegenübertreten und dafür verantwortlich sein, dass sie weggesperrt wurden. Julia war sehr viel stärker als sie immer tat.
      "Du vergisst, dass Chase unser Anwalt ist. Er wird derjenige sein, der mit dir in diesen Gerichtssaal geht. Er wird dich briefen und vorbereiten und so weiter. Der Staatsanwalt macht die ganze Arbeit, aber Chase ist so oder so da, um unsere Interessen als Nebenkläger zu vertreten. Das klingt alles furchtbar kompliziert und eigentlich ist Chase auch als Wirtschaftsanwalt für Davis Industries. Aber er hat auch einen Abschluss in Strafrecht also... Ich quatsche schon wieder."
      Mit einem leisen lachen schüttelte Carson den Kopf. Sein Blick richtete sich in gen Himmel, der - typisch für Main zu dieser Jahreszeit - voller hellgrauer Wolken war, von denen man nie wusste, wann sie sich dazu entschieden, zu regnen.
      "Ein Datum steht noch nicht fest. Mein letzter Stand ist, dass die Beweise gesichtet werden und die Anträge auf Kaution für beide abgelehnt wurden. Die gehen also nirgendwo hin, bis sie endgültig hinter Schloss und Riegel gepackt werden."
    • Einen Moment lang betrachtete Julia einen Vogel, der auf einen dünnen Ast saß, der unter seinem Gewicht bedenklich nachgab. "Ich möchte ihn sehen, weißt du?", sagte sie leise, ohne Carson anzusehen. "Ich kenne zwar den Namen, aber ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Vielleicht ist es falsch, aber ich will sehen, wer uns das angetan hat. Und ich will ihnen beiden ins Gesicht sehen und ihnen sagen, dass ich ihnen das niemals verzeihe. Weder was sie mir angetan haben, noch was sie dir angetan haben." Bis heute bereute Julia, dass sie diese Worte damals nie zu ihrem Ex-Freund gesagt hatte. Aber diesmal war die Sache anders. Sie hatte lange darüber nachgedacht und war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass sie nichts falsch gemacht hatte. Bei Simon hatte sie immer etwas gefunden, wodurch sie ihn provoziert hatte, aber den Entführer hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Und selbst davor hatte sie kaum mit ihm gesprochen.
      "Ich weiß gar nicht, ob es gut ist, wenn die ins Gefängnis kommen. Sie haben einen Psychologen nötiger als ich.", Julia lachte, aber es klang leer.

      Erneut kehrte kurz Stille zwischen ihnen ein. "Aber genug davon. Du wirst mir bescheid sagen, wenn Chase sich mit mir treffen will. Bis dahin versuche ich mir keine Sorgen wegen der Verhandlung zu machen.", beschloss sie und trat etwas näher zu Carson.
    • Carson schwang seinen Arm um Julias Schultern und küsste sie auf die Schläfe, so wie er das immer macht.
      "Woher nimmst du nur die Stärke für sowas?", fragte er leise, erwartete aber keine wirkliche Antwort.

      Es war zwar bereits Anfang März, aber in Main hatte das nie besonders viel zu sagen. Hier war es immer noch schweinekalt - gerade im Vergleich mit San Francisco - und vor allem nass. Immerhin schneite es nicht; ein durchaus mögliches Szenario.
      Carson und Julia beendeten ihre Runde durch den Garten und verkrochen sich dann wieder ins Haus, als ihnen einen steife Böe bis in die Unterwäsche kroch. Der Frühling ließ also doch noch auf sich warten.

      Drinnen roch es bereits nach was auch immer Carsons Köchin gerade zauberte. Es schien exotisch zu sein, bedachte man die Menge an Gewürzen, die in der Luft lagen. Auf eine kurze Nachfrage hin verbannte Luela den Herren des Hauses mit zwei Tassen Tee aus ihrer Küche und sagte, das Essen sei fertig, wenn es fertig sei. Mit einem etwas verdatterten Gesichtsausdruck kehrte Carson zu sein er Liebsten ins Wohnzimmer zurück, wo er die Tassen abstellte und sich neben Julia fallen ließ, der er zuvor noch eine Decke mit Ärmeln gereicht hatte.
      "Wir haben hier Zugriff auf alle Filme, die wir auch im Penthouse haben. Wir könnten einen Marathon deiner Lieblingsfilme machen?", schlug er vor und legte die Beine auf den Couchtisch, "Oder wir gucken uns irgendeine hirnlose Sitcom an. The Good Place soll ganz gut sein. Und God friended me. Aber mit Sitcoms kennt sich Chase besser aus als ich."
    • Während Carson in der Küche verschwunden war, zog Julia die Wolldecke bis zu ihrem Hals hoch und machte es sich auf der Couch gemütlich. Nach dem kalten Wind im Garten, war die warme Decke eine willkommene Abwechslung. Obwohl sie alleine im Raum war, fühlte Julia sich unsicher. Kurz sah sie in Richtung der Tür, durch die Carson verschwunden war und verspürte den Drang ihm nachzugehen. Noch während sie darüber nachdachte, hasste sie sich bereits selbst dafür. Ihr Freund hatte recht, sie musste wirklich mit einer Psychologin redete, bevor sie ihn mit ihrer Anhänglichkeit erdrückte. Carson würde sich schon nicht in Luft auflösen, nur weil er für fünf Minuten in einem anderen Zimmer war.
      Gestärkt von diesem Gedanken schaffte Julia es endlich den Kopf abzuwenden und aus dem Fenster zu schauen.

      Als der Geschäftsmann schließlich wieder ins Zimmer zurück kam, lächelte Julia ihm trotzdem glücklich entgegen. Automatisch rückte sie etwas näher zu ihm, als er sich neben sie auf die Couch setzte, griff dann jedoch nach ihrer Tasse, anstatt seine Hand zu halten. Sie hatte sich vorgenommen nicht mehr so anhänglich zu sein und dies war ein erster Schritt.
      "Es ist ein wenig wie bei unserem ersten Treffen in seinem Appartement in New York, oder? Nur dass wir keine Karamellbonbons haben." Sie lachte leise, die Erinnerung war schön. "Was haben wir damals geguckt? Jurassic Park, glaube ich." Dieses Treffen schien so weit entfernt zu liegen, dabei war es nicht einmal ein Jahr her. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen.
    • Lächelnd legte er Julia einen Arm um die Schultern und rief das Auswahlmenü seiner digitalen Filmbibliothek auf. Eine schnelle Suche brachte ihn zu den Jurassic Park und World Filmen, wo er den ersten der originalen Filme auswählte. Mit einer zweiten Fernbedienung dimmte er das Licht und ließ es im Dschungelmodus durch einige Grün- und Gelbtöne wandern, um dem Hauptspielort des Filmes entgegen zu kommen. Eine kleine Spielerei, die Carson schon immer genossen hatte.

      Was auch immer Luela da kochte, es roch von Minute zu Minute besser und es schien Ewigkeiten zu dauern. Sie konnten den gesamten Film gucken, bevor die Frau auch nur aus ihrem Domizil kam, um den Esstisch zu decken. Auf eine erneute Nachfrage hin wurde Carson wieder abgewiesen. Luela ließ ihn nicht einmal zwei Teller aus der Küche holen und auf den Tisch stellen. Diese Frau zwang ihn zum Urlaub wie kein anderer. Es ärgerte Carson ein bisschen und machte ihn unruhig. Er fühlte sich beinahe schon nutzlos, weil er nichts tun durfte. Und eine große Hilfe für Julia war er auch nicht.
      Schließlich wurde das Abendessen aufgetischt und Luela verabschiedete sich für den Abend mit den Worten, Nachtisch sei im Kühlschrank und den könne Carson ja dann selbst holen. Sie wünschte eine gute Nacht und ging.
      Das Essen selbst war hervorragend. Luela war wirklich eine Göttin in der Küche. Ursprünglich hatte Carson sie für seine Wohnung in San Francisco engagieren wollen aber sie hatte abgesagt mit der Aussage, sie könne ihre Familie nicht allein lassen. Carson hatte das verstanden und sie stattdessen in einem damals frisch gekauften Restaurant untergebracht, dass sie jetzt als Chefköchin führte. Sie hatte ihm daraufhin die Nummer von Ricardo gegeben, der zu diesem Zeitpunkt bereits in San Fran gearbeitet hatte.

      Nachdem er seinen Teller leer geputzt hatte, lehnte sich Carson zurück und ließ seine Serviette auf den Teller fallen. Ihm ging viel durch den Kopf. Hauptsächlich ging es dabei um Julias Wohlbefinden. Aber da waren auch Gedanken an die Auflösung der ganzen Geschichte. Gerichtsprozesse, Medienpräsenz und Pressekonferenzen, dazu die ganze liegengebliebene Arbeit bei ihm im Büro. Er hatte ein paar stressige Wochen vor sich, vielleicht sogar Monate. Aber das, woran er am meisten arbeiten wollte, beherrschte er nicht und das machte ihn wahnsinnig. Da war nichts, was er tun konnte, um Julia zu helfen. Er konnte einfach nur da sein. Es war zum Haareraufen!
    • Während ihres gemeinsamen Filmabends schaffte Julia es, die jüngsten Ereignisse weit in den hinteren Teil ihrer Gedanken zu verdrängen. Sie lehnte ihren Kopf an Carsons Schulter und stellte sich vor, dass sie wieder in seinem Appartement in New York saßen. Alles war gut und niemand wollte ihnen etwas böses. Sie lächelte ein wenig. In diesem kurzen Moment, war die Welt wieder in Ordnung.

      Aber natürlich blieb dies nicht für immer so. Die Erinnerungen waren noch zu frisch und holten Julia immer wieder ein. Oft wachte sie nachts auf und erschrak vor der Dunkelheit, die im Schlafzimmer herrschte. Es dauerte jedes Mal mehrere Minuten, bevor sie begriffen hatte, dass sie nicht wieder in dem finsteren Keller war, sondern in einem weichen Bett neben ihrem Geliebten lag. Doch genauso schnell, wie die Angst in ihr aufgestiegen war, schaffte Carson es mit seinen sanften Worten und seiner Umarmung diese wieder zu vertreiben. Julia hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich so sehr um sie sorgen musste. Sie wusste, dass sie nicht für immer so weiter leben konnte und deshalb war sie auch nicht böse auf Carson, als dieser eine Woche später eine Psychologin auf das Anwesen kommen ließ.

      Auch wenn Julia sich schon Tage davor einredete, dass diese Gespräche notwendig waren und ihr helfen würden, war sie trotzdem nervös, als sie das Zimmer betrat, in dem die Psychologin es sich gemütlich gemacht hatte. Es war eines der kleineren Wohnzimmer des Anwesens. An kalten Wintertagen konnte man es sich hier vor dem Kamin gemütlich machen, aber die Psychologin hatte es sich auf der kleinen Sitzgruppe bequem gemacht, die vor einer großen Fensterfront aufgestellt worden waren. Obwohl der Wind draußen ungemütlich kühl war, war der Himmel klar und einige Sonnenstrahlen fielen in den Raum, wodurch dieser freundlich und einladend wirkte.

      "Miss Kinnley, es ist schön sie einmal wieder zu sehen.", begrüßte die Frau Julia, während sie sich von ihrem Sessel erhob und ihr die Hand entgegen streckte. Die junge Frau schüttelte diese mit einem schüchternen Lächeln. "Es freut mich auch, Sie zu sehen, Ms. Jansen."
      Melanie Jansen war eine schlanke Frau mittleren Alters mit hellem Taint und schwarzen Locken, die sie zu einem lockeren Zopf zusammen gebunden trug. Ihre Gesichtszüge waren weich und es bildeten sich kleine Falten neben ihren Augen, als ihr Lächeln noch etwas breiter wurde. "Sie sehen hübsch aus... und ich sage das nicht nur aus Höflichkeit." Sie sprach nicht weiter und das war auch nicht nötig. Julia wusste, wie sie bei ihren ersten Gesprächen mit der Psychologin ausgesehen hatte. Im Gegensatz dazu war ihr derzeitiger Zustand sogar eine Verbesserung.
      "Ja, mir geht es auch viel besser.", antwortete Julia, während sie auf dem anderen Sessel der Psychologin gegenüber Platz nahm und die Beine überschlug. "Abgesehen von... nun ja, Sie wissen schon. Ging es mir in den letzten Monaten wirklich gut. Ich war seit langem richtig glücklich." Sie sah die andere Frau an, um sicher zu gehen, dass diese ihr auch glaubte. "Wirklich glücklich. Nicht nur, weil ich es mir eingeredet habe."

      Das erste Gespräch der Frauen dauerte zwei Stunden, in denen Ms. Jansen sich von Julia die Ereignisse des letzten Jahres berichten ließ. Über die letzten Wochen sprachen sie nicht, dafür interessierte die Psychologin sich sehr für die Tatsache, dass Julia wieder Kontakt zu ihren Eltern hatte. "Ich bin fast ein wenig beleidigt, dass Sie ohne mich so große Fortschritte gemacht haben.", scherzte die Dunkelhaarige und schenkt Julia ein warmes Lächeln. Diese hob leicht die Schultern. "Ohne Carson hätte ich das nicht geschafft. Er hat mir gezeigt, dass ich Vertrauen zu anderen haben kann und irgendwann hatte ich den Wunsch ihn meinen Eltern vorzustellen. Es kam ganz von allein." Ms. Jansen nickte leicht. "Ihr Freund scheint Ihnen allgemein sehr zur Seite zu stehen. Er scheint im letzten Jahr ein großer Teil Ihres Lebens geworden zu sein." Lächelnd nickte Julia. "Ja, er ist die wichtigste Person in meinem Leben." Auch die Psychologin lächelte, doch leider bemerkte Julia nicht den nachdenklichen Ausdruck in ihrem Blick.
    • Carson schlief immer noch nicht gut. Vielleicht sogar schlechter als vorher. Ihn hatte vier Wochen lang die Sorge um Julia wachgehalten, bis sein Körper sich genommen hatte, was er brauchte. Die wenigen Stunden, die Carson nachts geschlafen hatte, waren friedlich und traumlos gewesen, schlicht weil sein Körper nicht die Energie hatte aufbringen können, irgendetwas anderes zu tun. Aber wenn er jetzt ins Bett ging, dann hielt er Julia im Arm, bis sie einschlief, und lauschte dann darauf, dass ihr ruhiger Atem sich beschleunigte und sie voller Angst aufschreckte. Er tat sein Bestes, sie jedesmal wieder zu beruhigen und scheinbar funktionierte es auch. Aber er konnte einfach nicht einschlafen. Aus vier, vielleicht fünf Stunden wurden zwei. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er war nicht derjenige, dem es schlecht ging. Und für Julia würde er auch gar nicht mehr schlafen.
      Seine Schlafprobleme machten die Woche anstrengender, als sie eigentlich war. Tagsüber war nichts los, außer das Luela dafür sorgte, dass immer etwas zu Essen in ihrer Nähe war, damit Julia die verlorenen Pfunde wieder aufholen konnte. An ihr sei nichts dran, sagte die gebürtige Afrikanerin, sie brauche mehr auf den Rippen, damit sie der Wind nicht wegpuste. Hin und wieder schaffte es Carson, unbemerkt ein kleines Nickerchen zu machen, während er mit Julia einen Film ansah.
      Dennoch, auch wenn sich Carson nicht eingestehen wollte, wie angeschlagen er war, kam die kleine Pause genau rechtzeitig. Für zwei Stunden musste er sich einmal keine Gedanken darum machen, dass Julia eine Panikattacke bekam oder sonst was passierte. Er saß einfach nur am Esstisch, einen Kaffee in der Hand, ein Tablet in der anderen. Er hatte sich gedacht, er könnte auch ein bisschen Arbeit erledigen, solange Julia ihr Gespräch hatte.
      "Sie sollten sich hinlegen, Mr. Carson", sagte Luela, als sie ihm ein paar Kekse brachte, "Sie sehen furchtbar aus."
      "Ich habe keine Zeit zum Schlafen, Luela. Ich muss die Zeit nutzen, in der ich mich nicht um Julia kümmere und das tue ich."
      Luela nahm ihm das Tablet aus der Hand und starrte ihn wie die strenge afrikanische Mutter an, die sie war. Die Arme vor der Brust verschränkt und mit dem geblümten Bandana, das ihre kurzen Dreads zurückhielt, sah sie aus wie aus einer Fernsehserie geklaut. Aber es funktionierte. Mit einem Seufzen leerte Carson seine Kaffeetasse, nahm sich einen Keks und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch legte. Wie von allein fielen ihm nur wenige Minuten später die Augen zu und er schaffte es, noch eine weitere Stunde Schlaf abzubekommen, bevor ihn Luela mit einer neuen Tasse seines schwarzen Antriebsmittels weckte, genau in dem Augenblick, als Julia und ihre Psychologin aus dem kleineren Salon kamen. Sie hieß es nicht gut, dass Carson seine eigenen Probleme so versteckte, aber sie half dennoch, weil sie wusste, dass sie es sonst nur noch schlimmer machen würde. Carson war ihr dankbar dafür, dass sie sonst nichts sagte, auch wenn sie sicherlich einen ganzen Roman mit Vorträgen über alles mögliche füllen könnte, was gerade mit Carson nicht in Ordnung war.
      "Ms. Julia!", sagte Luela, als sie ihren tadelnden Blick fallen ließ, um grinsend auf die beiden rauen zuzugehen, "Ich habe frische Kekse gebacken, wollen Sie welche?"
      Sie bot auch der Psychologin welche an, zusammen mit Tee oder Kaffee für alle. Carson unterdrückte ein Gähnen, dann rappelte er sich auf und ging rüber zu dem kleinen Kaffeeklatsch, der sich zwischen Küchentür und Flur gebildet hatte. Er legte Julia einen Arm um die Hüfte, zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe.
      "Alles okay?", fragte er sanft.
      Er hatte zwar kaum Erinnerungen daran, wie es in einer Sitzung mit einem Psychologen zuging - mal ganz davon abgesehen, dass ein Kinderpsychologe sicherlich andere Herangehensweisen hatte - aber er wusste, dass man danach ziemlich im Eimer sein konnte. Er fragte auch mit Absicht nicht, worüber die beiden geredet hatten oder sowas. Er wollte es nicht wissen und er wollte Julia nicht in eine Situation bringen, in der sie das Ganze noch einmal erzählen sollte. Zumal es nicht sein Recht war, zu erfahren, worüber sie in ihren Therapiesitzungen so redete. Das ging allein die Anwesenden während der Sitzung etwas an. Er wollte nur wissen, ob es Julia gut ging oder ob er irgendetwas tun konnte, um dafür zu sorgen, dass es so war.
    • Julia lehnte sich gegen Carson, als er seinen Arm um ihre Hüfte legte. Sie war froh ihn wieder zu sehen, doch gleichzeitig fühlte sie ein ungewohntes Gefühl in sich aufsteigen. Ihr Freund wirkte nicht so energiegeladen, wie sie es gewohnt war und sein Haar war am Hinterkopf etwas unordentlich. Kurz fragte Julia sich, ob er wohl geschlafen hatte und spürte sofort ein schlechtes Gewissen in sich aufsteigen, da sie ihn geweckt hatte. Doch da Ms. Jansen ihre Sorge überhaupt nicht zu teilen schien, sondern den Geschäftsmann freundlich lächelnd begrüßte, verwarf auch Julia schnell wieder ihre Zweifel.

      In den nächsten Tagen traf Julia die Psychologin regelmäßig und schon bald verlängerte diese ihre Treffen auf vier Stunden. Julia vertraute der Frau zwar, doch diese Entscheidung verwunderte sie trotzdem. Vor allem da Julia sich sicher war, dass die Therapiemaßnahmen, die sie neben den Gesprächen noch durchführten, nicht so lange dauern mussten. Oft saßen sie auch einfach nur schweigend zusammen und tranken Tee. Die Psychologin sagte, dass Julia so zu sich selbst finden und ihre Gedanken ordnen sollte, trotzdem wurde die Blondine das Gefühl nicht los, dass die andere Frau sich unnötig viel Zeit ließ.
      "Haben Sie das Gefühl, dass meine Fortschritte nicht große genug sind?", letztendlich beschloss Julia, ihre Sorgen laut auszusprechen. Sie hatten gerade eines der Bilder betrachtet, die Julia hatte zeichnen müssen. Sie war nicht besonders begabt, weshalb ihre Gefühle sich lediglich in abstrakten Mustern aufs Papier bringen ließen. Es war keine von Julias liebsten Aktivitäten, doch der Therapie zur Liebe, ließ sie sich darauf ein. Und ein Teil von ihr genoss es, sich auf diese einfach Aufgabe zu konzentrieren und alles andere so lange zu verdrängen.
      Melanie sah von dem Bild auf und hob leicht die Augenbrauen. Einen langen Moment lang schwieg sie, während sie darüber nachzudenken schien, wieso Julia ihr gerade diese Frage stellte. "Es geht nicht um das Bild, richtig?", sagte sie dann, als müsse sie sich rückversichern, um die richtige Antwort zu geben. "Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie mich darauf ansprechen, warum wir so lange zusammen sitzen und eigentlich nichts tun.", fuhr sie fort, nachdem sie ein Nicken als Antwort erhalten hatte.

      Julia hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste. "Ich will damit nicht sagen, dass ich unsere Zeit nicht für sinnvoll halte oder es mir nicht gefällt...", setzte sie an, brach dann aber ab, weil sie nicht wusste, wie sie diesen Satz beenden sollte, ohne undankbar zu klingen. Ms. Jansen schien sie aber trotzdem zu verstehen. "Das weiß ich.", sie lächelte sanft, als müsste sie ein kleines Kind beruhigen. "Lassen Sie mich zuerst Ihre Frage beantworten; Ich finde, dass Sie große Fortschritte machen, wenn man bedenkt, was Ihnen passiert ist. Sie merken das vielleicht nicht, denn das ist ein langsamer Prozess, der sich auch nicht beschleunigen lässt, wenn man die Therapiesitzungen verlängert." Julia blinzelte verwirrt. "Aber wieso..."
      Die Psychologin brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. "Auf jeden Fall nicht, weil ich nach Stunden bezahlt werde." Die ältere Frau lachte kurz auf, wurde aber schnell wieder ernst. "Im Grunde tue ich das nicht nur für Sie, sondern auch für Ihren Freund. Ich sehe es oft, dass Angehörige nach so einem Ereignis ebenso traumatisiert sind wie die Opfer. Ihr Freund will nicht mit mir sprechen, aber bei unseren kurzen Treffen habe ich das Gefühl, dass er einen großen Beschützerinstinkt hat." Einen Moment lang hielt sie inne, als würde sie die nächsten Worte genau abwägen. "Julia, ich möchte dass Sie wissen, dass Sie keine Schuld am Verhalten anderer haben, weil jeder Mensch seine eigenen Entscheidungen trifft. Doch ich habe den Eindruck, dass Ihr Freund ein paar Stunden gebrauchen kann, in denen er sich nicht unbewusst Sorgen um Sie macht und vielleicht etwas schlafen kann." Es kam nicht oft vor, dass die Psychologin Julia beim Vornamen nannte. Meistens tat sie dies, wenn sie ihre Patientin beschwichtigen wollte - wie eine Mutter, die ihr Kind bei einem Kosenamen nennt.

      Doch diesmal half die Taktik der älteren Frau nicht. Julias Augen weiteten sich, die fühlte sich, als hätte jemand einen eisigen Dolch durch ihr Herz gestoßen. Auf einmal erinnerte sie sich an die vielen Morgende, an denen Carson vor ihr wach gewesen war. An die dunklen Schatten unter seinen Augen und die vielen Male, an denen sein Lächeln angestrengt gewirkt hatte. Er war immer für sie da und sie hatte dies scharmlos ausgenutzt, ohne auf ihn Rücksicht zu nehmen. Auf einmal fühlte sie sich schrecklich egoistisch.
      "Den Gesichtsausdruck habe ich lange nicht bei Ihnen gesehen." Julia hob den Kopf und sah ihre Psychologin irritiert an. "Sie sind gerade dabei sich innerlich selbst eine Moralpredigt zu halten. Ich habe Ihnen früher schon gesagt, dass das niemandem hilft." Die Stimme der Frau klang freundlich, beinahe scherzhaft, trotzdem fühlte Julia sich ertappt.
      "Ich möchte nicht, dass es ihm wegen mir schlecht geht. Aber ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. Er sagt immer, dass ich mich nur um mich selbst kümmern soll... aber so kann das nicht für immer weitergehen, oder?" Ms. Jansen nickte langsam. "Was glauben Sie denn, wieso er sich nicht helfen lassen will?" Julia verzog leicht das Gesicht. "Vielleicht weil er mich nicht zu sehr belasten möchte und nicht will, dass ich mir Sorgen um ihn mache?." Auf ihre Worte folgten einige Sekunden des Schweigens, die sich wie Stunden hinzuziehen schienen. "Oder weil ich zu schwach bin, weil er mir nicht zutraut, das sich ihm helfen kann", fügte sie hinzu, als die Stille ihr zu unangenehm wurde.
      Die Psychologin lächelte. "Ich denke, es ist ein klein wenig von allem. Es ist deutlich wie wichtig Sie ihm sind. Natürlich stellt er Sie jetzt an erster Stelle und will alles Schädliche von Ihnen fernhalten. Das ist etwas ganz normales. Ungesund wird es nur, wenn deswegen die eigenen Bedürfnisse und Sorgen unterdrückt werden. Er hält sie sicherlich nicht für schwach, aber er denkt, dass er stärker ist als sie und alles alleine durchstehen kann. Ein häufiges Problem von Männern." Sie verzog leicht den Mund, offensichtlich nicht glücklich über ihre eigene Aussage.

      "Aber was kann ich dagegen tun? Wie kann ich ihm helfen, wenn er meine Hilfe nicht will?" Julias Frage sorgte dafür, dass die andere Frau einige Sekunden lang schwieg. "Nun, ich kann Ihnen etwas geben, womit Sie durchschlafen. Ich bin mir sicher, dass Ihre Schlafstörungen auch Ihren Freund aufwecken. Ganz davon abgesehen, dass Ihr Körper regelmäßigen Schlaf braucht." Julia biss sich auf die Unterlippe. Sie ahnte, dass Carson diese Idee nicht gefallen würde. Aber es wäre ja nur eine temporäre Lösung...
      "Das ist natürlich nur eine oberflächliche Lösung, mit der Sie nicht an dem Grundproblem arbeiten." Manchmal hatte Julia das Gefühl, dass die Psychologin ihre Gedanken lesen konnte. "Was mir an Ihrer Beziehung im Moment Sorgen macht, ist dass ich Parallelen zu Ihrer letzten Beziehung sehe." Vor Schreck wäre Julia beinahe von ihrem Stuhl aufgesprungen. "Was? Nein. Carson würde nie...", begann sie ein wenig lauter als sie beabsichtigt hatte. Ms. Jansen schüttelte den Kopf. "Ich sage nicht, dass er Sie verletzt, Julia." Da war er wieder... der Vorname. Langsam bekam Julia das Gefühl, dass er immer dann in das Gespräch eingebracht wurde, wenn die Ärztin ihr eine schlechte Nachricht überbringen musste.

      "Ich möchte, dass Sie bis zu unserem nächsten Treffen gründlich über das nachdenken, was ich Ihnen jetzt sage.", begann die Psychologin. Der ernste Ausdruck in ihren Augen sorgte dafür, dass Julia automatisch nickte. "In Ihrer letzten Beziehung haben Sie sich ganz auf Ihren Freund eingestellt. Sie haben sich Sorgen um Ihn gemacht und ständig überlegt, wie Sie ihm helfen können, oder ob Sie etwas ändern können, damit es ihm besser geht. Sie haben Ihr Verhalten und Ihren Tagesablauf nach ihm abgestimmt. Wenn es ihm schlecht ging, haben Sie immer einen Grund gefunden, wieso das Ihre Schuld ist. Sie haben alles getan, was er wollte. Ich habe Ihnen damals gesagt, dass Ihr Verhalten ein Schutzmechanismus ist, der irgendwann dafür sorgen wird, dass Sie sich selbst verlieren. Sie können nicht nur für einen anderen Menschen leben, Sie verdienen ein eigenes Leben.
      In unseren ersten Sitzungen haben Sie mir erzählt, wie sehr Ihr Leben sich verändert hat und wie gut es sich angefühlt hat, als Sie selbst Entscheidungen treffen konnten. Es hat mich sehr glücklich gemacht das zu hören, aber es besorgt mich, wenn ich sehe, wie Ihr Leben sich entwickelt. Sie haben nicht einmal ein Jahr lang alleine gelebt, bevor Sie wieder bei einem Mann eingezogen sind. Einem sehr charmanten und einflussreichen Mann, der es gewohnt ist seinen Willen zu bekommen. Ich glaube, dass Sie dabei sind in Ihr altes Muster zurück zu fallen. Deshalb möchte ich, dass Sie über Ihr Verhalten nachdenken. Zum Beispiel überlegen Sie, ob Sie die Schlaftabletten nehmen wollen, damit Sie durchschlafen können, oder damit Ihr Freund es kann?" Julia biss sich auf die Unterlippe, sie fühlte sich ertappt. "Aber ist es wirklich schlimm, dass ich will, dass es ihm gut geht?" Ihre Stimme war kleinlaut. Die Psychologin schüttelte den Kopf. "Das ist in einer Beziehung normal, aber es darf nicht die Überhand nehmen. Geben Sie sich selbst nicht auf, Sie haben eine so schöne Persönlichkeit, die Sie allen zeigen sollten. Doch im Moment sind Sie wie ein leeres Blatt Papier." Sie machte eine Handbewegung zu dem zusammengeklappten Zeichenblock, der noch unbenutzt war. "Sie hängen sich an einen Mann und wartet, dass er sie lenkt, damit Sie sich so verhalten können, wie es ihm gefällt. Denn es ist leicht wenn ein anderer das Bild für einen mal, dann kann er auch nicht enttäuscht sein. Aber was ist, wenn ihm sein Bild nicht mehr gefällt oder es ihn langweilt?"

      Noch nachdem ihr Gespräch lange beendet war, dachte Julia noch an die Worte der Frau zurück. Vielleicht war sie wirklich zu anhänglich und unselbstständig. Sie verließ sich zu sehr auf Carson und dieser war natürlich bereit ihr zu helfen, weil er sie liebte. Aber würde das so bleiben? Sie konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal richtig geküsst hatte... von anderen Dingen ganz zu schweigen. Er behandelte sie wie ein zerbrechliches Püppchen... und sie tat nichts, um etwas daran zu ändern.
      'Aber was ist, wenn ihm sein Bild nicht mehr gefällt?'
      Ihr Ex-Freund hatte versucht das Bild zu zerreißen. Julia wusste, dass Carson so etwas nie tun würde. Aber vielleicht würde er irgendwann das Bild wegwerfen.
      Julia schluckte, da der Gedanke einen dicken Klos in ihrem Hals formte. Sie wollte Carson nicht verlieren. Aber sie wollte auch nicht, dass er nur aus Pflichtgefühl mit ihr zusammen blieb. Er hatte etwas besseres verdient.

      "Weißt du... Dr. Jansen und ich haben über meine Schlafprobleme gesprochen und ich habe entschieden, dass ich vorerst etwas zum Einschlafen nehme, damit ich durchschlafen kann. Es ist kein starkes Medikament und es wird auch nicht dauerhaft sein, nur so lange, bis mein Körper sich erholt hat. Du musst dir also keine Sorgen machen.", sagte sie zu Carson, als sie am Abend zusammen am Esstisch saßen. Normalerweise hätte sie ihn um Erlaubnis gefragt, doch sie entschied sich dagegen. Wenn Sie ihn nicht verlieren wollte, musste sie sich ändern und dies war ein guter Anfang dafür.
    • Am Anfang verdonnerte Luela ihn immer wieder dazu, zumindest im Liegen zu arbeiten. Was zu mehr als fünfzig Prozent dazu führte, dass er einfach einnickte. Später dann, als Julias Sitzungen plötzlich den halben Tag einzunehmen schienen, konnte die Köchin nur noch hilflos dabei zusehen, wie Carson sich in seine Arbeit stürzte. Er schaffte es nicht, irgendwas aufzuholen, aber er schaffte es, die wichtigsten selbst zu erledigen und den Rest effektiv zu deligieren. Er fühlte sich ein kleines Bisschen besser, jetzt wo er wieder die Kontrolle über sein Unternehmen bekam. Zeitgleich fragte er sich, warum die Psychologin so intensiv mit seiner Freundin arbeitete. Mussten sie da an irgendetwas tieferliegendes ran? Oder war mehr in dieser Zelle passiert als Carson wusste? Dieser Gedanke machte ihn wahnsinnig. So sehr, dass er hin und wieder in den Trainingsraum im Keller verschwand, um auf etwas einprügeln zu können. Dana hatte da etwas angefangen, was sich als erstaunlich hilfreich herausstellte. Kraftsport war gut gewesen, aber Kampfsport war noch viel besser.

      Die Wochen vergingen hier draußen wie im Flug. Es war seltsam, vier Stunden für sich zu haben. Carson konnte nicht genau erklären, warum. Es war einfach... seltsam. Aber Julia ging es von Tag zu Tag besser. Zumindest fühlte es sich so für Carson an. Er freute sich für sie. Und Luela hatte dafür gesorgt, dass sie ihr Kampfgewicht wieder zurück hatte. Äußerlich erinnerte nichts mehr an das, was im Januar mit ihr passiert war. Schlafen war trotzdem immer noch so eine Sache. Es kam wenig überraschend, als Julia ihm von den Schlaftabletten erzählte. Dennoch war er kein großer Fan dieser Idee. Er knirschte kurz mit den Zähnen.
      "Wenn ihr beide das für das Richtige haltet. Ich werde mich da nicht querstellen", entgegnete er mit einem Schulterzucken.
      Er wusste, er war nicht derjenige, der einen Doktortitel hatte. Er wusste nicht, wie man Menschen mit psychologischen Traumata half. Er hatte nicht das Recht, sich in diese Therapiesitzungen einzumischen. Trotzdem störte es ihn. Es war weniger der Gebrauch von Schlaftabletten, die ihn störte, als viel mehr die Tatsache, dass jemand seine Julia so sehr traumatisiert hatte, dass sie auf Hilfsmittel wie diese Tabletten zurückgreifen musste, um noch ein normales Leben führen zu können. In diesem Augenblick hätte Carson diesen Saftsäcken am liebsten die Meinung mit der Faust gegeigt. Aber er sagte nichts. Er schluckte es runter, so wie immer.

      Die Nächte waren unheimlich ruhig, jetzt wo Julia durchschlief. Carson lag dennoch neben ihr, wach, darauf wartend, dass sich etwas änderte und er eingreifen musste. Aber nichts geschah. Nacht für Nacht schlief Julia entspannt wie ein glückliches Kind nach einem großen Stück Torte. Nach einer Woche verbrachte Carson seine extra Stunden damit, an die Decke zu starrten. Er wollte ja schlafen, aber mehr als zwei, vielleicht drei Stunden bekam er einfach nicht auf die Reihe. Und die Stunden, die er schlief, war er total unruhig, als würde er irgendetwas verpassen.
      In der zweiten Woche versuchte er es mit einem ausgiebigen Work Out. Es war immer noch kalt draußen, aber der Wind hatte nachgelassen und es regnete weniger. Carson joggte morgens direkt nach dem Aufwachen - was in seinem Fall etwa vier Uhr morgens war. Danach Krafttraining bis Julia wach wurde. Abends verbrachte er drei Stunden damit, auf einen Sandsack einzuprügeln. Aber so müde er auch war nach all dem, er fand einfach keinen Schlaf.
      Die dritte Woche war die schlimmste. Nicht weil der Schlafentzug seinen Preis forderte, damit konnte Carson umgehen. Nein, diese Woche war schlimm, weil er Julia anstarrte und sich darüber aufregte, dass er selbst nicht so gut schlafen konnte wie sie. Was ihn dann wütend auf sich selbst machte, weil Julia ja nichts dafür konnte und er sich eigentlich für sie freuen sollte. Ihr ging es besser, das war doch, was er gewollt hatte!

      Die dritte Woche endete damit, dass sie zurück nach San Francisco flogen. Es war Zeit, die Evans-Brüder hinter Schloss und Riegel zu schicken. Carson hatte angeboten, Julias Psychologin im Jet mitzunehmen, was die Frau dankend angenommen hatte. Die Zeit, die sie brauchten, um quer durch das Land zu fliegen, verbrachte Carson damit, sich in Sachen Nachrichten auf den neusten Stand zu bringen. Klar, er hatte gearbeitet und wusste so ungefähr, was in der Firma los war, aber er hatte sich eisern an seine eigene Nachrichten-Astinenz-Regel gehalten. Er wollte wissen, was in der Welt so los war. Nichts Besonderes, wie sich herausstellte. Bloß die üblichen Schwanzvergleiche verschiedener Regierungen.

      "Chase wird dich morgen briefen", erklärte Carson, nachdem er sein Smartphone nach einem kurzen Telefonat weggelegt hatte.
      Er hatte Bescheid gegeben, dass es sich um ihren Anwalt handelte, bevor er die Damen allein ließ. Vielleicht wollte die Psychologin irgendwas bequatschen oder so, was wusste er schon.
      "Er geht mit dir den ganzen Prozesstag durch, deine Aussage, die Fragen, die man dir stellen wird, sowas eben. Er meinte, du musst nicht den ganzen Tag dabei sein. Du kannst kommen, deine Aussage machen und wenn das Gericht dich entlässt, kannst du wieder gehen. Es sei deine Entscheidung. Ich kann mich ins Publikum setzen. Chase meinte, ich dürfe nicht vorn bei euch sein, weil nicht Davis Industries der Nebenkläger ist, sondern du und wir nicht miteinander verwandt oder verschwägert sind... keine Ahnung, irgendein Anwalt-Kauderwelsch."
      Er ließ sich in seinen Ledersessel fallen und lehnte den Kopf seufzend zurück.
      "Ich bin froh, wenn das Ganze vorbei ist", meinte er und verkniff sich einen Kommentar über den eventuellen Geisteszustand der Brüder in Anwesenheit eines Experten.

      Am Landeplatz wartete bereits Austin auf das Paar und ein weiterer Fahrer für die Psychologin. Austin informierte Carson und Julia über alle Neuerungen des Sicherheitssystems - soweit Austin sie einsehen konnte - die John vorgenommen hatte. Carson erinnerte Julia noch einmal daran, dass sie nicht ins Penthouse mussten, wenn sie nicht wollte. Sie könnten sich auch einfach etwas anderes suchen und bis dahin in einem von seinen Hotels wohnen.

      Das Penthouse wirkte ganz anders, obwohl sich nichts verändert hatte. Vielleicht waren es die zwei Monate, die sie nicht hier gewesen waren. Vielleicht war es das, was hier passiert war und die damit verbundenen Erinnerungen auf beiden Seiten. Die Energie hier drin war irgendwie verändert. Es war seltsam, wieder hier zu sein. Aber nach einem Tag on Tour wollten sie beide nichts lieber, als einfach nur zu schlafen. Oder zumindest eine Weile lang nichts zu tun. Vor allem, da die nächsten zwei Tage vollgestopft und anstrengend sein würden.

      Das Briefing von Chase war kurz und schmerzlos. Carson's Cousin war eben gut darin, privates und geschäftliches zu trennen. Julia war seine Klientin, nicht seine eventuelle Schwägerin. Er sagte auch, dass sie genau so im Gericht auftreten mussten, um zu verhindern, dass irgendetwas gegen sie verwendet wurde, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass es nicht zu einer Verurteilung der Evans-Brüder kommen würde.
      Auch stand die Frage im Raum, ob Julia zur Urteilsverkündung dabei sein wollte, wenn die Jury es denn dann verkündete. Das alles war in Carsons Augen unnötig kompliziert. Die Brüder sollten einfach nur weg und gut. Aber die Bürokratie gebot ein langsames Verhandeln der Tatsachen. Und sie hatten schon in den Turbo geschaltet, weil es um den Inhaber von Davis Industries, Mitglied des mächtigen Davis-Clans ging.

      Carson wusste nicht, ob er nervös oder einfach nur wütend war, als er am Verhandlungstag in den Spiegel blickte, um sich zu rasieren. Er hatte in den letzten zwei Monaten ein bisschen an Muskelmasse zugelegt, weswegen ihm sein Hemd jetzt ein bisschen zu perfekt passte. Allein heute hatte er Julia bereits dreimal gefragt, ob sie wirklich bleiben wollte, nachdem sie ihre Aussage getätigt hatte. Ihm wäre es lieber, so wenig Zeit wie möglich mit dem Fall zu verschwenden. Zumal sie mindestens einem der Brüder einen großen Gefallen taten, wenn Julia blieb, was Carson gehörig gegen den Strich ging.
    • Julia war überrascht wie gut ihr der regelmäßige Schlaf ohne Alpträume tat. Sie fühlte sich fitter und schaffte es sogar wieder Gewicht zuzunehmen. Mit jedem Tag hatte sie das Gefühl die schlechten Erinnerungen einen kleinen Schritt weiter hinter sich zu lassen. Das einzige, was ihr jedoch weiterhin Sorgen machte, war Carsons Verhalten. Zwar er immer noch für sie da, küsste sie liebevoll auf die Schläfe, Lächelte sie an und hielt ihre Hand, aber irgendetwas fühlte sich nicht mehr echt an. Julia liebte ihn für seine Ehrlichkeit, aber inzwischen hatte sie oft Probleme ihn einzuschätzen. Es gab zu viele Situationen, in denen er ihren Fragen aus dem Weg ging und manchmal sah er sie mit einem Ausdruck in den Augen an, den sie nicht deuten konnte. Es war, als hätte sich eine Wand zwischen ihnen gebildet und es brachte Julia zur Verzweiflung, dass sie nichts dagegen tun konnte. Leider halfen diesmal auch die Gespräche mit ihrer Psychologin nicht.

      Julias letzte Hoffnung war, dass sich alles zwischen ihnen wieder normalisieren würde, wenn die Gerichtsverhandlung vorbei wäre. Deshalb stimmte sie auch zu, dass sie nach ihrer Rückkehr nach San Francisco wieder in das Penthaus fuhren. Zwar hatte sie Angst an diesen Ort zurück zu kehren, aber wenn sie ihr altes Leben zurück wollte, musste sie sich überwinden. Und wenn sie damit Carson zeigen konnte, dass er sie nicht mehr wie eine Porzellanpuppe behandeln musste, dann war es das wert.

      Es war seltsam in das Penthouse zurück zu kommen. Der große Wohnraum fühlte sich kalt an und Julia zog unbewusst die Schultern nach oben. Sie machte ein paar Schritte in den Raum hinein, hielt dann jedoch inne, als ihr Blick auf das Sofa fiel. Sie würde dort wohl nie wieder entspannt sitzen können. Kurz spielte sie mit dem Gedanken Carson zu bitten eine neue Couch zu kaufen, hielt sich jedoch davon ab. Sie sollte zumindest versuchen sich hier wieder heimlich zu fühlen, bevor sie irgendwelche egoistischen Wünsche äußerte. Trotzdem ergriff sie Carsons Hand und ließ sich von ihm ins Schlafzimmer fühlen. Egal wie stark sie sein wollte, in diesem Moment war sie dankbar dafür, dass er bei ihr war. Irgendwann würde sie einen Weg finden, um sich bei ihm angemessen zu bedanken. Egal ob er es wollte oder nicht.

      Am Tag der Verhandlung war Julia sehr glücklich darüber, dass Chase ihr zur Seite stand und ihr sagte, wie sie sich benehmen sollte. Letztendlich entschieden sie gemeinsam, dass Julia nach ihrer Aussage den Gerichtssaal erst einmal verlassen würde. Nicht nur, damit sie keine unnötigen Details anhören musste, sondern auch um den Brüdern die Möglichkeit zu nehmen, irgendetwas verletzendes zu sagen oder Julia - und damit auch Carson - zu provozieren. Trotzdem wollte die junge Frau im Gericht warten, bis die Verhandlung zu ende war. Sie wollte das Urteil hören - sie musste es hören. Denn sie wollte selbst hören, dass diese beiden Männer nicht wieder frei kommen würden und niemandem mehr schaden konnten. Und ein kleiner Teil von ihr wollte auch sicher sein, dass sie bestraft wurden.

      Es war nicht das erste Mal, dass Julia vor einem Gericht aussagen musste, trotzdem fühlte es sich sehr unangenehm an hinter dem kleinen Pult Platz zu nehmen und die Blicke aller Anwesenden auf sich zu spüren. Bevor Julia in den Raum gerufen wurde, hatte der leitende Arzt ausgesagt und geschildert in welchem Zustand man die junge Frau gefunden hatte. Deshalb wunderte es Julia nicht, dass sie von vielen der Geschworenen mitleidige Blicke zugeworfen bekam.
      Einen Moment lang fiel ihr Blick auf den Mann, der für all das Chaos verantwortlich war. Ganze drei Sekunden lang schaffte Julia es seinem Blick stand zu halten. Dann ließ sie ihre Augen über sein Gesicht wandern, um sich seine Züge einzuprägen. Sie hatte den Mann seit Jahren nicht gesehen und er hatte sich etwas verändert. Trotzdem erkannte sie hinter dem ungepflegtem Bart noch den geschniegelten Anwalt wieder, der ihrem Ex-Freund so gerne in den Hintern gekrochen war. Ihre Mundwinkel fielen nach unten und ein abwertender Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Nichts an diesem Menschen war attraktiv oder sympatisch. Sie verstand nicht, wie er jemals auch nur einen Klienten gehabt hatte.
      In ihrem Augenwinkel bemerkte sie, dass Brian sie ansah. Doch sie drehte nicht den Kopf. Sie wollte ihn nicht ansehen - sie konnte es nicht. Es schmerzte immer noch, wie sehr er sie belogen hatte und sie wollte ihm das nicht zeigen. Vermutlich würde ihn das sogar freuen.

      Die Verhandlung verlief um einiges leichter, als ihre letzte Aussage vor Gericht. Da sie diesmal alle eindeutig als Opfer sahen, fielen die Fragen des Staatsanwalts sehr zahm aus. Niemand versucht ihr die Schuld an allem zu geben oder unterstellte ihr, dass sie log. Natürlich versuchten die beiden Angeklagten sich zwischendurch zu Wort zu melden, aber Chase sorgte dafür, dass deren Einwände im Keim erstickt wurden und Julia nicht auf ihre Aussagen reagieren musste.
      Es dauerte keine dreißig Minuten, bis Julia wieder aus dem Gerichtssaal geführt wurde. Nachdem die schwere Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, atmete sie einmal tief durch. Sie konnte förmlich spüren, wie die Anspannung von ihr abfiel. "Und? War das so in Ordnung?", fragte sie Chase.
    • Carson war die gesamte Zeit über so nah bei Julia, wie er nur konnte. Er war mit ihr in den Saal gegangen und hatte sich mittig an den Gang gesetzt. Sie sah einen der Brüder nur kurz an, dann mied sie jeglichen Blickkontakt zu ihnen. Carson hingegen durchbohrte beide mit seinem Blick. Er machte keinen Hehl aus seinem Hass und seiner Abscheu gegenüber den beiden. Den Fragen konnte er gar nicht richtig zuhören, so sehr war er damit beschäftigt.
      Als Julia von Chase wieder nach draußen geführt wurde, stand er sofort auf und folgte den beiden.
      "Ja, das war perfekt. Ich muss wieder rein", meinte Chase kurz angebunden und verschwand gleich wieder im Gerichtssaal, um sicherzustellen, dass die Brüder bekamen, was sie verdienten.
      Carson trat neben Julia und ergriff ihre Hand. In diesem Augenblick wusste er nicht, ob er das tat um sie oder sich selbst zu beruhigen. Er starrte die geschlossene Flügeltür an.
      "Alles okay?", fragte er dann und schluckte seine Wut runter.
      Er musste sich daran erinnern, dass Wut hier nicht die Lösung war. Er musste für Julia da sein. Jetzt, mit der Verhandlung und dann dem Urteil in ein paar Tagen, würde dieser ganze Wahnsinn endlich vorbei sein.
      "Komm her."
      Carson zog Julia in seine Arme und hielt sie einfach nur fest. Sicherheit, das war alles, was er ihr geben konnte, um ihr zu helfen.

      An diesem Tag wurden alle Fakten aufgetischt und die Jury zog sich zu einer Urteilsfindung zurück. Was für alle Beteiligten hieß, dass sie warten mussten. Chase, Carson und Julia fuhren nach dem Verhandlungstag raus zu Onkel Charles, wo der Rest ihrer Sippe bereits wartete. Sie hatten sich hier verabredet und würden hier bleiben, bis das Urteil gesprochen war. Die kleine Charlette tat ihr Bestes, alle abzulenken, indem sie immer wieder versuchte, ein paar Schritte zu laufen. Was mehr ein wackliges Stehen und der Versuch war, das Gleichgewicht zu halten. Es dauerte meist nur ein paar Sekunden bevor sie mit einem dumpfen Aufprall auf ihrem Hintern oder allen Vieren landete. Sie fand das lustig, also lachten alle anderen mit ihr.
      Irgendwann am Abend bestand Carsons Mutter auf ein Gespräch unter vier Augen mit ihrem Sohn. Widerwillig stimmte Carson zu und die Frau führte ihn hinaus auf die große Terrasse, die den Garten überblickte. Demonstrativ schloss sie die Glastür, als sie sah, das Carson den Blick nicht von seiner Liebsten abwenden konnte, kaum dass er sich an das steinerne Geländer gelehnt hatte.
      "Schatz, du siehst furchtbar aus", begann sie das Gespräch.
      "Danke, Mom", kam es gleich zurück.
      "Ich meine das ernst, Carson. Jeder kann sehen, dass du nicht schlafen kannst und die Rötungen an deinen Händen sagen mir, dass das nicht dein einziges Problem ist."
      Carson hasste es, wenn seine Mutter den Sherlock Holmes mimte. Sie hatte viel zu viel Zeit, um das üben.
      "Du hast Recht. Ich habe zwei Probleme, beide um die eins achtzig groß und darauf wartend, weggesperrt zu werden."
      Claire seufzte. Sie kannte diese Wut von ihrem Sohn, aber für gewöhnlich brodelte sie nicht so dicht unter der Oberfläche.
      "Carson, du musst etwas tun. Egal was, aber so wie im Moment kannst du nicht weiter machen. Es ist genau wie damals vor achtzehn Jahren, nur dass ein Zwölfjähriger leichter im Griff zu halten ist."
      Carson verstand nicht, worauf seine Mutter hinaus wollte.
      "Du bist wütend Carson. Und damit meine ich nicht die Wut über einen geplatzten Deal, das behebt man mit einem guten Abendessen. Nein, diese Wut in dir... Die war schon immer da. Als Kind hast du Sachen durch die Gegend geworfen, wenn etwas außerhalb deiner Kontrolle lag. Du hast Putzfrauen angeschrien, wenn sie dein Zimmer aufgeräumt haben. Als Teenager hat sich das gelegt, weil du dich in ein Arbeitstier verwandelt hast. Du hast deine Wut in halbwegs gesunde Bahnen geleitet. Aber jetzt... du arbeitest kaum, weil du dich um Julia kümmerst. Du schläfst kaum, weil du dir unnötige Sorgen machst. Und die Wut kommt wieder zurück. Was glaubst du wird Julia davon halten, wenn sie erfährt, dass du im Fitnessstudio nicht mehr nur Gewichte stemmst, hm?"
      Claire versuchte, ihren Sohn dazu zu überreden, etwas zu ändern oder sogar mit jemandem zu reden, der ihm helfen konnte, aber alles, was Carson hörte war: Du bist genauso wie dein Vater. Und darauf wusste er nichts zu antworten. Er stand einfach nur da und starrte seine Mutter an. Diese Wut war schon immer da. Er hatte das von seinem Vater. Er hatte den gefährlichsten Teil dieses Mannes geerbt. Und jetzt warf ihm seine Mutter vor, so wie er zu sein. Hieß das, sie dachte, er würde...?
      "Halt dich aus meiner Beziehung raus", sagte er, erst leise, dann noch einmal lauter, damit seine Mutter es auch hörte, "Ich bin nicht wie mein Vater."
      Und damit stürmte er an ihr vorbei zurück in den Salon, wo alle anderen damit beschäftigt waren, Charlette bei einer kleinen Gesangseinlage zuzuhören. Er setzte sich neben Julia auf die Couch, legte ihr einen Arm um die Schultern und tat so, als hätte er eben keine Hiobsbotschaft von seiner Mutter erhalten. Wenn er das jetzt an sich ran ließe, dann würde er wirklich irgendeine Vase zertrümmern.

      Als sie Abends in Bett gingen, konnte sich Carson kaum auf etwas konzentrieren. Er war bettfertig, schaffte es aber nicht, den Blick von seinem Spiegelbild abzuwenden. Vor seinem geistigen Auge sah er den Mann, der ihn erzeugt hatte, bevor ihn der Alkohol zerfressen hatte. Sein Vater war immer ein Choleriker gewesen, aber er hatte erst die Fäuste benutzt, nachdem ein paar seiner Jobs geplatzt waren und er seinen Frust im Alkohol ertränkt hatte. Carson sah wirklich aus wie sein Vater. Er hatte zwar die typischen Davis-Kieferknochen, aber alles andere hatte er zu großen Teilen von seinem Vater. Inklusive der dunklen Haare, die ihn am meisten von seiner Familie unterschieden.
      Seufzend blickte er auf seine Hände hinab, die den Rand des Waschbeckens umklammerten. Seine Knöchel waren wirklich etwas gerötet und das, obwohl er immer Handschuhe trug. Wie hart musste er zuschlagen, um das zu schaffen? Er sah über die Schulter zu Julia. Er würde ihr niemals etwas antun. Das konnte er gar nicht. Oder doch?
      Er kroch zu ihr ins Bett, starrte aber bloß an die Decke, ohne den üblichen Körperkontakt zu suchen. Juli hatte genug durchgemacht, er musste sie jetzt nicht auch noch damit belasten. Er würde das schon irgendwie selber hinkriegen.
    • Auch wenn Julia sich im Vorfeld eingeredet hatte, wie wichtig diese Gerichtsverhandlung war, war sie trotzdem froh, als sie den Saal wieder verlassen hatte. Sie spürte, dass Carson ihre Hand ergriff und sah zu ihm hinauf. Seine Augen wirkten dunkler, was an den Schatten unter ihnen liegen konnte. Auch wirkte der Druck seiner Hand stärker... angespannter. "Mir geht es gut, und dir?" Antwortete sie auf seine Frage und seufzte innerlich auf, als sie von ihrem Geliebten wie üblich eine der ausweichenden Sätze zu hören bekam. Inzwischen konnte sie ihm nicht mehr glauben, dass es ihm gut ging. Es war frustrierend und traurig zugleich, dass er sich nicht von ihr helfen lassen wollte.
      Wann hatten sie aufgehört, ehrlich zueinander zu sein? Und wann war diese Wand zwischen ihnen entstanden, die nicht einmal verschwand, wenn sie sich umarmten?

      Julia kannte die Antwort, doch sie war zu ängstlich, um sie auszusprechen.

      Es war schön Carsons Familie wieder zu treffen. Vor allem die kleine Charlette war wie ein Sonnenstrahl, der die Anstrengungen des Tages vertrieb. Julia war erleichtert, dass sich die Fragen über ihr Wohlergehen kurz hielten und das Gespräch schnell auf leichtere Themen gelenkt wurde. Angelika erzählte von ihrer Urlaubsplanung und Chloe schwärmte von ein paar neuen Stoffen, die sie gefunden hatte und aus denen sie Julia am liebsten sofort ein Kleid genäht hatte. Es war ein schöner Abend und zum ersten Mal seit Wochen schaffte Julia es sich wirklich zu entspannen.

      Die Atmosphäre wurde erst wieder etwas ernster, als Carson zusammen mit seiner Mutter den Raum verlassen hatte. "Carson hat die Gerichtsverhandlung genauso mitgenommen wie dich, hm?" Angelika setzte sich neben Julia auf das Sofa. Die kleine Charlette, die sie in ihren Armen hielt, griff sofort nach einer der blonden Haarsträngen und begann an ihr herum zu spielen.
      Julia seufzte leise. Natürlich war sie nicht die einzige, der das aufgefallen war...
      "Ich mache mir große Sorgen um ihn.", gab sie zu und lehnte leicht den Kopf zur Seite, als das kleine Mädchen an ihrem Haar zog. "Aber er will sich nicht von mir helfen lassen. Immer wenn ich ihn darauf anspreche, weicht er mir aus." Sie presste die Lippen zusammen, um die Tränen herunterzuschlucken, die in ihr aufsteigen wollte. Sie fühlte sich nutzlos, weil sie den Menschen, den sie so sehr liebte, nicht unterstützen konnte. Erst als sie Angelikas Hand auf ihrem Unterarm spürte, sah sie wieder zu der anderen Frau. "Ihr habt beide viel durchgemacht. Er braucht sicher nur ein wenig Zeit." Sie andere Lächelte ihr aufmunternd zu. Julia nickte automatisch. Sie wusste nicht, ob Angelikas Worte der Wahrheit entsprachen, doch sie wollte daran glauben.

      Einige Stunden später saß Julia im Bett und betrachtete das Wasserglas auf ihrem Nachttisch. Sie war dankbar für die Tabletten, da sie endlich durchschlafen konnte, aber es störte sie, dass Carson offensichtlich nicht zur Ruhe kam. Sie dachte an die vielen Morgende, an denen er vor ihr aufgestanden war. Oft hatte sie ihn gefragt, was er getan hatte oder ob er schlecht geschlafen hatte. Und jedes Mal hatte sie wieder eine oberflächliche Antwort erhalten. Manchmal war sie sich nicht einmal mehr sicher, wieso sie ihn überhaupt noch fragte.
      Ein letztes Mal sah sie in Carsons Richtung, bevor sie die kleine, weiße Tablette in ihrem Mund steckte und herunter schluckte. Wenn Carson ihre Hilfe nicht wollte, musste sie ihn zumindest nicht mit ihren Alpträumen belasten. Und vielleicht war es sogar besser, wenn sie schlief und ihn nicht mit ihren Fragen nervte, die er sowieso nicht beantworten wollte.
      Julia legte den Kopf auf das Kissen und zog die Beine an. Dann schloss sie die Augen. Vielleicht würde morgen alles besser werden...
    • In dieser Nacht geschah ein kleines Wunder. Carson schlief tatsächlich ein bisschen. Vielleicht war es, weil jetzt endlich alles dem Ende zuging. Eine gute Nacht war es dennoch nicht...

      Er hatte schon gelernt, dass er das Gekreische im Erdgeschoss besser ignorieren sollte. Meistens dauerte es nur eine Viertelstunde. Fünfzehn lange, quälende Minuten, die in der Dunkelheit seines Kinderzimmers einer Ewigkeit glichen. Er konnte nicht hören, worüber sie stritten. Meistens jedenfalls.
      Er wusste nicht, worüber sie heute stritten, aber seinem Wecker nach schrien siensich schon seit einer Stunde an. Carson konnte seiner Neugierde nicht länger wiederstehen. Er schlüpfte aus dem Bett, öffnete leise die Tür und schlich sich den Flur hinunter bis zur Treppe. Vom Absatz aus konnte man durch den unteren Flur in die Küche sehen. Sie hatten die Tür offen gelassen.
      Auf dem Tisch standen noch Lebensmittel rum. Seine Mom machte ihm abends immer Lunch für die Schule. Wenn sie nicht arbeiten war, machte sie das immer, und er mochte das. Moms Essen schmeckte viel besser als das von Onkel Charles' Küchenhilfen, egal wie viele Sterne die hatten.
      Aber da standen auch Bierflaschen rum. Und eine geöffnete Flasche aus dem Schrank, an den Carson nicht gehen durfte. Erwachsenen-Zeug, sagte sein Dad immer. Daneben stand ein fast leeres Glas mit Eiswürfeln. Seine Eltern standen auf unterschiedlichen Seiten des Tisches und warfen sich böse Wörter an den Kopf. Allgemein ging es wohl darum, dass sein Dad zu viel trank und man ihm nichts recht machen konnte. Dad wiederum warf Mom vor, nie da zu sein und keine Ahnung von Erziehung zu haben. Sie verhätschle Carson.
      Carson drückte sich am das Treppengeländer und beobachtete die Szene. Er verstand die Streiterei nicht. Seine Mom telefonierte jeden Tag mit ihm, wenn sie nicht da war. Dad machte das nie, wenn er arbeiten war. Aber das war ja in letzter Zeit kein Problem gewesen. Carson hatte auch keine Ahnung, warum er immer zu seinem Onkel sollte, wenn seine Mom weg war. Er mochte es aber. Wenn er mit Dad allein war, dann durfte er nie weg und mit Freunden rumhängen oder sowas. Bei seinem Onkel durfte er das. Da hing er auch ständig mit seinen Cousins rum. Manchmal passte er sogar auf Chloe auf.
      Als die beiden Erwachsenen schnaufend in zwei verschiedene Räume verschwanden, stand Carson vorsichtig auf und ging zurück in sein Zimmer, um endlich ein bisschen zu schlafen. Er hatte keine twei Schritte gemacht, da hörte er das Zwerspringen von Glas, gefolgt von einem Schrei. Es war seine Mutter. Als er sich umdrehte, sah er, wie sein Vater mit der zerbrochenen Erwachsenen-Flasche über seiner Mutter aufragte. Da war überall Blut. Für eine Sekunde stand er einfach nur erstarrt da. Bis sein Vater ein zweites Mal auf seine Mutter einstach. Der zweite Schrei riss Carson seiner starre. Er rannte die Treppe hinunter und tacklete seinen Vater. Carson war groß für seine zwölf Jahre und er hatte den muskulösen Körperbau seines Vaters geerbt. Mit dem Schwung den er hatte, riss er den Mann von den Füßen und knallte mit ihm gegen die Küchenzeile. Carson wurde im nächsten Augenblick schon wieder weggeschubst. Sein Dad war betrunken, deswegen kam er nicht so schnell auf die Füße wie der angehende Teenager. Carson griff sich den ersten Gegenstand, den seine Hand finden konnte - das Messer, mit dem seine Mom eine Gurke zerschnitten hatte, um sie in seine Lunchbox zu legen. Er dachte nicht über das nach, was er tat. Sein Verstand hatte abgeschaltet und seine Instinkte hatten übernommen, als er gesehen hatte, wie sein Vater seine Mutter angegriffen hatte. Er wusste nicht, was er tat, als er das Messer über seinen Kopf hob und seinem Vater in den Oberschenkel rammte. Der Mann sackte schwerfällig zu Boden. Aber Carson hörte nicht auf. Er stach wieder und wieder zu, wollte die Gefahr für seine Mutter eliminieren.
      Als er wieder zu sich fand, kniete er neben dem reglosen Körper seines Vaters, überall war Blut. Das Messer hatte er noch in der Hand. Die Augen des Mannes waren weit geöffnet und starrten an die Decke, ohne zu blinzeln. Carson hob den Kopf, als er ein Wimmern hörte. Seine Mutter lag halb unter dem Küchentisch. Trotz all des Chaos und des Horrors schien sie keine Angst zu haben.
      "Carson", sagte sie ruhig, "Geh in den Flur, nimm das Telefon und ruf deinen Onkel an."
      Er gehorche und schlurfte zum Telefon. Die Nummer auf Kurzwahl gespeichert. Es klingelte viermal, dann nahm jemand ab.
      "Hier ist Carson. Ich soll Onkel Charles anrufen...", stammelte er und das Telefon am anderen Ende wurde weitergereicht.
      Er ging zurück zu seiner Mom und drückte ihr den Hörer in die Hand, als sie danach verlangte. Claire erzählte in knappen Sätzen, was passiert war. Aber hier wurde es schwammig. Carson verlor sein Gefühl für Zeit. Das nächste, woran er sich erinnerte war, wie jemand klingelte und seine Mutter ihm auftrug, die Tür zu öffnen. Enkel Charles starrte ihn nur an, dann sagte er, er solle auf der Treppe warten. Carson setzte sich auf die Stufen und wartete. Viele Menschen kamen an ihm vorbei, aber er blieb still sitzen. Irgendwann untersuchte ihn jemand. Schließlich nahm Onkel Charles ihn an die Hand und sie fuhren zu seinem Grundstück.
      Seine Welt wurde wieder scharf, als er das nächste Mal in den Spiegel sah. Er sah dort keinen zwölfjährigen Jungen. Er sah dort seinen Vater.

      Carson schlug die Augen auf. Sein Kopfkissen war nass und als er sein Gesicht befühlte stellte er fest, dass er geweint hatte. Hatte er damals auch geweint? Er wusste es nicht.
      Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es halb fünf am Morgen war. Er hatte sechs Stunden geschlafen... Dummerweise fühlte es sich nicht danach an. Ein Blick zu Julia verriet ihm, dass sie noch immer tief und fest schlief.
      Carson stand auf und ging ins angrenzende Badezimmer. Unter dem Waschbecken lagerten mehrere Packungen Blondierung. Für ein paar Minuten hielt er eine der Verpackungen in der Hand. Dann öffnete er sie und färbte sich die Haare. Während er das tat, baute er sich eine neue Tagesplanung zusammen. Morgens joggen, vor dem Frühstück. Nachrichten Update und Emails durchsehen und beantworten für den Vormittag. Nachmittag Papierkram abarbeiten. Abends Schwimmen vor dem Abendessen. Kein Kampfsport mehr. Kein Kraftsport mehr. Kein Alkohol mehr.
      Er war nicht sein Vater.

      Am nächsten Morgen sagte keiner etwas zu seiner veränderten Haarfarbe. Zumindest keiner aus dem Davis-Clan. Ein paar der Haushälter lobten den neuen Look Carsons. Er reagierte nicht darauf. Nach seiner Joggingrunde um sechs hatte er geduscht und sich in ordentliche Klamotten geworfen. Im Sinne von er trug einen Anzug ohne Krawatte und Jackett. Als die anderen zum Frühstück in den Speisesaal kamen, saß er am Laptop und sah seine Mails durch.
    • Als Julia am nächsten Morgen aufwachte, überraschte es sie nicht, dass Carson nicht mehr neben ihr im Bett lag. Langsam überraschte sie das nicht mehr, trotzdem machte es sie etwas traurig. Die Zeit, in der sie gemeinsam den Morgen im Bett verbracht hatten oder sie aufgewacht war und sein lächelndes Gesicht gesehen hatte, schienen in weiter Ferne zu liegen.
      Mit einem leisen Seufzen stand sie auf und machte sich fertig. Als sie das Zimmer verließ traf sie auf einen der Bediensteten, der ihr verriet, dass Carson bereits vor einiger Zeit ins Esszimmer gegangen war. Julia nickte leicht und bedankte sich bei dem Mann, der daraufhin mit eiligen Schritten in Richtung Küche verschwand.

      Als die junge Frau das Esszimmer betrat, saß Carson alleine am Tisch und sah konzentriert auf den Bildschirm seines Laptops. Allerdings dauerte es ein paar Sekunden, bis Julia ihren Freund erkannte. Wie erstarrt blieb sie im Türrahmen stehen und musterte den blonden Mann, der die Gesichtszüge ihres Partners trug. Sie blinzelte zwei Mal, aber das Bild vor ihr blieb unverändert.
      Erst als sie auf dem Flur Stimmen hörte, schaffte Julia es ihre Beine wieder in Bewegung zu setzen und auf ihren Freund zuzugehen. "Guten Morgen, Carson.", sagte sie, als sie einen Schritt vor ihm entfernt stehen blieb. Ein Teil von ihr befürchtete immer noch, dass der blonde Mann nicht auf den Namen reagieren und sich als ein verschollener Zwilling von Carson herausstellen würde. Auch wenn das natürlich ein alberner Gedanke war.
      Julia hatte Carson dunkles Haar immer geliebt, deshalb konnte sie die plötzliche Veränderung auch nicht verstehen. Ob das wohl ein Zeichen von ihm war, um ihr zu zeigen, dass er nie wieder der alte sein würde... dass er es nicht wollte. Der Gedanke machte Julia Angst. Aber noch bevor sie ein Wort herausbringen wurde, öffnete sich die Tür zum Esszimmer und Chase mit seiner Familie trat ein.

      Julia war von der Situation so überfordert, dass sie automatisch das tat, was sie schon früher immer getan hatte. Ihr Gesicht entspannte sich und ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. "Guten Morgen.", begrüßte sie die Neuankömmlinge freundlich, während sie sich auf den Stuhl neben Carson setzte. Später musste sie ihn auf die Veränderung ansprechen, aber jetzt wollte sie ihn vor seiner Familie nicht in Verlegenheit bringen.
    • "Guten Morgen", grüßte Carson zurück.
      Allerdings sah er nicht von der Mail auf, die er gerade schrieb, um seinen Gedankengang nicht zu verlieren. Er schickte den Text ab und klappte seinen Laptop zu. Bevor er aufstand, um ihn beiseite zu legen, drückte er Julia einen Kuss auf die Wange und bevor er sich wieder setzte, wuschelte er der kleinen Charlette durch die blonde Mähne. Die Eltern der kleinen musterten Carson besorgt, als er nicht hinsah, sagten aber nichts.
      Chloe allerdings merkte an, dass das Blond unerwartet kam, da er das seit zwei Jahren nicht mehr gemacht habe und sie eigentlich auch nur im Januar damit rechnete, nicht Ende April. Carson zuckte daraufhin bloß die Schultern und meinte, er hätte mal was anderes mit seinen Haaren machen wollen und vielleicht wolle er sich einen Bart stehen lassen. Chloe verzog nur das Gesicht bei dem Gedanken daran.
      "Du weißt, dass du nicht gleich eine Midlifecrisis bekommen musst, nur weil du jetzt dreißig bist", sagte sie und setzte sich gegenüber von Julia an den Tisch.
      Claire und Charles kamen nur wenig später ebenfalls dazu, schwiegen sich aber auch zu Carsons Haare aus. Claire und Carson tauschten kurze Blicke, die scheinbar sehr viel mehr aussagten, wenn man wusste, worum es ging. Während des Frühstücks herrschte aber Frieden und es wurde über belangloses geredet.
      "Was glaubst du, wie lange de Geschworenen für ein Urteil brauchen, Bruderherz", fragte Chloe dann irgendwann.
      Chase zuckte mit den Schultern: "Bei dieser Beweislage und dank Julias Aussage... Ende der Woche vielleicht."
      "Na endlich!", seufzte Chloe.
      Keiner der Familie wollte diese beiden Typen noch länger auf freiem Fuß wissen.
      "Habt ihr euch schon entschieden, ob ihr im Penthouse bleiben wollt?", fragte Chloe dann an Carson und Julia gerichtet.
      Carson, der einen Arm entspannt über Julias Stuhllehne gelegt hatte, zuckte mit den Schultern und schob sich noch eine Traube in den Mund.
      "Weiß nicht. Ist irgendwie seltsam dort. Aber wir haben nicht nochmal drüber geredet, ob wie bleiben wollen oder nicht."
      Erwartungsvoll schielte er zu Julia.
    • Julia saß schweigend am Frühstückstisch und folgte still der Unterhaltung, während sie ihren Obstsalat aß. Allerdings schmeckte sie die Früchte kaum. Noch immer versuchte sie eine Erklärung für Carsons plötzlichen Wandel zu finden. Von Tag zu Tag schien er ihr ein wenig fremder zu werden und Julia machte dies unglaublich Angst. Und dass alle am Tisch sich überhaupt nicht schockiert über Carons blonde Haare zeigten, machte die Sache nicht besser. Julia fühlte sich seltsam einsam, obwohl sie mitten zwischen den Menschen saß, die sie eigentlich sehr mochte.

      Die junge Frau hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie auch während des restlichen Frühstück unbeachtet blieb, damit sie ihre Gedenken etwas sortieren konnte. Aber sie hatte kein Glück.
      "Nun... ich weiß nicht.", begann sie vorsichtig, nachdem die Unterhaltung auf das Penthaus zu sprechen gekommen war und Carsons erwartungsvoller Blick auf ihr ruhte. All ihre guten Vorsätze schienen auf einmal verflogen zu sein. Die selbstbewusste Julia hatte sich tief in ihrem Inneren versteckt und wieder der unsicheren Frau Platz gemacht, die ihre Entscheidungen lieber in die Hände anderer legte. "Ich mag den Gedanken nicht, dass Carson wegen mir sein Appartement aufgibt und unnötig Geld für etwas neues ausgibt. Auch wenn das vermutlich albern klingt." Sie hob ein wenig hilflos die Schultern. "Aber wir haben wirklich noch nicht darüber gesprochen.
      Einen Moment lang schwieg sie und hoffte darauf, dass die anderen ihre Unterhaltung wieder aufnehmen und sie vergessen würden. Als das jedoch nicht geschah, schlug sie die Augen nieder. Sie mochte es nicht, dass alle am Tisch sie anzusehen schienen. "Zuerst einmal muss ich mich daran gewöhnen, dass mein Freund jetzt blond ist."
    • Chloe lachte.
      "Ach, daran gewöhnt man sich schnell. Vor allem, wenn man die Pappnase da jeden Tag sieht", erklärte sie, "Und es sieht richtig cool aus, wenn er wieder Ansatz hat."
      Carson ignorierte diese Kommentare. Er wollte momentan nichts von seinen dunklen Haaren wissen.
      "Wenn du dich unwohl fühlst, weil ich Geld ausgebe, können wir auch in ein Apartment ziehen, das ich schon habe", bot er an, "Ich hab da eins im alten Stadtzentrum. Es ist kein Apartment, um genau zu sein. Es ist eins von diesen alten, klassischen Häusern, die auf den Hügeln stehen. Wir müssten den Garten ein bisschen auf Fordermann bringen, aber das ist das geringste Problem."
      Charles klinkte sich in die Unterhaltung mit ein und ließ einen Vortrag darüber vom Zaun, wie diese Häuser ursprünglich gebaut worden waren und warum sie zu einem Wahrzeichen von San Francisco geworden waren, gemeinsam mit der schrägen Straßenbahn, die die Hügel den lieben langen Tag rauf und runter ratterte.
      "Und die Aussicht ist wundervoll. Ich muss es ja wissen, ich habe es Carson schließlich verkauft. Diese Häuser werden nicht oft frei. Sie werden bis zum Schluss bewohnt und dann vererbt. Es ist schwierig an eines der originalen heranzukommen."
      Clair schlug ihrem Bruder gegen den Oberarm.
      "Keine Geschäfte beim Essen", ermahnte sie ihn und Charles hielt die Klappe.
      "Wir könnten uns auch was Kleineres suchen, wenn du willst", schlug Carson dann vor, "Du hast doch immer gesagt, es sei dir zu viel. Wir könnten downsizen und leben wie im Mittelstand."
      Gespielt schockiert schlug Chloe die Hand vor den Mund. Angelika verschluckte sich daraufhin an ihrem Tee vor Lachen.
    • "Ich weiß nicht, ob das etwas ist, was man einfach so entscheiden sollte.", sagte Julia vorsichtig. Inzwischen tat es ihr leid, dass sie anscheinend die einzige war, die mit der Situation überfordert war. Vermutlich war sie einfach zu steif.
      Einen Moment lang überlegte sie, ob sie zugeben sollte, dass sie Carson zu Liebe überall wohnen würde, aber das war im Moment sicher nicht das, was er hören wollte.
      Sie verschaffte sich etwas Zeit, indem sie einen Schluck von ihrem Kaffee trank. "Es tut mir leid, dass ich nicht so spontan bin wie du.", sagte sie dann zu Carson und hoffte, dass er verstand, dass sie nicht nur von dem Umzug sprach. "Aber das weißt du ja schon."

      Der Rest des Frühstücks verlief für Julia wieder ruhiger, da Charlette die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog, als sie bemerkte, dass die Marmelade auf dem Brot ihres Vaters viel besser aussah als ihr eigenes Frühstück. Chloe amüsierte sich köstlich über Chases Versuche das Brot von seiner Tochter zu retten und schneller zu essen, als diese es in ihre kleinen Hände bekam. Auch Julia musste lächeln, als sie das unzufriedene Gesicht des kleinen Mädchens sah, als sie letztendlich diesen kleinen Kampf verlor.

      Nach dem Frühstück griff Julia nach Carsons Hand, noch bevor dieser aufstehen und wieder zu seinem Laptop zurück gehen konnte. "Gehst du ein wenig mit mir spazieren?", fragte sie ihn und war im ersten Moment überrascht, als ihr Freund sofort zustimmte. Aber schon kurz darauf kam sie sich sehr dumm vor. Wieso sollte Carson auch nicht mir ihr zusammen sein wollen? Sie machte sich eindeutig zu viele Sorgen.
      Einige Minuten gingen sie schweigend durch den gut gepflegten Garten des Grundstücks. Noch immer hielt Julia Carsons Hand. "Wieso hast du dir die Haare gefärbt?", fragte sie schließlich und musterte noch einmal den veränderten Mann neben sich. "Carson, du kannst mit mir reden, wenn etwas ist oder dich etwas stört. Ich bin kein kleines Mädchen, dass du vor allem beschützen musst und dass zu dumm ist, um deine Sorgen zu verstehen. Ich bin deine Freundin und ich möchte dir helfen. Aber ich weiß einfach nicht wie." Sie festigte ihren Halt um seine Hand ein wenig. "Bitte, sag mir, was ich tun kann."
    • Carson stimmte natürlich sofort zu, als Julia erst noch eine Runde mit ihm gehen wollte, bevor er sich wieder an die Arbeit machte. Also kippte er den letzten Rest seines Kaffees runter und folgte dann seiner Liebsten nach draußen.
      "Wer hat denn gesagt, dass du dumm bist?", fragte er etwas entsetzt, als Julia so mit der Tür ins Haus fiel.
      Das Ganze kam ziemlich überraschend und er musste seine Gedanken erst einmal ordnen, bevor er überhaupt anfangen konnte, über eine Antwort nachzudenken. Schließlich entschied er, dass die Wahrheit die einzig mögliche Antwort war. Mit einem Seufzen richtete er seinen Blick in Richtung Horizont, wo man die berühmte Golden Gate Bridge sehen konnte.
      "Ich denke, es ist keine Überraschung, wenn ich dir sage, dass ich nicht besonders gut schlafe. Letzte Nacht... meine Mutter hat etwas zu mir gesagt, was mich irgendwie... keine Ahnung. Es hat mich ein bisschen aus der Bahn gebracht. Ich hab tatsächlich sechs Stunden geschlafen, heute Nacht. Allerdings... ich hab dir ja erzählt, was mit meiner Mutter passiert ist. Und mit meinem Vater. Und mein Hirn hat sich dazu entschieden, dass es wohl an der Zeit ist, die alten Erinnerungen wieder auszugraben."
      Er zuckte mit den Schultern und fuhr sich durch die blonden Haare.
      "Normalerweise passiert mir das um meinen Geburtstag herum. Die letzten zwei Jahre habe ich mich selbst einfach mit Arbeit zugekippt, das war Ablenkung genug. Dieses Jahr warst du da... und dann warst du nicht da. Ich hatte keine Zeit, in meinem Kindheitstrauma zu schwelgen. Das kam gestern dann wohl alles auf einmal. Nach unbequemen sechs Stunden bin ich ins Bad und... ich konnte mich einfach nicht im Spiegel sehen. Ich habe meinen Vater gesehen. Ich habe in meinem Leben alles getan, um nicht so zu werden wie er und... Ich sehe aus wie er, weißt du? Die Kieferknochen sind von meiner Mom. Der Rest ist von ihm. Und manchmal da... da will ich einfach nur ein Teil dieser Familie sein."
      Er deutete über die Schulter zurück zum Haus.
      "Ich hab dir ja erzählt, dass ich mir als Kind beinahe die Augen rausgeätzt hätte, weil ich mit Bleiche rumgespielt habe. Das war etwa eine Woche nachdem... du weißt schon. Am Tag davor habe ich den Spiegel zerschlagen, weil ich nur meinen Vater gesehen habe. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet scharf darauf bin, mir die Haare zu blondieren. Ich weiß, dass ich Teil meiner Familie bin und dass keiner von ihnen mir vorwirft, woher ich die Hälfte meiner Gene habe. Aber irgendwie... keine Ahnung."
      Wieder zuckte er mit den Schultern. Er war kein Psychologe, aber er wusste, dass das nicht unbedingt gesund war, was er da tat. Allerdings dachte er sich auch immer wieder: Was war schon dabei, wenn er sich hin und wieder die Haare färbte? Er färbte nie nach. Er ließ es bis zu einem bestimmten Punkt rauswachsen, dann ließ er einen Hairstylisten in seiner Naturfarbe drüberfärben, damit er nicht aussah wie ein Schuh.
      "Schätze, die letzten drei Monate haben auch an mir gefressen", beendete er seine Erklärung, "Aber bald ist alles wieder so, wie es war und wir können diesen ganzen Mist hinter uns lassen."
      Er hob Julias Hand an seine Lippen und küsste lächelnd ihre Knöchel."
      "Wir können auch gern umziehen, das ist wirklich kein Problem. Ich weiß, ich weiß, ich soll dich nicht verhätscheln. Aber ich meine das ernst. Wenn du dich in deinem Zuhause nicht mehr wohlfühlen kannst, wenn du Angst hast... das will ich nicht für dich. Ich fühle mich ja auch seltsam im Penthouse. Ich hätte nichts gegen einen Tapetenwechsel. Und die Aussicht ist wirklich gut. Perfektes Postkarten-Motiv."
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